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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:2. Abteilung
Rechtsgebiet:Zivilrecht
Entscheiddatum:29.07.2016
Fallnummer:3B 16 29
LGVE:2016 II Nr. 9
Gesetzesartikel:Art. 111 ZGB.
Leitsatz:Frage des Rechtsmissbrauchs eines gemeinsamen Scheidungsbegehrens, das lediglich dem Bezug von je einer AHV-Einzelrente dient.
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:

Die seit 57 Jahren verheirateten Parteien stellten ein gemeinsames Scheidungsbegehren mit der Begründung, sie möchten je eine AHV-Einzelrente beziehen. Der Einzelrichter am Bezirksgericht wies dieses Begehren ab, da die Parteien keinen ernsthaften Scheidungswillen hätten. Der Wille richte sich nicht auf die Auflösung der Lebensgemeinschaft im rechtlichen und tatsächlichen Sinn. Beide Parteien erhoben gegen diesen Entscheid Berufung.

Aus den Erwägungen:

2.1.
Verlangen die Ehegatten die Scheidung und reichen sie eine vollständige Vereinbarung über die Scheidungsfolgen mit den nötigen Belegen ein, hört sie das Gericht getrennt und zusammen an. Hat es sich davon überzeugt, dass das Scheidungsbegehren und die Vereinbarung aus freiem Willen und reiflicher Überlegungen beruht, so spricht das Gericht die Scheidung aus (Art. 111 ZGB).

Erste Voraussetzung für die Anwendung von Art. 111 ZGB ist die Einreichung eines gemeinsamen Begehrens, in welchem die Ehegatten beantragen, dass ihre Ehe zu scheiden sei. Das Gesetz enthält keine Vorschriften hinsichtlich der Form des Begehrens (Sutter/Freiburghaus, Komm. zum neuen Scheidungsrecht, Zürich 1999, Art. 111 ZGB N 9). Bei Vorliegen des gemeinsamen Begehrens, einer vollständigen Vereinbarung über die Scheidungsfolgen sowie nach erfolgter Anhörung und Bestätigung des Scheidungswillens ist der Scheidungswille unwiderlegbar angenommen (Sutter/Freiburghaus, a.a.O., Art. 111 ZGB N 1). Wie die Vorinstanz zutreffend darauf hinweist, muss bei den Ehegatten kein Wille zur Aufgabe der tatsächlichen Lebensgemeinschaft bestehen. Die Anforderungen an den Inhalt eines gemeinsamen Scheidungsbegehrens sind gering. Es ist lediglich zum Ausdruck zu bringen, dass die Ehegatten gemeinsam die Scheidung verlangen, von deren ernsthaften Willen sich das Scheidungsgericht zu überzeugen hat. Eine Begründung ist nicht erforderlich, da seit der Revision des Scheidungsrechts der im besonderen Verfahren zustande gekommene Scheidungswille den (formalisierten) Scheidungsgrund bildet. Es wird deshalb beim Scheidungsgrund des gemeinsamen Begehrens von einer weitgehenden Privatisierung der Scheidung gesprochen (Fankhauser, FamKomm. Scheidung, 2. Aufl. 2011, Art. 111 ZGB N 2). Im Unterschied zur Scheidungsordnung des früheren Rechts erübrigt sich die Feststellung der Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses und namentlich die Abklärung der Verschuldensfrage (Gloor, Basler Komm., 5. Aufl. 2014, Art. 111 ZGB N 1). Mit der Formalisierung der Scheidungsgründe lässt sich nicht vermeiden, dass Ehen aufgelöst werden, welche nicht zerrüttet und demnach gescheitert sind.

2.2.
Die Parteien haben vor Bezirksgericht ein gemeinsames Scheidungsbegehren eingereicht und es ist die Anhörung erfolgt. An der Freiwilligkeit und Ernsthaftigkeit des Scheidungsbegehrens, soweit es die Auflösung der Ehe als Rechtsinstitut zum Ziel hat, ist angesichts der dem Kantonsgericht vorliegenden Aktenlage nicht zu zweifeln. Unbestritten ist zusätzlich, dass die Parteien die Scheidung nicht aus Gründen, die in ihrer Eheverbindung liegen, sondern einzig aus sozialversicherungsrechtlichen Motiven beantragen.

