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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:4. Abteilung
Rechtsgebiet:Sozialhilfe
Entscheiddatum:29.06.2017
Fallnummer:7H 16 303
LGVE:
Gesetzesartikel:§ 7 Abs. 1 SHG; § 53 VRG.
Leitsatz:Sozialhilfeverfahren: Die objektive Beweislast greift erst, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Sachverhalt festzustellen, der zumindest die Wahrscheinlichkeit für sich hat, der Wirklichkeit zu entsprechen. Die Behörde ist verpflichtet, die zumutbaren Untersuchungshandlungen vorzunehmen.
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:

Aus den Erwägungen:

3.1

Im Rahmen der wirtschaftlichen Sozialhilfe hat die hilfebedürftige Person über ihre Verhältnisse vollständig und wahrheitsgetreu Auskunft zu geben und die zur Abklärung erforderlichen Unterlagen beizubringen. Sie hat Änderungen ihrer Verhältnisse umgehend und unaufgefordert zu melden. Im Übrigen gelten die Bestimmungen des Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege (VRG; SRL Nr. 40; § 7 Abs. 1 und 3 des Sozialhilfegesetzes [SHG; SRL Nr. 892]). Gemäss § 53 VRG stellt die Behörde den Sachverhalt von Amts wegen fest. Eine Partei hat bei der Feststellung des Sachverhalts mitzuwirken, wenn sie das Verfahren durch eine Rechtsvorkehr, z.B. ein Gesuch, veranlasst hat (§ 55 Abs. 1 lit. a VRG) oder soweit ein Rechtssatz ihr besondere Auskunftspflichten auferlegt (§ 55 Abs. 1 lit. c VRG; vgl. § 7 SHG). Nach dem Untersuchungsgrundsatz hat die Verwaltung von Amts wegen für die richtige und vollständige Abklärung des rechtserheblichen Sachverhalts zu sorgen. Die Behörde ist an die Vorbringen einer Partei nicht gebunden und hat falls notwendig weitere Erhebungen durchzuführen. Als Beweismittel dienen namentlich Urkunden, Auskünfte von Parteien, Zeugen oder Drittpersonen oder Gutachten von Sachverständigen.

Im Sozialhilfeverfahren sind der rechterhebliche Sachverhalt bzw. die rechterheblichen Tatsachen und damit auch die tatbestandlichen Voraussetzungen der Bedürftigkeit von Amts wegen umfassend abzuklären, was Ausdruck des Legalitätsprinzips ist. Es gilt das Prinzip der materiellen Wahrheit, d.h. die Sozialhilfebehörde hat sich über das Vorhandensein von Sachumständen selbst zu überzeugen und darf ihre Entscheide nicht etwa allein auf die Vorbringen der unterstützten Person stützen. Da die Sozialhilfebehörde die Bedürftigkeit nur in beschränktem Umfang in Eigenregie feststellen kann, wird die Untersuchungsmaxime durch die Auskunfts- und Meldeobliegenheit der unterstützten Person ergänzt (Wizent, Die sozialhilferechtliche Bedürftigkeit, Diss. Zürich/St. Gallen 2014, S. 521 f.).


Die Mitwirkungs-, Auskunfts- und Meldepflichten gelten allerdings nicht uneingeschränkt. Sie bilden insbesondere keine "carte blanche" zur Abwälzung der der Behörde zumutbaren eigenen Abklärungen auf die bedürftige Person (Wizent, a.a.O., S. 524). Die Mitwirkungspflichten werden namentlich durch den verfassungsmässigen Grundsatz der Verhältnismässigkeit begrenzt (Wolffers, a.a.O., S. 107). Die auferlegten Obliegenheiten müssen demnach für den Betroffenen erfüllbar und zumutbar sein und sich zur Abklärung entscheidrelevanter Tatsachen als geeignet und erforderlich erweisen (Plüss, in: Komm. zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich [Hrsg. Griffel], 3. Aufl. 2014, § 7 VRG-ZH N 101). Die Zumutbarkeit (vgl. § 55 Abs. 2 VRG) beurteilt sich nach einer Interessenabwägung im konkreten Einzelfall. Relevant sein kann dabei z.B. die Intensität des Eingriffs in die Persönlichkeitsrechte, den die auferlegte Mitwirkungspflicht bewirkt, die Zugänglichkeit des Beweismittels oder der Aufwand, den eine Mitwirkungspflicht für den Verfahrensbeteiligten verursacht (vgl. BGE 133 II 384 E. 5.2.2). Je positiver sich die Mitwirkungspflicht für die betroffene Partei auswirkt, desto mehr darf ihr grundsätzlich zugemutet werden (Plüss, a.a.O., § 7 VRG-ZH N 102). Ist eine Person zur Mitwirkung nicht in der Lage, darf eine solche von ihr nicht verlangt werden. Unterlässt die mitwirkungspflichtige Person allerdings die verhältnismässige, ihr zumutbare Mitwirkung, hat sie die materiell-rechtlichen Folgen dieser Säumnis zu tragen. Diese können in der wirtschaftlichen Sozialhilfe (wie erwähnt) beispielsweise in der Kürzung, Einstellung oder Rückzahlung von Sozialhilfegeldern bestehen (Plüss, a.a.O., § 7 VRG-ZH N 112; vgl. § 29 Abs. 4 SHG).


