Instanz: | Kantonsgericht |
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Abteilung: | 1. Abteilung |
Rechtsgebiet: | Opferhilfe |
Entscheiddatum: | 19.02.2016 |
Fallnummer: | 1H 16 1 |
LGVE: | 2016 I Nr. 22 |
Gesetzesartikel: | Art. 4 OHG, Art. 13 Abs. 2 f. OHG, Art. 14 Abs. 1 OHG. |
Leitsatz: | Voraussetzungen für eine längerfristige psychologische Hilfe durch einen Dritten nach Opferhilfegesetz. |
Rechtskraft: | Dieser Entscheid ist rechtskräftig. |
Entscheid: | Die Dienststelle Soziales und Gesellschaft (DISG), Opferhilfe, gewährte der Gesuchstellerin folgende Kostengutsprachen für jeweils 40 Stunden Psychotherapie à Fr. 150.-- bei lic. phil. A: Von Dezember 2011 bis August 2014 in der Höhe von insgesamt Fr. 14'800.-- (Fr. 18'000.-- abzüglich Anteile Krankenkasse). Die DISG gewährte zudem Kostengutsprachen für Selbstbehalte, Franchisen, Spitexleistungen und Betreuungskosten im Umfang von insgesamt Fr. 23'719.10. Mit Gesuch vom 6. Oktober 2015 beantragte die Gesuchstellerin erneut Kostengutsprache für längerfristige Hilfe in Form von weiteren 40 Stunden Psychotherapie bei lic. phil. A. Mit Schreiben vom 6. November 2015 lehnte die DISG dieses Gesuch ab. Daraufhin ersuchte die Gesuchstellerin am 9. November 2015 um eine beschwerdefähige Verfügung. Mit Entscheid vom 3. Dezember 2015 wies die DISG das Gesuch um längerfristige Hilfe für die Übernahme von 40 Therapiesitzungen bei lic. phil. A ab. Dagegen erhob die Gesuchstellerin am 4. Januar 2016 beim Kantonsgericht Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragte, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und ihr Gesuch für die Übernahme von 40 Therapiesitzungen bei lic. phil. A sei gutzuheissen. Aus den Erwägungen: 1. Entscheide der DISG können mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Kantonsgericht angefochten werden (§ 11 Abs. 1 EGOHG). Auf das Verfahren sind die Vorschriften des Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege (VRG; SRL Nr. 40) anzuwenden, soweit das Opferhilferecht des Bundes und das EGOHG nichts anderes bestimmen (§ 12 EGOHG). Zuständig zur Beurteilung solcher Verwaltungsgerichtsbeschwerden ist die 1. Abteilung des Kantonsgerichts bzw. vorliegend aufgrund des unter Fr. 10'000.-- liegenden Streitwertes von Fr. 6'000.-- der Einzelrichter (§ 148 lit. d VRG; § 17 und § 18a Abs. 2 lit. a des Gesetzes über die Organisation der Gerichte und Behörden in Zivil-, Straf- und verwaltungsgerichtlichen Verfahren [JusG; SRL Nr. 260]; § 14 lit. l der Geschäftsordnung für das Kantonsgericht des Kantons Luzern [GOKG; SRL Nr. 263]). 1.2. 1.3. 2. 2.2. 2.3. Die altrechtliche Fassung des OHG vom 4. Oktober 1991 (aOHG) trat am 1. Januar 1993 in Kraft. Die neue Fassung des OHG vom 23. März 2007 (OHG) trat am 1. Januar 2009 in Kraft. Art. 48 Absatz 1 OHG sieht für Ansprüche auf Entschädigung oder Genugtuung betreffend Straftaten, die vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes begangen wurden, die Anwendung des bisherigen Rechts vor. Allerdings gelten bezüglich Straftaten, die weniger als zwei Jahre vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts verübt worden sind, die für das Opfer und seine Angehörigen günstigeren Verwirkungsfristen des neuen Rechts (lit. a). Die Periode von zwei Jahren nimmt Bezug auf die ebenfalls