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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:1. Abteilung
Rechtsgebiet:Zivilprozessrecht
Entscheiddatum:24.03.2016
Fallnummer:1B 15 59
LGVE:2016 I Nr. 8
Gesetzesartikel:Art. 59 ZPO, Art. 60 ZPO, Art. 212 ZPO; § 43 Abs. 2 JusG.
Leitsatz:Im Fall der reinen Schlichtung hat die Schlichtungsbehörde nur diejenigen Prozessvoraussetzungen zu prüfen, die für die Gültigkeit der Klagebewilligung von Bedeutung sind (E. 6.3.2.1). Betreffend Prozessvoraussetzungen, die sich aus der Klage ergeben, darf sie im reinen Schlichtungsverfahren auf keinen Fall einen Nichteintretensentscheid fällen (E. 6.3.2.2).
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:

A und B, Mieter einer Wohnung in Z, reichten am 25. Juni 2015 bezüglich einer Mietvertragsänderung vom 23. März 2015 bei der Schlichtungsbehörde Miete und Pacht des Kantons Luzern ein Schlichtungsgesuch ein. Die Schlichtungsbehörde führte am 21. August 2015 eine Schlichtungsverhandlung durch, an der keine Einigung erzielt wurde. Anschliessend trat sie mit Entscheid vom 6. Oktober 2015 auf das Gesuch mit der Begründung nicht ein, das Gesuch sei nach Ablauf der 30-tägigen Anfechtungsfrist und damit verspätet erfolgt.

Aus den Erwägungen:

6.3.1
In vermögensrechtlichen Streitigkeiten bis zu einem Streitwert von Fr. 2'000.--, in denen die Schlichtungsbehörde gestützt auf Art. 212 der Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO; SR 272) einen Entscheid fällt und somit als erstinstanzliches Gericht fungiert, ist die Prüfungspflicht umfassend, weil der Erlass eines Entscheids nach Art. 212 ZPO nur dann zulässig ist, wenn die einschlägigen Prozessvoraussetzungen vorliegen. Da es diesfalls in der Kompetenz der Schlichtungsbehörde liegt, einen Sachentscheid zu fällen, muss sie beim Fehlen von Prozessvoraussetzungen auch einen Nichteintretensentscheid fällen können (Weingart/Penon, Ungeklärte Fragen im Schlichtungsverfahren, in: ZBJV 2015 S. 468 und 478; Schrank, Das Schlichtungsverfahren nach der Schweizerischen Zivilprozessordnung, Basel 2015, S. 126 Rz 219, jeweils mit Hinweisen).

Die Prüfung der Prozessvoraussetzungen durch die Schlichtungsbehörde erfolgt zunächst allein anhand des ihr zur Verfügung stehenden Materials, d.h. des Schlichtungsgesuchs, allfällig eingereichter Urkunden und allenfalls der Parteivorbringen an der Schlichtungsverhandlung. Ergeben sich dabei Zweifel am Vorliegen einer Prozessvoraussetzung, so trifft die Schlichtungsbehörde nur, aber immerhin, die Pflicht, die Parteien zur Ergänzung unvollständiger Parteivorbringen oder zur Beibringung sachdienlicher Unterlagen aufzufordern (vgl. Weingart/Penon, a.a.O., S. 477, mit Hinweisen auf Lehre und Rechtsprechung zu Art. 60 ZPO). Zieht der Gesuchsteller sein Schlichtungsgesuch zurück, wird das Verfahren als gegenstandslos abgeschrieben (analog Säumnis [vgl. Art. 206 Abs. 1 ZPO]; nicht zu verwechseln mit dem Rückzug der Klage [vgl. Art. 208 ZPO]); hält er daran fest, kann bei Nichtvorliegen von Prozessvoraussetzungen ein Nichteintretensentscheid erfolgen.

Sind die Prozessvoraussetzungen klar nicht gegeben, liegt im Kanton Luzern bei paritätischen Schlichtungsbehörden wie jener für Miete und Pacht sowie jener für Arbeit die funktionelle Zuständigkeit für den Nichteintretensentscheid bei ihrem Präsidenten, andernfalls ist darüber in Dreierbesetzung zu entscheiden (§ 43 Abs. 2 des Gesetzes über die Organisation der Gerichte und Behörden in Zivil-, Straf- und verwaltungsgerichtlichen Verfahren [JusG; SRL Nr. 260]).

6.3.2
6.3.2.1
Im Fall der reinen Schlichtung trifft die Schlichtungsbehörde keinen Sachentscheid, sondern stellt die Klagebewilligung aus, sofern sich die Parteien an der Schlichtungsverhandlung nicht einigen können. Zu prüfen hat die Schlichtungsbehörde hier deshalb nur diejenigen Prozessvoraussetzungen, die für die Gültigkeit der Klagebewilligung von Bedeutung sind. Das sind zum einen diejenigen Prozessvoraussetzungen, die sich auf das eigene Tätigwerden der Schlichtungsbehörde beziehen, d.h. das Vorliegen örtlicher und sachlicher Zuständigkeit (vgl. dazu BGE 139 III 273 E. 2.1 f.) sowie das Fehlen einer anderweitigen Rechtshängigkeit oder einer abgeurteilten Sache, und zum anderen diejenigen Prozessvoraussetzungen, die Voraussetzung einer gültigen Schlichtungsverhandlung sind, d.h. die Partei- und Prozessfähigkeit der Parteien (vgl. Weingart/Penon, a.a.O., S. 478, mit Hinweisen; vgl. auch die Hinweise bei Schrank, a.a.O., S. 120 Rz 210 und Fn 773; für eine generelle Unzulässigkeit von Nichteintretensentscheiden demgegenüber Schrank, a.a.O., S. 121 Rz 211 sowie die in Fn 777 zitierte Lehre und Rechtsprechung).