3.2.

Von der Mitwirkungspflicht ist die objektive Beweislast zu unterscheiden, welche die Folgen der Beweislosigkeit regelt (vgl. Urteil des Kantonsgerichts Luzern A 12 47 vom 14.2.2014 E. 5.1). Im Sozialhilfeverfahren tragen die Parteien in der Regel nur insofern eine Beweislast, als im Fall der Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten jener Partei ausfällt, die aus dem unbewiesen gebliebenen Sachverhalt Rechte ableiten wollte (vgl. Art. 8 des schweizerischen Zivilgesetzbuchs [ZGB; SR 210], der im öffentlichen Recht entsprechend anwendbar ist). Diese Beweisregel greift allerdings erst dann Platz, wenn es sich als unmöglich erweist, im Rahmen der verwaltungsrechtspflegegesetzlichen Pflicht der Behörde, den Sachverhalt festzustellen (§ 53 VRG), unter Würdigung der Beweise einen Sachverhalt zu ermitteln, der zumindest die Wahrscheinlichkeit für sich hat, der Wirklichkeit zu entsprechen (vgl. BGer-Urteil B 3/01 vom 23.1.2003 E. 2.2 m.H.). Die Gemeinde hat m.a.W. die Letztverantwortung über die Abklärung der Verhältnisse.


Bei der Stellung des Kantonsgerichts als zweite Rechtsmittelinstanz kann es nicht Aufgabe des Gerichts sein, von Grund auf den rechtserheblichen Sachverhalt zu ermitteln. Bereits die verfügende Gemeindebehörde und das Departement als Beschwerdeinstanz haben die Abklärung des Sachverhalts von Amts wegen vorzunehmen (Donatsch, in: Komm. zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich [Hrsg. Griffel], 3. Aufl. 2014, § 60 VRG-ZH N 2 f.; Urteil des Verwaltungsgerichts Zürich VB.2015.00726 vom 4.4.2016 E. 5.3.1).

(…)


5.2.

Nach dem Gesagten hat die Verwaltung von Amts wegen für die richtige und vollständige Abklärung des rechtserheblichen Sachverhalts zu sorgen, wobei als Beweismittel namentlich Gutachten von Sachverständigen dienen. Das Gegenstück des Untersuchungsgrundsatzes, nämlich die Mitwirkungspflicht des Betroffenen, darf die Behörde nicht dazu verwenden, um die eigenen, zumutbaren Abklärungen auf die bedürftige Person zu überwälzen. Einen Beweislastentscheid – wie vorliegend – zu Ungunsten des Beschwerdeführers darf die Behörde gar erst treffen, wenn es sich als unmöglich erweist, im Rahmen der verwaltungsrechtspflegegesetzlichen Pflicht der Behörde den Sachverhalt festzustellen.


Die gesetzliche Ausgestaltung des Zusammenspiels von Untersuchungs- und Mitwirkungspflichten im erstinstanzlichen Verwaltungsverfahren ist darauf ausgelegt, dass die Feststellung sämtlicher sozialhilferechtlicher Umstände vor dem Entscheid über die wirtschaftliche Sozialhilfe selbst erfolgt. Wenn die Behörde die für die wirtschaftliche Sozialhilfe massgeblichen Tatsachen als unsicher betrachtet, ist es ihre gesetzliche Pflicht, den Sachverhalt von sich aus abzuklären. Bereits eine Verlagerung des Untersuchungsverfahrens in ein allfälliges Einspracheverfahren widerspricht deshalb dem gesetzlichen Konzept, die Untersuchungen im erstinstanzlichen Verfahren durchzuführen, und erst recht verletzen die Behörden ihre gesetzlichen Pflichten, wenn sie eine allfällige Unsicherheit in tatsächlicher Hinsicht überhaupt nicht zu beseitigen versuchen, sondern ihre Untersuchungspflicht gänzlich vernachlässigen. Die Behörde wäre im Rahmen ihrer Untersuchungspflicht verpflichtet gewesen, im erstinstanzlichen Verfahren die ihr zumutbaren und ihrer Auffassung nach notwendigen Untersuchungshandlungen vorzunehmen. Dies tat sie jedoch nicht, stattdessen erliess sie sogleich einen Endentscheid und stellte den Beschwerdeführer vor die Wahl, im Rahmen des Rechtsmittelverfahrens selber weitere Untersuchungen zu veranlassen oder seine Wohnung zu kündigen. Mit dieser Vorgehensweise verletzte die Gemeinde ihre Untersuchungspflicht.