zwei Jahre dauernde Verwirkungsfrist des bisherigen Rechts. Das bisherige Recht gilt ferner für hängige Gesuche um Kostenbeiträge (lit. b). Für alle übrigen Fälle ist das neue Recht anwendbar (Botschaft zur Totalrevision des Bundesgesetzes über die Hilfe an Opfer von Straftaten vom 9.11.2005, BBl 2005 7165 [nachfolgend: Botschaft], S. 7238 f.). Für Ansprüche auf Entschädigung oder Genugtuung betreffend Straftaten, die vor dem 1. Januar 2009 begangen wurden, gilt demnach das bisherige Recht. Nach altrechtlicher Übergangsbestimmung (Art. 12 Abs. 3 der Verordnung über die Hilfe an Opfer von Straftaten vom 18.11.1992 (aOHV; SR 312.51) kann eine Entschädigung oder Genugtuung nur geltend gemacht werden, wenn die Straftat nach dem 1. Januar 1993 begangen worden ist, was hier bei von 1985 bis 1987 begangener Straftaten zu verneinen ist (vgl. Fullin, in: Komm. zum Opferhilfegesetz vom 23.3.2007 [Hrsg. Gomm/Zehntner], 3. Aufl. 2009, Art. 48 OHG N 4). Das Gesuch um längerfristige Hilfe Dritter datiert vom 26. August 2011 und wurde nach dem 1. Januar 2009 eingereicht. Demnach ist das neue OHG anwendbar (vgl. auch Empfehlungen der Schweizerischen Verbindungsstellen-Konferenz Opferhilfegesetz [SVK-OHG] zur Anwendung des Bundesgesetzes über die Hilfe an Opfer von Straftaten [OHG] vom 21.1.2010, S. 7 und 21). Anspruch auf Leistungen der Beratungsstellen haben alle Opfer von Straftaten unabhängig vom Zeitpunkt der Begehung der Straftat (Fullin, a.a.O., Art. 48 OHG N 4). Diese Leistungsart darf auch von Opfern von Delikten, welche vor dem 1. Januar 1993 begangen worden sind, beansprucht werden (Zehntner, in: Komm. zum Opferhilfegesetz vom 4.10.1991 [Hrsg. Gomm/Zehntner], 2. Aufl. 2005, Art. 19 aOHG N 4). 2.4. Medizinische und psychologische Hilfe soll bis zu dem Zeitpunkt erbracht werden, in dem keine namhafte Besserung des Gesundheitszustandes mehr erwartet werden kann, was je nach Umständen mehrere Monate oder sogar Jahre dauern kann. Diese Umschreibung des massgebenden Zeitpunktes wird auch im Unfallversicherungsrecht verwendet. Die Stabilisierung des Zustandes bedeutet also nicht zwingend Genesung. Benötigt ein Opfer nach der Stabilisierung weiterhin Hilfe, so ist diese über andere Institutionen (insbesondere über die Sozialversicherungen) zu erbringen. Aufwand, der nach diesem Zeitpunkt nicht gedeckt ist, kann zudem bei einer opferhilferechtlichen Entschädigung nach Art. 19 OHG berücksichtigt werden. Andere längerfristige Hilfe wird längstens gewährt, bis die Folgen der Straftat möglichst beseitigt oder ausgeglichen sind (Botschaft, a.a.O., S. 7211; vgl. auch Zehntner, in: Komm. zum Opferhilfegesetz vom 23.3.2007 [Hrsg. Gomm/Zehntner], 3. Aufl. 2009, Art. 13 OHG N 5 ff.). 2.5. Ebenfalls nicht erfüllt ist vorliegend die Voraussetzung der Notwendigkeit der zu erbringenden Leistung gemäss Art. 14 Abs. 1 OHG. Denn wie sich nachfolgend zeigen wird (vgl. hinten E. 3), kann die Gesuchstellerin eine den gleichen Zweck erfüllende Leistung von ihrer Krankenpflegeversicherung beanspruchen, was dem Subsidiaritätsprinzip gemäss Art. 4 OHG entspricht (vgl. Zehntner, in: Komm. zum Opferhilfegesetz vom 23.3.2007 [Hrsg. Gomm/Zehntner], 3. Aufl. 2009, Art. 14 OHG N 5). 2.6. 3. 3.2. 