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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:1. Abteilung
Rechtsgebiet:Zivilrecht
Entscheiddatum:10.01.2017
Fallnummer:1B 16 23
LGVE:2017 I Nr. 2
Gesetzesartikel:Art. 47 OR.
Leitsatz:Genugtuungshöhe bei einer rezidivierenden depressiven Störung mittleren Grades.
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:

Aus den Erwägungen:

13.
13.1.
Die Vorinstanz hat der Klägerin eine Genugtuung von Fr. 20'000.-- zugesprochen. Während sich die Beklagte damit abgefunden hat, verlangt die Klägerin mit ihrer Anschlussberufung einen Betrag von Fr. 60'000.--. Die Beklagte beantragt Abweisung der Anschlussberufung. Anzumerken ist, dass der Klägerin keine Integritätsentschädigung ausgerichtet wurde; eine diesbezügliche Anrechnung entfällt. In rechtlicher Hinsicht kann auf die zutreffenden Erwägungen der Vorinstanz verwiesen werden. Bei genügender Intensität kann nicht nur eine physische, sondern auch eine psychische Beeinträchtigung eine Genugtuung rechtfertigen. Da die vorliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen in der Skala der Integritätsentschädigung nicht resp. nur ansatzweise enthalten sind, wird die Genugtuung nicht wie üblich in zwei Phasen (vgl. LGVE 1995 I Nr. 6), sondern in einer Phase berechnet.

13.2.
Die Vorinstanz führte zusammengefasst aus, von den gesundheitlichen Beschwerden der Klägerin stehe eine rezidivierende depressive Störung im Vordergrund, welche dazu führe, dass sie auf dem freien Arbeitsmarkt nicht mehr erwerbsfähig sei. Dass eine solche psychische Erkrankung zu einer Wesensveränderung führe, liege auf der Hand und bedürfe keines zusätzlichen Beweises. Keine Rolle spiele dagegen, ob ein Vertreter der Beklagten der Klägerin tatsächlich wenige Tage nach dem Unfall eine Per-Saldo-Entschädigung von Fr. 500.-- angeboten habe. Falls dies so erfolgt sei, könne darin keine widerrechtliche Persönlichkeitsverletzung im Sinn von Art. 49 Abs. 1 OR erblickt werden. Als Präjudiz, das mit dem vorliegenden Fall vergleichbar sei, könne das BGer-Urteil 4C.303/2004 vom 19. August 2008 herangezogen werden. Dem Urteil sei folgender Sachverhalt zugrunde gelegen: Am 5. Juli 1995 habe ein damals knapp 35-jähriger Autolenker eine Auffahrkollision mit einem Autobus gehabt, dessen Chauffeur seinen Vortritt missachtet habe. Der Autolenker habe ein Schleudertrauma und eine leichte Knieverletzung erlitten und sei in seinem bisherigen Beruf als Hilfsgärtner für fünf Tage arbeitsunfähig geschrieben worden. In der Folge habe der Geschädigte weiterhin über Nackenschmerzen geklagt, die in den linken Arm ausstrahlten, und sei in einen depressiven Zustand verfallen. Er habe die Arbeitstätigkeit nicht wieder aufgenommen. Der vom Gericht bestellte medizinische Gutachter habe ein chronisches Cervicobrachialsyndrom links sowie depressive Angstzustände diagnostiziert, wobei die depressiven Angstzustände gemäss Einschätzung des Gutachters nur zur Hälfte auf den Unfall zurückzuführen gewesen seien. Der Gutachter habe den Geschädigten im bisherigen Beruf zu 100 % arbeitsunfähig erachtet. Die Aufnahme einer Teilzeitarbeit in einem angepassten Beruf habe er nach einer Übergangsfrist von ca. einem Jahr als zumutbar erachtet. Die Genfer Cour de Justice als Vorinstanz des Bundesgerichts habe dem Geschädigten eine Genugtuung von Fr. 18'000.-- zugesprochen, wobei sie den ursprünglichen Betrag von Fr. 20'000.-- um 10 % reduziert habe, weil dem Geschädigten einerseits ein Selbstverschulden (Nichttragen der Sicherheitsgurte) sowie eine vorbestehende Depression anzurechnen war. Das Präjudiz sei mit dem vorliegenden Fall vergleichbar, wo die Klägerin ebenfalls im Nachgang zum Unfall eine rezidivierende depressive Störung entwickelt habe, die eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit zur Folge gehabt habe und ihr eine künftige Arbeitstätigkeit bloss im Umfang von 50 % in einem geschützten Rahmen erlaube. Weil der Klägerin jedoch weder ein Selbstverschulden noch ein depressiver Vorzustand anzurechnen ist, sei ihr eine Genugtuungssumme von Fr. 20'000.-- zuzusprechen.

