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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:3. Abteilung
Rechtsgebiet:Invalidenversicherung
Entscheiddatum:03.05.2017
Fallnummer:5V 16 443
LGVE:2017 III Nr. 2
Gesetzesartikel:Art. 38 Abs. 1 lit. a IVV.
Leitsatz:Die seit 1. Januar 2015 geltende Fassung von Rz. 8050.1 des vom Bundesamt für Sozialversicherungen herausgegebenen Kreisschreibens über Invalidität und Hilflosigkeit in der IV (KSIH) ist mit BGE 133 V 450 nicht vereinbar, weshalb ihr die Anwendung versagt bleibt.
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:

Aus den Erwägungen:

4.3.2.

4.3.2.1.

Nach Art. 38 Abs. 1 lit. a der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) liegt ein Bedarf an lebenspraktischer Begleitung vor, wenn eine volljährige versicherte Person ausserhalb eines Heimes lebt und infolge Beeinträchtigung der Gesundheit ohne Begleitung einer Drittperson nicht selbständig wohnen kann. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) konkretisierte dies in Rz. 8050 des Kreisschreibens über Invalidität und Hilflosigkeit in der IV (KSIH; gültig ab 1.1.2015) folgendermassen:

"Die lebenspraktische Begleitung ist notwendig, damit der Alltag selbstständig bewältigt werden kann. Sie liegt vor, wenn die betroffene Person auf Hilfe bei mindestens einer der folgenden Tätigkeiten angewiesen ist:

- Hilfe bei der Tagesstrukturierung;

- Unterstützung bei der Bewältigung von Alltagssituationen (z.B. Fragen der Gesundheit, Ernährung und Hygiene, einfache administrative Tätigkeiten, etc.);"

Rz. 8050.1 lautet sodann: "Sofern die versicherte Person Hilfe/Unterstützung in mindestens einem der Bereiche gemäss Rz. 8050 benötigt, kann zusätzlich auch ein Hilfebedarf im Haushalt anerkannt werden. Die Berücksichtigung des Haushalts ist somit immer nur kumulativ möglich."

4.3.2.2.

Der IV-Stelle kann darin gefolgt werden, dass die Beschwerdeführerin keine Hilfe bei der Tagesstrukturierung benötigt. Denn sie ist nach Aktenlage durchaus fähig, ihren Tag zu strukturieren. So muss sie etwa nicht aufgefordert werden, aufzustehen. Ebenso wenig benötigt sie Hilfe beim Festlegen und Einhalten von fixen Mahlzeiten oder beim Beachten eines Tag- und Nachtrhythmus. Desgleichen braucht die Beschwerdeführerin auch keine Unterstützung bei der Bewältigung von Alltagssituationen. Sie muss beispielsweise nicht daran erinnert werden, sich zu duschen oder zu ernähren. Die Post öffnet und sortiert sie selber. Finanzielle Angelegenheiten werden von der Beiständin vorgenommen.

Würde man mit der IV-Stelle Rz. 8050.1 KSIH folgen, so würde vorliegend ein Anspruch auf lebenspraktische Begleitung ausscheiden. Es fragt sich aber, ob sich die in dieser Bestimmung enthaltene Einschränkung in Bezug auf die Berücksichtigung des Haushalts mit dem geltenden Recht vereinbaren lässt.

4.3.2.3.

Bis Ende 2014 lautete Rz. 8050 KSIH folgendermassen:

"Die lebenspraktische Begleitung ist notwendig, damit der Alltag selbständig bewältigt werden kann. Sie liegt vor, wenn die betroffene Person auf Hilfe bei mindestens einer der folgenden Tätigkeiten angewiesen ist:

- Hilfe bei der Tagesstrukturierung;

- Unterstützung bei der Bewältigung von Alltagssituationen (z.B. nachbarschaftliche Probleme, Fragen der Gesundheit, Ernährung und Hygiene, einfache administrative Tätigkeiten, etc.);

- Anleitung zur Erledigung des Haushalts sowie Überwachung/Kontrolle."

Per 1. Januar 2014 wurde die Verwaltungsweisung mit Rz. 8050.1 (entspricht Rz. 8050.2 KSIH in der seit 1.1.2015 geltenden Fassung) ergänzt. Darin wurde mit Verweis auf BGE 133 V 450 festgehalten, dass im Rahmen der lebenspraktischen Begleitung nach Art. 38 Abs. 1 lit. a IVV neben der indirekten auch die direkte Dritthilfe berücksichtigt werden könne. Demnach könne die Begleitperson die notwendigerweise anfallenden Tätigkeiten auch selber ausführen, wenn die versicherte Person dazu gesundheitsbedingt trotz Anleitung oder Überwachung/Kontrolle nicht in der Lage sei. Im genannten Grundsatzurteil führte das Bundesgericht auch aus, die vom BSV in den Rz. 8050 bis 8052 vorgenommene Konkretisierung der Anwendungsfälle der lebenspraktischen Begleitung erweise sich grundsätzlich als sachlich gerechtfertigt und damit als gesetzes- und verordnungskonform. Beizupflichten sei der Verwaltung insbesondere auch darin, dass sich die Begleitung zur Ermöglichung des selbständigen Wohnens (Art. 38 Abs. 1 lit. a IVV) auf die Haushaltsarbeiten erstrecke, zumal diese nicht zu den alltäglichen Lebensverrichtungen nach Art. 9 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 803.1) i.V.m. Art. 37 IVV gehören würden (BGE 133 V 450 E. 9 mit Hinweisen).

Demnach genügte es für den Anspruch auf lebenspraktische Begleitung nach den bis Ende 2014 geltenden Verwaltungsweisungen bereits, wenn die versicherte Person gesundheitsbedingt darauf angewiesen war, dass eine Begleitperson die notwendigerweise anfallenden Tätigkeiten im Haushalt übernahm, um der versicherten Person das selbständige Wohnen weiterhin zu ermöglichen.

Weshalb das BSV in der Folge per 1. Januar 2015 einen Hilfebedarf im Haushalt lediglich noch dann anerkannt wissen wollte, wenn die versicherte Person Hilfe/Unterstützung in mindestens einem der Bereiche Tagesstrukturierung und Bewältigung von Alltagssituationen benötige, kann nicht nachvollzogen werden. Die seit 1. Januar 2015 geltende Rz. 8050.1 KSIH lässt sich mit BGE 133 V 450 nicht vereinbaren (vgl. auch Urteil des Sozialversicherungsgerichts Zürich IV.2015.00185 vom 15.3.2016 E. 6.2; vgl. ausserdem Entscheid des Versicherungsgerichts St. Gallen IV 2013/412 vom 16.4.2014 E. 2.2, wonach jede versicherte Person, die krankheitsbedingt ihren Haushalt nicht mehr selbst besorgen kann, lebenspraktische Begleitung benötigt und folglich hilflos ist, wenn ihr das Verbleiben in der eigenen Wohnung ohne eine Haushalthilfe nicht mehr möglich oder zumutbar ist). So umfasst das selbständige Wohnen doch auch die Erledigung des Haushalts, was das Bundesgericht in Erwägung 9 betonte. Da Verwaltungsweisungen für Gerichtsinstanzen nicht verbindlich sind (vgl. BGE 123 V 70 E. 4a), ist Rz. 8050.1 in der seit 1. Januar 2015 geltenden Fassung vorliegend nicht zu beachten.