3.3. Die Opferhilfe versteht sich seit je als subsidiäre Hilfe zur Milderung von Härtefällen und zur Unterstützung finanziell schlecht gestellter Opfer. Grundsätzlich ist es Sache des Täters, für die von ihm verursachten Schäden aufzukommen. Die betroffene Person wird zudem bei einem Unfall, worunter auch Integritätsbeeinträchtigungen im Zusammenhang mit einer Straftat fallen, von Sozial- und oft auch Privatversicherungen unterstützt. Die Opferhilfe mildert allenfalls ungenügende Leistungen der primär Leistungspflichtigen und will verhindern, dass die betroffenen Personen Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen. Die Leistungen der Opferhilfe werden nur definitiv gewährt, wenn gemäss Art. 4 Abs. 1 OHG die für die betroffene Person notwendige finanzielle Hilfe von den primär Pflichtigen aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht erbracht wird beziehungsweise wenn sie ungenügend oder lückenhaft ist (Botschaft, a.a.O., S. 7205). 3.4. 3.4.2. Lic. phil. A arbeitet selbständig in eigener Praxis und ist weder Ärztin noch eine delegierte Psychotherapeutin. Durch sie geleistete Psychotherapien werden demnach nicht von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung vergütet. 3.4.3. Ein Wechsel der Therapeutin ist der Gesuchstellerin aus folgenden Gründen zumutbar: Es erfolgten bereits diverse Kostengutsprachen und der Gesuchstellerin verblieb genügend Zeit für einen Therapeutenwechsel. Ihr wurde nämlich von der Zusatzversicherung schon mit Schreiben vom 23. August 2011 mitgeteilt, dass diese nur Vergütungen für höchstens 60 Sitzungen leisten werde. Die Vorinstanz machte sie ebenfalls bereits in der Kostengutsprache vom 18. August 2014 darauf aufmerksam, dass, falls sich im Rahmen der hiermit gutgesprochenen 40 Therapiestunden abzeichne, dass die Ziele nicht erreicht würden bzw. nicht erreicht werden könnten, so sei (während der hiermit gedeckten 40 Stunden) ein Wechsel zu einer von der Krankenkasse finanzierten, delegiert arbeitenden Therapeutin oder zu einer Psychiaterin zu prüfen und soweit notwendig sowie von der Gesuchstellerin gewünscht von der Opferberatungsstelle aufzugleisen. Zudem erfolgte die Therapie bereits bisher durch mehrere Therapeuten, wovon auch die Gesuchstellerin ausgeht, da sie von aktuellen Therapeutinnen spricht. Neben lic. phil. A waren unter anderem auch die F der Psychiatrie X (seit Herbst 2014 wird sie psychiatrisch behandelt von Dr. med. G) und diverse Therapeuten der Privatklinik Y (insbesondere die Klinische Psychologin C) involviert. Weiter wurde lic. phil. A ursprünglich für eine Paartherapie aufgesucht und nicht durch die Opferberatungsstelle vermittelt. Letztere hätte nämlich Therapeuten, welche im Rahmen der Grundversicherung (KVG) arbeiten können, und deren Kosten somit hauptsächlich von der Krankenpflegeversicherung übernommen werden, bei der Vermittlung vorab berücksichtigt, weshalb nun kein Therapeutenwechsel notwendig wäre (vgl. Richtlinien der DISG zur Übernahme von Therapiekosten durch die Opferhilfe vom Juni 2009 Ziff. 5.1.4). Schliesslich lässt sich eine Unzumutbarkeit nicht einfach dadurch begründen, dass sich die Gesuchstellerin einen Therapeutenwechsel nicht vorstellen kann, wie im Antrag vom 6. Oktober 2015 geltend gemacht wird, bzw. dass sie bis heute keinen Therapeutenwechsel möchte. 3.5. 4. 5.
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