Damit stellt sich die Frage nach einem möglichen rechtsmissbräuchlichen Verhalten der Parteien (Art. 2 Abs. 2 ZGB). Nach einer singulären Lehrmeinung hat das Gericht ein gemeinsames Scheidungsbegehren, das nicht im persönlichen Verhältnis der Ehegatten liegt, wegen Rechtsmissbrauchs abzuweisen (Rhiner, Die Scheidungsvoraussetzungen nach revidiertem schweizerischem Recht [Art. 111-116 ZGB], Zürich 2001, S. 140). Weitere Literatur und auch die Judikatur äussern sich zu dieser Frage, soweit ersichtlich, nicht.

Das Institut des Rechtsmissbrauchs gemäss Art. 2 Abs. 2 ZGB findet unmittelbare Anwendung auf das gesamte Bundesprivatrecht und es kann sich bei der Ausübung eines jeden (privaten und anderen) Rechts die Frage des Rechtsmissbrauchs stellen (Hürlimann-Kaup/Schmid, Einleitungsartikel des ZGB und Personenrecht, 2. Aufl. 2010, N 270). Von Rechtsmissbrauch wird z.B. gesprochen, wenn mit der Ausübung des Rechts der Rechtsidee oder dem Gedanken der Gerechtigkeit in stossender Weise zuwider gehandelt würde, wobei der Missbrauch freilich "offenbar" ("l'abus manifeste"; "il manifesto abuso") sein und somit ins Auge springen muss. Dies ist im Einzelfall zu entscheiden, wobei im bejahenden Fall als Rechtsfolge die Verweigerung des scheinbaren Rechts steht (Hürlimann-Kaup/Schmid, a.a.O., N 287 ff.). Geht ein offenbar missbräuchliches Verhalten aus den Parteidarstellungen hervor, so hat das Gericht – dem Grundsatz "iura novit curia" folgend – von Amtes wegen Art. 2 Abs. 2 ZGB anzuwenden und dem missbräuchlich geltend gemachten Anspruch die Durchsetzung zu verweigern. Einer besonderen Einrede oder Einwendung einer Partei bedarf es nicht (Hürlimann-Kaup/Schmid, a.a.O., N 314).

Im Zusammenhang mit der zweckwidrigen Rechtsausübung wird auch von einer zweckwidrigen Verwendung eines Rechtsinstituts gesprochen, indem dieses zum Nachteil anderer Personen zu Zwecken verwendet (missbraucht) wird, welche dessen Grundidee und den damit vernünftigerweise verfolgten Zwecken offensichtlich widersprechen oder damit offenkundig nichts mehr gemein haben (Hausheer/Aebi-Müller, Berner Komm., Bern 2012, Art. 2 ZGB N 255; vgl. z.B. BGE 138 III 425 E. 5 [zum Datenschutzrecht] oder 138 III 497 E. 4.1 [zum Erbrecht]). Auf die Ehe bezogen wird dieses Institut der Lehre zufolge zweckwidrig und damit rechtsmissbräuchlich verwendet, wenn die Parteien die Ehe zur Verwirklichung von Interessen (zum Beispiel einer Einbürgerung) verwenden, die dieses Institut nicht schützen will (Hürlimann-Kaup/Schmid, a.a.O., N 296a).

2.3.
Vorliegend gaben die Parteien bereits vor Bezirksgericht zu verstehen, dass ihre Ehe nicht zerrüttet ist und sie nach erfolgter Scheidung ihrer Ehe als Konkubinatspaar im bisherigen gemeinschaftlichen Sinn weiterleben wollen. Daran halten sie auch vor Kantonsgericht fest. Es fragt sich, ob nach dem unter E. 2.2 Gesagten von einem rechtsmissbräuchlichen und damit nicht schützenswerten gemeinsamen Scheidungsbegehren auszugehen ist.