Die Prüfung der erwähnten Prozessvoraussetzungen durch die Schlichtungsbehörde erfolgt auch hier zunächst allein anhand des ihr zur Verfügung stehenden Materials, d.h. des Schlichtungsgesuchs, allfällig eingereichter Urkunden und allenfalls der Parteivorbringen an der Schlichtungsverhandlung. Ergeben sich dabei Zweifel am Vorliegen einer der erwähnten Prozessvoraussetzungen, so trifft die Schlichtungsbehörde auch hier einzig die Pflicht, die Parteien zur Ergänzung unvollständiger Parteivorbringen oder zur Beibringung sachdienlicher Unterlagen aufzufordern. Ist eine der genannten Prozessvoraussetzungen klar nicht gegeben, darf die Schlichtungsbehörde – bzw. bei paritätischen Schlichtungsbehörden deren Präsident (§ 43 Abs. 2 JusG) – hier einen Nichteintretensentscheid fällen. Können die Zweifel hingegen nicht restlos geklärt werden und hält der Gesuchsteller am Schlichtungsgesuch fest, darf die Schlichtungsbehörde hier keinen Nichteintretensentscheid erlassen – bei paritätischen Schlichtungsbehörden weder der Präsident noch in Dreierbesetzung –, sondern hat das Schlichtungsverfahren durchzuführen und gegebenenfalls die Klagebewilligung auszustellen (vgl. Weingart/Penon, a.a.O., S. 477, mit Hinweisen).

6.3.2.2
Ist die Schlichtungsbehörde der Auffassung, dass eine andere Prozessvoraussetzung fehlt als die eben genannten, darf sie demgegenüber im reinen Schlichtungsverfahren auf keinen Fall einen Nichteintretensentscheid fällen – bei paritätischen Schlichtungsbehörden weder durch den Präsidenten noch in Dreierbesetzung. Dies betrifft Prozessvoraussetzungen, die sich aus der Klage selbst ergeben – beispielsweise Fragen nach dem Rechtsschutzinteresse, dem Einhalten von Klagefristen oder der Aktiv- und Passivlegitimation – und umfasst selbstredend auch entsprechende Vorfragen (wie im Bereich des Mietrechts etwa jene nach der Nichtigkeit einer Kündigung oder nach form- und fristgerechten Zustellungen).

Vielmehr hat die Schlichtungsbehörde die Parteien, namentlich den Gesuchsteller, auf ihre Vorbehalte aufmerksam zu machen. Beharrt der Gesuchsteller auf der Durchführung des Schlichtungsverfahrens, hat die Schlichtungsbehörde dem nachzukommen. Verläuft der Schlichtungsversuch erfolglos, hat sie die Klagebewilligung auszustellen und den Entscheid über das Vorliegen der entsprechenden Prozessvoraussetzungen dem Gericht zu überlassen (vgl. Schrank, a.a.O., S. 121 ff. Rz 211 ff., mit Hinweisen).

6.3.3
Nichts anders ergibt sich aus § 43 Abs. 2 JusG, wonach im Kanton Luzern, wie erwähnt, bei paritätischen Schlichtungsbehörden deren Präsident "für Nichteintretensentscheide in klaren Fällen" und für Abschreibungsentscheide zuständig ist. Diese Bestimmung regelt lediglich die funktionelle Zuständigkeit für "klare Fälle" innerhalb der Entscheidkompetenz der Schlichtungsbehörde (oben E. 6.3.1) und bei jenen Prozessvoraussetzungen, bei deren Nichtvorliegen ein Nichteintretensentscheid nach Massgabe der ZPO zulässig ist (oben E. 6.3.2.1). Sie bildet keine Grundlage für eine Ausdehnung der Zulässigkeit von Nichteintretensentscheiden in Bezug auf weitere Prozessvoraussetzungen (vgl. oben E. 6.3.2.2). Sie bietet sodann – offenbar entgegen der Auffassung der Schlichtungsbehörde Miete und Pacht – auch keine Möglichkeit, ausserhalb des erwähnten Anwendungsbereichs (oben E. 6.3.1 und 6.3.2.1) Fälle mittels Nichteintretensentscheid in Dreierbesetzung zu beenden; Nichteintretensentscheide durch die Schlichtungsbehörde sind in Fällen betreffend Prozessvoraussetzungen, die sich aus der Klage ergeben (oben E. 6.3.2.2), generell und unabhängig von der Besetzung unzulässig.

6.3.4
Der Unzulässigkeit von Nichteintretensentscheiden in den erwähnten Fällen steht auch der Sinn und Zweck des Schlichtungsobligatoriums, das die Justiz entlasten und eine raschere und kostengünstigere Bereinigung von Konflikten durch aussergerichtliche Verfahren herbeiführen soll, nicht entgegen. Solche Nichteintretensentscheide entlasten die Justiz nicht, verschliessen sie doch lediglich den Weg an das erstinstanzliche Gericht, während sie gleichzeitig denjenigen an die Rechtsmittelinstanz eröffnen (vgl. Schrank, a.a.O., S. 124 Rz 214).