Die Klägerin rügt vorab, die Vorinstanz habe, obwohl es eine Vielzahl von Referenzurteilen gebe, einen einzigen Fall herangezogen, um die Genugtuungssumme festzulegen. Es komme hinzu, dass der angegebene Entscheid aus verschiedenen Gründen nicht einschlägig sei. So habe sich der Unfall acht Jahre vor dem Unfall der Klägerin zugetragen und die Genugtuungssummen seien seither gestiegen. Im Präjudiz seien die psychischen Befunde nur zur Hälfte auf den Unfall zurückzuführen. Der dortige Autolenker sei als Hilfsgärtner nur fünf Tage voll arbeitsunfähig gewesen, während die Klägerin voll arbeitsunfähig bleibe; dass sie allenfalls im geschützten Rahmen tätig sein könne, mache ihre Beeinträchtigung nur noch grösser. Der dortige Autolenker sei kaum länger im Spital gewesen, während die Klägerin drei Hospitalisationen in der Klinik A in den Jahren 2007, 2012 und 2013 hinter sich habe und ihre Kinder deswegen drei Wochen lang habe verlassen müssen; zudem habe sie sich vom 13. April 2014 bis 5. Mai 2014 in der Klinik B aufhalten müssen. Seit nunmehr zehn Jahren sei sie in dauernder psychiatrischer ambulanter und medikamentöser (Psychopharmaka) Behandlung. Die Klägerin sei im Zeitpunkt des Unfalls alleinerziehende Mutter von zwei Töchtern im Alter von 11 und 13 Jahren gewesen und habe ihnen nie eine richtige Mutter sein können. Die Klägerin habe Suizidgedanken gehabt. Ihr psychisches Beschwerdebild sei von erheblicher Intensität. Der Klägerin sei überhaupt kein Selbstverschulden anzulasten. Es handle sich sodann um einen mittelschweren Unfall. Sodann nimmt die Klägerin Bezug auf zahlreiche Referenzfälle.

Die Beklagte wendet ein, entgegen den Erwägungen der Vorinstanz sei von einer Wesensveränderung der Klägerin im Gutachten keine Rede. Sodann sei keine dauernde Arbeitsunfähigkeit anzunehmen und allfällige Beeinträchtigungen seien nicht unfallkausal. Der Vorinstanz sei völlig freigestanden, auf ein einziges Präjudiz abzustellen. Es treffe im Übrigen nicht zu, dass der im Präjudiz erwähnte Geschädigte nur fünf Tage arbeitsunfähig gewesen sei, dieser sei vielmehr 100 % arbeitsunfähig gewesen. Die Klägerin leide an keiner schweren Depression; auch habe sie sich keinerlei Operationen unterziehen müssen. Sie habe lediglich an einer Gehirnerschütterung sowie Prellungen an OSG und Fuss links gelitten und habe das Spital nach zwei Tagen nahezu beschwerdefrei verlassen können. Der Geschädigte gemäss Präjudiz habe sogar vier Kinder gehabt. Dass die Klägerin Suizidgedanken gehabt habe, sei neu und damit unzulässig. Sodann nimmt die Beklagte Bezug auf die von der Klägerin geltend gemachten Referenzfälle.