Die Parteien haben ein formgültiges gemeinsames Scheidungsbegehren eingereicht; die notwendigen Anhörungen haben stattgefunden. Eine Begründung brauchten sie nach dem Gesagten für ihren Scheidungswunsch nicht abzugeben, geschweige denn eine Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses darzulegen. Es ist bereits dargelegt worden, dass sich das Gericht in Nachachtung des formellen Zerrüttungsprinzips nur vom Vorliegen eines ernsthaften Scheidungswillens zu überzeugen hat; nicht notwendig ist der geäusserte Wille, ob sie auch ihre faktische Gemeinschaft aufgegeben haben oder zumindest beenden wollen. In der Regel wird dies vor Gericht anlässlich der Anhörung nicht thematisiert oder die Ehegatten verschweigen dies bewusst, was ihr Recht ist. Zu prüfen bleibt demnach einzig, ob die (ehrlich) geäusserte Absicht der Parteien, die Scheidung einzig aus AHV-rechtlichen Gründen zu wollen – mithin zur Erlangung zweier Einzelrenten statt der im Ergebnis möglicherweise tieferen Ehepaaraltersrente (vgl. Art. 35 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung [AHVG; SR 831.10]) – rechtsmissbräuchlich ist.

Es ist erwähnt worden, dass das Institut der Ehe rechtsmissbräuchlich benützt werden kann, um mittels Heirat ausländerrechtliche Bestimmungen zu umgehen. In einem solchen Fall besteht die gesetzliche Möglichkeit für den Kanton Luzern, vertreten durch das Justiz- und Sicherheitsdepartement, die Nichtigkeit dieser Ehe vor dem Zivilgericht klageweise zu beantragen (Art. 105 Ziff. 4 und 106 ZGB; § 5 Abs. 1 lit. c des Einführungsgesetzes zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch [EGZGB; SRL Nr. 200]). Merkmal dieser Regelung ist die Verhinderung von rechtsmissbräuchlichen Eheschliessungen. Mit Blick auf eine rechtsmissbräuchliche Scheidung sieht die Gesetzgebung, insbesondere das AHVG, keine Bestimmung vor, die den Rechtsmissbrauch bekämpfen könnte. Gesetzliche Grundlage wäre demnach allein Art. 2 Abs. 2 ZGB, welche Norm indes sehr zurückhaltend anzuwenden ist; bereits in der bundesrätlichen Botschaft zum ZGB von 1907 war bloss von einem "Notausgang" die Rede (BBl 1904 IV S. 14). Nach dem oben Gesagten braucht es deshalb ein krasses Missverhältnis der Interessen oder – bezüglich der beiden beabsichtigten Einzelrenten – einen unredlichen Rechtserwerb (Hürlimann-Kaup/Schmid, a.a.O., N 298 f.).

Anzumerken ist, dass die Ausgleichskassen an die Urteile der Zivilgerichte gebunden sind und diese mangels Aktivlegitimation nicht anfechten können. Selbst unter der Herrschaft des alten Scheidungsrechts mit dem ihm eigenen Zerrüttungsprinzip, bei welchem sich schon damals die gleiche AHV-rechtliche Problematik stellte, war eine rechtskräftige Scheidung hinzunehmen; eine Nichtigkeit wegen Rechtsmissbrauchs stand nicht in Frage (Keller, Die zweckwidrige Verwendung von Rechtsinstituten des Familienrechts, Zürich 1986, S. 114 und 117). Unter dem neuen Recht mit den formalisierten Scheidungsgründen drängt sich die gleiche Betrachtungsweise umso mehr auf.

