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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:1. Abteilung
Rechtsgebiet:Zivilprozessrecht
Entscheiddatum:07.03.2017
Fallnummer:1B 16 65
LGVE:2017 I Nr. 11
Gesetzesartikel:Art. 81 ZPO, Art. 82 ZPO, Art. 85 ZPO.
Leitsatz:Wurde eine Streitverkündungsklage ausdrücklich zugelassen und das Verfahren bis zur Spruchreife durchgeführt, läuft das nachträgliche Nichteintreten auf die Streitverkündungsklage dem vom Gesetzgeber bei deren Zulassung verfolgten Zweck einer Kosten- und Ressourcenersparnis zuwider.
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:

In einem von A angehobenen Forderungsprozess beantragte die Beklagte, es sei ihre Streitverkündungsklage gegen die B AG zuzulassen. Diesem Begehren wurde entsprochen. Mit Streitverkündungsklage gegen die B AG beantragte die Beklagte u.a., die Streitverkündungsbeklagte habe ihr mindestens Fr. 30'001.-- zu bezahlen und es sei ihr Gelegenheit zur Bezifferung ihrer Forderung zu geben, sobald der A zu leistende Betrag bekannt sei. Das Verfahren der Streitverkündungsklage wurde bis zur Spruchreife durchgeführt. Anschliessend trat das Bezirksgericht unter Hinweis auf BGE 142 III 102 auf die Streitverkündungsklage nicht ein. Das Kantonsgericht hiess die von der Streitverkündungsklägerin gegen diesen Entscheid erhobene Berufung gut.

Aus den Erwägungen:

4.
4.1.
Die Vorinstanz begründete ihren Nichteintretensentscheid mit der neuen bundesgerichtlichen Rechtsprechung gemäss BGE 142 III 102 zur Bezifferung der Rechtsbegehren bei einer Streitverkündungsklage. Danach müssen die Rechtsbegehren einer Streitverkündungsklage (bereits im Zulassungsverfahren) beziffert sein und dürfen nicht vom Ausgang des Hauptprozesses abhängig gemacht werden. Eine Streitverkündungsklage kann nur dann als unbezifferte Forderungsklage erhoben werden, wenn die Streitverkündungsklage selber oder die Hauptklage ihrerseits die Voraussetzungen von Art. 85 der Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO; SR 272) erfüllen (BGE 142 III 102 Regeste).

4.2.
Die Streitverkündungsklägerin argumentiert in der Berufungsschrift vom 10. November 2016 im Wesentlichen, die Vorinstanz habe ohne sachliche Notwendigkeit ihre Eintretenspraxis während des laufenden Streitverkündungsverfahrens auf Kosten der Streitverkündungsklägerin und zum Nachteil der Prozessparteien geändert. Sie habe mit anderen Worten die Spielregeln während eines laufenden Spiels geändert, was einen qualifizierten Verstoss gegen das Gebot von Treu und Glauben gemäss Art. 52 ZPO beinhalte. Aus dem genannten Bundesgerichtsurteil könne sicher nicht abgeleitet werden, dass sämtliche hängigen Streitverkündungsverfahren mit unbezifferten Forderungsbegehren nachträglich eingestellt werden müssten. Zudem habe sie keine unbezifferte Forderungsklage im engen Sinn geltend gemacht, sondern ausdrücklich einen Mindestbetrag von Fr. 30'001.-- mit Nachklagevorbehalt gefordert. Im vorliegenden Fall habe die Vorinstanz die Streitverkündungsklage am 22. April 2014 zugelassen, anschliessend einen zweifachen Rechtsschriftenwechsel angeordnet, eine Instruktionsverhandlung mit den Parteien durchgeführt und Gutachtensaufträge erteilt. Sodann hätten bereits zwei Ortstermine mit dem Gutachter stattgefunden, an welchen die Parteien teilgenommen hätten.