13.3.
Es ist von folgenden Eckpunkten auszugehen: Die Klägerin, die zu Fuss unterwegs war, wurde am 23. April 2003 auf der X-Strasse in C auf einem Fussgängerstreifen von einem Auto angefahren. Sie wurde auf der linken Körperseite von der rechten Frontseite des Unfallwagens erfasst und über die Motorhaube gehoben, worauf sie auf die Strasse stürzte. Dabei erlitt sie eine Commotio cerebri und Prellungen an der linken Körperseite. Sie musste hospitalisiert werden und zwei Tage zur Beobachtung im Spital verbringen. Dieses konnte sie gemäss Austrittsbericht nahezu beschwerdefrei verlassen. Es ist von einem mittelschweren Unfall auszugehen. Bei den gesundheitlichen Beschwerden der Klägerin steht eine rezidivierende depressive Störung mittleren Grades im Vordergrund. Von einer solchen Krankheit spricht man dann, wenn mehrere abgrenzbare depressive Episoden in der Biografie eines Menschen auftreten. Bei einer rezidivierenden depressiven Störung treten im statistischen Mittel die einzelnen depressiven Episoden im Abstand von etwa fünf Jahren auf. Folgen dieser psychischen Erkrankung sind u.a. reduzierte Belastbarkeit mit erhöhter Ermüdung und Erschöpfbarkeit sowie Depressionen und Angstzustände. Nebst einem Klinikaufenthalt in der Klinik D (17.7.-7.8.2003) musste sich die Klägerin namentlich wegen ihrer schlechten psychischen Gesundheit stationär in der Klinik B (13.4.-5.5.2014) und dreimal in der Klinik A, nämlich in den Jahren 2007 (11.10.-21.11.), 2012 (20.3.-18.4.) und 2013 (20.6.-31.7.) behandeln lassen. Die psychiatrische Behandlung findet seit anfangs 2004 regelmässig bis heute statt. Befundmässig findet sich bei der Klägerin eine mindestens mittelgradig deprimierte Gemütslage mit Perspektive- und Hoffnungslosigkeit. Suizidgedanken, die auf den Unfall zurückzuführen wären, sind nicht rechtsgenüglich nachgewiesen; ebenfalls ist nicht nachgewiesen, dass die Klägerin durch den Unfall ein HWS-Trauma oder andere gravierende körperliche Schädigungen erlitt. Der Unfall vom 23. April 2003 war aber für die psychischen Beschwerden der Klägerin kausal und führte im Erwerbsleben zu einer 50%igen Arbeitsunfähigkeit sowie im Haushalt zu einer 20%igen Beeinträchtigung. Der Erwerbsausfallschaden beträgt 100 %, da die grundsätzlich vorhandene 50%ige Arbeitsfähigkeit nur in einem geschützten Rahmen möglich ist und sich damit bloss geringe, unter der bundesgerichtlichen Grenze liegende, Einkünfte erzielen lassen. Die Klägerin trägt kein Selbstverschulden am Unfall, und es liegen auch keine Reduktionsgründe nach Art. 43/44 OR vor. Sie musste sich wegen dem Unfall keinen Operationen unterziehen. Sie war seit der Scheidung im Jahre 2003 alleinerziehende Mutter von zwei Töchtern, geb. 1990 und 1992. Im Unfallzeitpunkt war die Klägerin (geb. 28.4.1970) 33 Jahre alt; heute ist sie 46-jährig.

13.4.
Diesem Sachverhalt wird das von der Vorinstanz als massgebend erachtete Präjudiz (erwähnt in Hütte/Landolt, Genugtuungsrecht, 2013, Band 2, Fälle-Nrn. 29 und 13 [diese sind identisch] S. 409) an sich gerecht, es sind jedoch Korrekturen anzubringen.