2.4.
Eine abschliessende Würdigung ergibt, dass die Parteien die Scheidung bewusst und nach reiflicher Überlegung beantragen, obwohl das Verbleiben in einem nachfolgenden Konkubinat nicht in Frage gestellt ist. Bei dieser Ausgangslage durfte ihnen der Erstrichter nicht unterstellen, es bestehe kein ernsthafter Scheidungswille. Dieser Wille ist nämlich insofern klar, als er die Auflösung des mit der Heirat begründeten ehelichen Verhältnisses als Rechtsinstitut zum Ziel hat. Diesen Willen haben die Parteien mit dem Hinweis auf die von ihnen als Ehepaar empfundene sozialversicherungsrechtliche Ungleichbehandlung gegenüber einem Konkubinatspaar nachvollziehbar begründet. Zur Frage der Ungleichbehandlung von Ehe und Konkubinat findet in der Schweiz schon seit längerem eine angeregte und kontroverse Diskussion statt, wobei diejenige der sog. "Heiratsstrafe" bezüglich steuerlicher Ungleichheiten vor kurzem zu einer Volksabstimmung geführt hat. Aber auch die Ungleichbehandlung von Ehe und Konkubinat bei der Sozialversicherung steht auf der politischen Traktandenliste und ist vom Bundesgericht eingestanden (BGE 140 I 77 Regeste).

Im Zusammenhang mit dem Verbot des Rechtsmissbrauchs wurde die Frage nach der zweckwidrigen Verwendung der Ehe als Rechtsinstitut angesprochen, was mit Blick auf eine beabsichtigte Heirat zur Umgehung ausländerrechtlicher Vorschriften bejaht wurde. Bei einer beabsichtigten Scheidung liegt die Sachlage anders. Die Rechtsordnung kennt keine Bestimmungen vergleichbar mit Art. 105 Ziff. 4 ZGB, um möglichen missbräuchlichen Scheidungen Einhalt zu gebieten. Das gesellschaftliche Umfeld, das Stichworte wie "Individualbesteuerung" oder "zivilstandsunabhängige Renten" diskutiert, gibt nicht Anlass zur ohnehin restriktiv zu handhabenden Anwendung des Instituts des Rechtsmissbrauchs. Denn es kann nicht gesagt werden, dass der Scheidungswille der Parteien vorliegend vernünftigerweise verfolgten Zwecken offensichtlich widerspreche oder mit der Grundidee und dem Zweck der Scheidung offenkundig nichts mehr gemein habe. Ebenso wenig kann von einem unredlichen Rechtserwerb gesprochen werden, zumal zwei Konkubinatspartner im AHV-Alter legal in den Genuss zweier Einzelrenten gelangen und die Verfassung eine bestimmte Art des Zusammenlebens seinen Bürgern nicht vorschreiben darf (sog. negative Ehefreiheit: Uebersax, Basler Komm., Basel 2015, Art. 14 BV N 12). Die (materielle) Grundidee der Ehe ist in Art. 159 Abs. 2 ZGB wiedergegeben, wonach sich die Ehegatten verpflichten, das Wohl der Gemeinschaft in einträchtigem Zusammenwirken zu wahren. Wenn sich die Parteien dieser Grundidee weiter verpflichtet fühlen, diese aber nicht mehr in einem formalen Rechtsverhältnis leben wollen, kann dies nicht rechtsmissbräuchlich sein. Sollten Scheidungen resp. deren Folgen aus Gründen, wie sie die Parteien beantragen, aus gesellschaftspolitischen Gründen verhindert werden wollen, riefe dies nach dem Einschreiten des (AVH-)Gesetzgebers (z.B. rentenmässige Gleichstellung langjähriger Konkubinate mit der Ehe).

2.5.
Zusammenfassend erweisen sich die Berufungen der Parteien als begründet. Ihrem nach reiflicher Überlegung getroffenen und ernsthaften gemeinsamen Willen auf Auflösung ihrer Ehe als Rechtsinstitut ist gestützt auf Art. 111 ZGB zu entsprechen. Es kann von ihnen nicht verlangt werden, dem Gericht – wie in vielen anderen gleich gelagerten Fällen – unwahre Tatsachen zu unterbreiten (z.B. getrübtes eheliches Verhältnis, bevorstehende Aufhebung des gemeinsamen Haushalts), um die Scheidung auf diese Weise problemlos erreichen zu können. Die Sache ist an das Bezirksgericht zurückzuweisen, damit es die weiteren förmlichen Voraussetzungen (so die vollumfängliche Einigung) von Art. 111 ZGB prüfe.