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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:4. Abteilung
Rechtsgebiet:Staats- und Gemeindesteuern / direkte Bundessteuer
Entscheiddatum:02.03.2017
Fallnummer:7W 15 75/7W 15 76
LGVE:2017 IV Nr. 4
Gesetzesartikel:Art. 130 Abs. 2 DBG, Art. 132 Abs. 3 DBG.
Leitsatz:Bei einem von der steuerpflichtigen Person nicht zu verantwortenden Untersuchungsnotstand, darf die Steuerbehörde ohne vorausgehende Mahnung mit Zurückhaltung die Steuerfaktoren nach pflichtgemässem Ermessen schätzen. Die erhöhten Anfechtungsvoraussetzungen gemäss Art. 132 Abs. 3 DBG gelangen dabei nicht zur Anwendung.
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:

Aus den Erwägungen:

2.

2.1.

Gemäss Art. 130 Abs. 2 des Bundesgesetzes über die direkte Bundessteuer (DBG; SR 642.11) nimmt die Veranlagungsbehörde die Veranlagung nach pflichtgemässem Ermessen vor, wenn der Steuerpflichtige trotz Mahnung seine Verfahrenspflichten nicht erfüllt hat oder wenn die Steuerfaktoren mangels zuverlässiger Unterlagen nicht einwandfrei ermittelt werden können. Sie kann dabei Erfahrungszahlen, Vermögensentwicklung und Lebensaufwand des Steuerpflichtigen berücksichtigen. Eine Ermessensveranlagung dient allgemein dazu, einen Untersuchungsnotstand der Veranlagungsbehörde zu beheben; wenn die Abklärung des Sachverhalts mit den gesetzlichen Untersuchungsmitteln nicht mehr möglich ist, wird zur Ermessensveranlagung geschritten. Eine Ermessensveranlagung kann somit grundsätzlich erst vorgenommen werden, wenn alle zur Abklärung des steuerlich massgebenden Sachverhalts geeigneten, im Gesetz vorgesehenen Untersuchungsmassnahmen durchgeführt sind und sich als nutzlos erwiesen haben. Die Ermessensveranlagung stellt nur ein letztes Mittel dar, wenn auf andern Wegen eine Veranlagung nicht möglich ist (Richner/Frei/Kaufmann/Meuter, Handkomm. zum DBG, 3. Aufl. 2016, Art. 130 DBG N 25; Locher, Komm. zum DBG, III. Teil, Basel 2015, Art. 130 DBG N 23 ff.; Zweifel/Hunziker, in: Komm. zum Schweizerischen Steuerrecht, Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer [Hrsg. Zweifel/Beusch], 3. Aufl. 2016, Art. 130 DBG N 17). Die Anfechtung einer Ermessensveranlagung wird für das Einspracheverfahren dahingehend erschwert, dass nur die offensichtliche Unrichtigkeit einer ermessensweise erfolgten Schätzung gerügt werden kann (Art. 132 Abs. 3 DBG). Diese eingeschränkte Überprüfungsbefugnis gilt auch für das Beschwerdeverfahren nach Art. 140 ff. DBG (Richner/Frei/Kaufmann/Meuter, a.a.O., Art. 140 DBG N 51; Zweifel/Casanova, Schweizerisches Steuerverfahrensrecht, Zürich 2008, § 24 Rz. 6).


2.2.

Das Bundesgericht äussert sich dahingehend, dass eine Ermessensveranlagung nicht nur dann vorgenommen werden kann, wenn die Steuerfaktoren mangels zuverlässiger Unterlagen nicht einwandfrei ermittelt werden können, sondern auch dann, wenn sich die für die Veranlagung massgebenden tatsächlichen Verhältnisse nicht feststellen lassen, obwohl der Steuerpflichtige keine Verfahrenspflicht verletzt hat, das heisst, wenn die nicht zu beseitigende Ungewissheit im Sachverhalt andere Gründe hat (BGer-Urteile 2C_441/2008 vom 30.1.2009 E. 2.1, 2A.426/2004 vom 23.11.2004 E. 2.1, 2A.384/2003 vom 29.1.2004 E. 2.1 und 2A.53/2003 vom 13.8.2003 E. 4.1).