4.3.
Die Streitberufene erklärte in ihrer Eingabe vom 24. Januar 2017, sie sei durch den angefochtenen Entscheid nur in formeller, nicht aber in materieller Hinsicht Gegenpartei. Sie habe vorinstanzlich weder einen Antrag auf Nichteintreten gestellt, noch sei sie vom Bezirksgericht zu dieser Frage zur Stellungnahme aufgefordert worden. Auch für sie sei der Nichteintretensentscheid überraschend gekommen, nachdem bereits ein doppelter Rechtsschriftenwechsel, eine Instruktionsverhandlung sowie zwei Begehungen stattgefunden hätten. Grundsätzlich sei sie daran interessiert, dass die vor der Vorinstanz hängige Klage rasch beurteilt und materiell entschieden werde.

5.
5.1.
Im BGer-Urteil 4A_134/2016 vom 11. Juli 2016 hat das Bundesgericht die Hauptargumentation der Streitverkündungsklägerin gestützt. In E. 1.3 führte es betreffend den konkret von ihm zu beurteilenden Fall aus:

"…Anders als in BGE 142 III 102 wurde die Streitverkündungsklage zugelassen, ohne dass die mangelhafte Bezifferung beanstandet worden wäre, und das Verfahren wurde zu Ende geführt. Ein Nichteintreten auf die Streitverkündungsklage hätte zur Folge, dass sämtliche Verfahrensschritte zwischen denselben Parteien in einem neuen Prozess wiederholt werden müssten. Dies liefe dem vom Gesetzgeber mit der Zulassung der Streitverkündungsklage verfolgten Zweck einer Kosten- und Ressourcenersparnis (vgl. Botschaft vom 28. Juni 2006 zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], BBl 2006 7284, Ziff. 5.5.5 zu Art. 79 und 80 E-ZPO) zuwider. Daran besteht kein schützenswertes Interesse (vgl. BGE 137 III 556 E. 4.6 S. 561 f.), und es würde, gerade wenn aus materiellen Gründen eine Abweisung der Streitverkündungsklage erfolgte, zu unhaltbaren Ergebnissen führen. Der Streitverkündungsbeklagte würde um seinen Prozesserfolg gebracht wegen eines prozessualen Fehlers der Gegenpartei, dem bei Abweisung der Streitverkündungsklage keinerlei Bedeutung zukommt. ..."

5.2.
Auch im vorliegenden Fall wurde die Streitverkündungsklage ausdrücklich zugelassen (Entscheid vom 22.4.2014). Innert der vom Instruktionsrichter gesetzten Frist reichte die Streitverkündungsklägerin am 18. August 2014 die Streitverkündungsklage mit den im Sachverhalt erwähnten Anträgen ein. Die Streitberufene reichte am 30. September 2014 die Klageantwort ein. Es folgten Replik (14.1.2015) und Duplik (10.2.2015). Mit Verfügung vom 17. Juli 2015 fällte die Instruktionsrichterin einen Beweisentscheid. Am 20. Oktober 2015 fand eine Instruktionsverhandlung statt, an welcher mit A eine Parteibefragung und mit C sowie D je eine Zeugenbefragung durchgeführt wurden. Mit Verfügung vom 18. November 2015 wurde ein Gutachten betreffend Baumängel und ein gerichtliches Erläuterungs- bzw. Ergänzungsgutachten zum Gutachten angeordnet. Am 15. Februar 2016 folgten die Gutachteraufträge. Die Parteien nahmen anschliessend an zwei Begehungen mit dem Gutachter teil. Festzuhalten ist sodann, dass die Streitberufene im vorinstanzlichen Verfahren keinen Nichteintretensantrag stellte und vor Kantonsgericht folgerichtig nicht etwa die Bestätigung des angefochtenen Entscheids verlangte, sondern vielmehr ihre Meinung kundgab, dass die Streitverkündungsklage rasch beurteilt und materiell entschieden werde.

5.3.
Bei dieser Sachlage gelangt BGE 142 III 102 im vorliegend zu beurteilenden Fall klarerweise nicht zur Anwendung. Dementsprechend ist der angefochtene Entscheid aufzuheben. Es erübrigt sich, auf die weiteren Argumente der Streitverkündungsklägerin einzugehen.