Vorab lässt sich dem BGer-Urteil 4C.303/2004 vom 19. August 2008 (Präjudiz der Vorinstanz; Hütte/Landolt, a.a.O.) entnehmen, dass dem im Unfallzeitpunkt 35-jährigen Hilfsgärtner ab 1. Juli 1996 eine volle IV-Rente zugesprochen wurde und er im Urteilszeitpunkt nach wie vor nicht erwerbstätig war. Im Zivilverfahren wurden ihm für die Zeit vom Unfall (5.7.1995) bis 30. Juni 2003 eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit zugebilligt; sodann ist aufgrund der gesprochenen Entschädigungen davon auszugehen, dass für die Zukunft (ab 1.7.2003) von einer Arbeitsunfähigkeit von 50 % ausgegangen wurde. Entgegen der Ansicht der Klägerin ist somit das Präjudiz bezüglich Arbeitsunfähigkeit (und auch deren Gründe) durchaus mit dem vorliegenden Fall vergleichbar, da vorliegend ebenfalls von einer dauernden Arbeitsunfähigkeit im Berufsleben im Umfang von 50 % ausgegangen wird (vgl. E. 13.3). In casu kommt hinzu, dass die Klägerin zusätzlich eine Beeinträchtigung im Haushalt von 20 % erlitt, was sich genugtuungserhöhend auswirkt. Zu Recht argumentiert die Klägerin ausserdem, dass sie sich vier Mal über mehrere Wochen stationär in Kliniken aufhalten musste. Dies wird aufgrund ihres Krankheitsbildes wohl auch künftig periodisch der Fall sein. Zusätzlich zur Vorinstanz ist schliesslich zu berücksichtigen, dass die Klägerin seit anfangs 2004 andauernd in ärztlicher Behandlung steht. Auch ereignete sich der Unfall gemäss Präjudiz acht Jahre vor dem vorliegend zu beurteilenden Unfall. Der in dieser Zeit eingetretenen Teuerung (rund 6 %) sowie den gesellschaftlichen Entwicklungen ist daher angemessen Rechnung zu tragen (BGer-Urteil 4A_157/2009 vom 22.6.2009 E. 4). Aufgrund dieser zusätzlichen, von der Vorinstanz nicht berücksichtigten Faktoren, ist der Betrag von Fr. 20'000.-- um die Hälfte zu erhöhen. Es erscheint im Lichte der konkreten Umstände eine Genugtuung von Fr. 30'000.-- als angemessen.

Die Parteien ziehen zwar je verschiedene Präjudizien aus Hütte/Landolt (Genugtuungsrecht Band 2) für ihre Begründung heran. So verweist die Klägerin auf Fälle mit Genugtuungssummen von Fr. 45'000.-- bis zu Fr. 100'000.-- (Fall-Nr. 145 S. 391: Fr. 45'000.--; Fall-Nr. 380 S. 387: Fr. 50'000.--; Fall-Nr. 345 S. 387: Fr. 50'000.--; Fall-Nr. 86 S. 389: Fr. 50'000.--; Fall-Nr. 316 S. 385: Fr. 60'000.--; Fall-Nr. 175 S. 386: Fr. 60'000.--; Fall-Nr. 150 S. 387: Fr. 60'000.--; Fall-Nr. 568 S. 384: Fr. 66'000.--; Fall-Nr. 168 S. 383: Fr. 70'000.--; Fälle-Nrn. 732 S. 379, 293 S. 379 und 68 S. 380: Fr. 100'000.--); die Beklagte zieht Fälle mit Genugtuungssummen von Fr. 12'000.-- bis Fr. 25'000.-- als Präjudizien heran (Fall-Nr. 571 S. 416: Fr. 12'000.--; Fall-Nr. 564 S. 409: Fr. 17'088.--; Fälle-Nrn. 152 S. 403 und 46 S. 404: Fr. 25'000.--). Diese Präjudizien lassen sich jedoch allesamt nicht tel quel auf den vorliegenden Fall übertragen. Es bleibt damit beim oben festgesetzten Betrag von Fr. 30'000.--.

13.5.
In teilweiser Gutheissung der Anschlussberufung hat die Beklagte der Klägerin eine Genugtuung von Fr. 30'000.-- zuzüglich Zins zu 5 % seit 23. April 2003 zu bezahlen.