In der Lehre wird die Frage, ob eine Ermessensveranlagung ohne Verfahrenspflichtverletzung ebenfalls zum Tragen kommt, unterschiedlich beantwortet. So vertreten Zweifel/Hunziker in Übereinstimmung mit den erwähnten Urteilen den Standpunkt, dass der Gesetzestext mit dem Passus, wenn "die Steuerfaktoren mangels zuverlässiger Unterlagen nicht einwandfrei ermittelt werden" können, eine Art "Auffangtatbestand" darstelle. Dieser gelange stets zur Anwendung, wenn sich die für die Veranlagung massgebenden tatsächlichen Verhältnisse nicht feststellen liessen, obwohl der Steuerpflichtige keine Verfahrenspflichten verletzt habe, d.h. wenn die nicht zu beseitigende Ungewissheit im Sachverhalt andere Gründe habe (Zweifel/Hunziker, a.a.O., Art. 130 DBG N 41). Richner/Frei/Kaufmann/Meuter sind zwar der Ansicht, dass nicht nur die schuldhafte Nichterfüllung von Verfahrenspflichten zur Ermessensveranlagung führe, sondern immer wenn die für die Steuer massgebenden Sachverhalte mangels zuverlässiger Unterlagen nicht einwandfrei ermittelt werden können, eine Ermessensveranlagung vorgenommen werde. Sie präzisieren jedoch, dass ein Fehlverhalten der steuerpflichtigen Person vorliegen müsse, um die Rechtsnachteile bei einer Anfechtung einer ermessensweisen Schätzung zu rechtfertigen. Blieb bei gehöriger Mitwirkung der steuerpflichtigen Person der Sachverhalt unklar und musste deshalb die Veranlagung (um das Verfahren abzuschliessen) nach pflichtgemässem Ermessen vorgenommen werden, könnten die Rechtsnachteile nach Art. 132 Abs. 3 DBG nicht greifen (Richner/Frei/Kaufmann/Meuter, a.a.O., Art. 130 DBG N 26 u. 31a). Berger schränkt den Anwendungsbereich von Art. 130 Abs. 2 DBG auf die Fälle des Versagens der Sachverhaltsvermittlung infolge schuldhafter Verletzung von Mitwirkungspflichten durch den Steuerpflichtigen ein. Dennoch schliesst er eine analoge Anwendung der Norm bei fehlendem Fehlverhalten nicht aus, wobei in diesen Fällen die prozessualen Nachteile in aller Regel nicht greifen dürften (Berger, Voraussetzungen und Anfechtung der Ermessensveranlagung, in: ASA 2006/2007 S. 196 ff.). Entsprechend bejaht Locher, dass sich eine Schätzung teilweise auch ohne Fehlverhalten der steuerpflichtigen Person aufdränge, eine solche "Ermessensbetätigung" lasse sich jedoch nur analog und nicht direkt auf Art. 130 Abs. 2 DBG stützen. In der Folge bedürfe es keiner Mahnung vor der Vornahme der schätzungsweisen Veranlagung, ferner sei die Schätzung zurückhaltend vorzunehmen und schliesslich lasse sich eine erschwerte Anfechtbarkeit in diesen Fällen nicht begründen (Locher, a.a.O., N 20 f. u. 41 ff.). Dieser letzten Ansicht ist zu folgen. Eine teleologische Auslegung spricht für die analoge Anwendung von Art. 130 Abs. 2 DBG, da die verfahrensrechtliche Schlechterstellung bei gehöriger Kooperation des Steuerpflichtigen eine mit dem Verfassungsgrundsatz der Verhältnismässigkeit staatlichen Handelns unvereinbare Behinderung für die Realisierung des Veranlagungsziels, der vollständigen und richtigen Besteuerung (vgl. Art. 123 Abs. 1 DBG) nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, wäre. Weiter erfasst die Tatbestandsvariante "mangels zuverlässiger Unterlagen" den Untersuchungsnotstand, der bei gehöriger Kooperation aus anderen Gründen eintritt, von vornherein nicht, sodass die Rechtsfolge nur mittels Analogieschluss zum Tragen kommen darf. Daraus folgt schliesslich, dass einzig eine analoge Anwendung der massgebenden Bestimmung ein Abweichen von den strengen Voraussetzungen nach Art. 130 Abs. 2 DBG sowie den einschneidenden Folgen für die Anfechtung der Ermessensveranlagung gemäss Art. 132 Abs. 3 DBG zulässt.

Der eingangs erwähnte Untersuchungsnotstand ist auch bei der analogen Anwendung von Art. 130 Abs. 2 DBG vorausgesetzt (Locher, a.a.O., Art. 130 DBG N 42).


Aus alledem ergibt sich, dass im Fall eines von der steuerpflichtigen Person nicht zu verantwortenden Untersuchungsnotstands eine zurückhaltende Schätzung der massgebenden Steuerfaktoren durch die Veranlagungsbehörde zulässig ist. Hierzu bedarf es keiner vorgängigen Mahnung, denn die steuerpflichtige Person kann nach Ausschöpfen seiner Mitwirkungsmöglichkeiten von vornherein keinen weiteren Beitrag zur Sachverhaltsklärung leisten (vgl. Locher, a.a.O., Art. 130 DBG N 44). Schliesslich kommt Art. 132 Abs. 3 DBG nicht zur Anwendung, die Voraussetzungen an die Einsprache und die Bundessteuerbeschwerde entsprechen damit jenen im Rahmen eines Veranlagungs- bzw. eines Steuerjustizverfahrens betreffend eine Veranlagung, die nicht nach Ermessen
erfolgte.


2.3.

Indem die Dienststelle Steuern die werterhaltenden Anteile der Renovationskosten nach Massgabe der Weisungen schätzungsweise ermittelte, aber weder ein Mahnverfahren durchführte noch im Sinn von Art. 132 Abs. 3 DBG erhöhte Anforderungen an die Anfechtbarkeit der Schätzung bzw. Veranlagung stellte, wendete sie die steuerlichen Verfahrensvorschriften dem vorliegenden Auslegungsergebnis entsprechend gesetzmässig an.