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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:1. Abteilung
Rechtsgebiet:Zivilrecht
Entscheiddatum:06.07.2017
Fallnummer:1B 15 4
LGVE:2017 I Nr. 14
Gesetzesartikel:Art. 82 OR, Art. 253 OR, Art. 264 OR, Art. 266g OR.
Leitsatz:Kündigung eines Mietverhältnisses vor Mietantritt und vorzeitige Rückgabe der Mietsache (analoge Anwendung bei Nichtantritt der Miete).
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:

Die Parteien unterzeichneten einen "Mietvertrag mit Nebenverpflichtungen". Die Klägerin vermietete der Beklagten verschiedene Räume ihrer Liegenschaft. Es war beabsichtigt, das Gebäude zu renovieren, zu erweitern und umzubauen. Die Beklagte verpflichtete sich dabei, bestimmte Mieträume in eigener Regie und auf eigene Kosten einer Sanierung zu unterziehen. Am 30. September 2009 kündigte die Beklagte den Mietvertrag aus wichtigem Grund gemäss Art. 266g des Obligationenrechts (OR; SR 220) auf den 31. März 2010. Mit Schreiben vom 6. Januar 2010 kündigte die Beklagte das Mietverhältnis erneut aus wichtigem Grund. Die Klägerin hat die beiden Kündigungen angefochten. Die Klägerin verlangte von der Beklagten unter anderem die Bezahlung von Mietzinsen und der Sanierungskosten sowie Ersatz für ihr entstandene Kosten für Planänderungen und bauliche Massnahmen. Das Bezirksgericht wies die Klage vollumfänglich ab.

Aus den Erwägungen:

6.
6.1.
Miete ist die entgeltliche Überlassung einer Sache zum Gebrauch. Wesentliche Vertragspunkte des Mietvertrags sind die Bestimmung der Mietsache und die entgeltliche Gebrauchsüberlassung. Bei zweiseitigen Verträgen haben die Parteien Anspruch auf gegenseitige Erfüllung der vereinbarten Pflichten. Ohne anderweitige Vereinbarung hat der Vermieter dem Mieter die Mietsache zu überlassen, bevor Letzterer den Mietzins zu bezahlen hat; mithin obliegt dem Vermieter eine Vorleistungspflicht (Giger, Berner Komm., Die Miete, Bern 2013, Art. 253 OR N 195; Leu, Basler Komm., 6. Aufl. 2015, Art. 82 OR N 2 und N 4).

6.2.
Die Baubewilligung für die Gesamtrenovation wurde am 11. Dezember 2009 rechtskräftig. Mietantritt bzw. "Beginn des Mietverhältnisses" bzw. spätester "Mietbeginn" (so die Bezeichnungen der Parteien im Vertrag) wäre demnach gemäss Vertrag drei Monate später gewesen, somit am 11. März 2010.

Das Recht, einen Vertrag aus wichtigem Grund aufzulösen, ist für Dauerschuldverhältnisse allgemein anerkannt. Dieses Recht besteht, ohne dass es dazu einer expliziten gesetzlichen Regelung (z.B. – wie vorliegend – Art. 266g OR betreffend Mietvertrag, Art. 297 OR betreffend Pachtvertrag, Art. 337 OR betreffend Arbeitsvertrag, Art. 418r OR betreffend Agenturvertrag und Art. 545 Abs. 2 OR betreffend einfache Gesellschaft) oder einer entsprechenden vertraglichen Abrede – wie sie vorliegend erfolgte – bedarf (Wolfer, Die vertragliche Regelung der Vertragsauflösung aus wichtigem Grund, in AJP 5/2014 S. 621 f. mit Hinweisen).

Grundsätzlich kann eine Kündigung nach Art. 266g OR – entgegen den allgemeinen Grundsätzen – jederzeit nach dem Vertragsschluss ausgesprochen werden, also bereits vor dem Mietantritt (Higi, Zürcher Komm., Die Miete, Zürich 1995, Art. 266g OR N 60). Wenn die Auflösung zu Recht erklärt wurde, wird der Vertrag – bei Dauerschuldverhältnissen in der Regel mit Wirkung ex nunc, bei anderen Verträgen mit Wirkung ex tunc – aufgelöst. Ist der wichtige Grund hingegen nicht erstellt, bleibt der Vertrag – anders als bei einigen der gesetzlich ausdrücklich normierten Auflösungsrechte (wie z.B. Art. 337c OR, wonach auch eine zu Unrecht erfolgte fristlose Entlassung das Arbeitsverhältnis beendet) – grundsätzlich weiterhin in Kraft (vgl. BGE 133 III 360 [= Pra 2008 Nr. 6] E. 8.1.3; Higi, a.a.O., Art. 266g OR N 67; Wolfer, a.a.O., S. 623). Vorbehalten ist die Möglichkeit der Gegenpartei, eine Partei, welche zu Unrecht die Vertragsauflösung aus wichtigem Grund ausgesprochen hat, auf ihrer Erklärung zu behaften und dadurch die Beendigung des Vertragsverhältnisses zu bewirken (Wolfer, a.a.O., S. 623).

6.3.
Nach der ersten Kündigung der Beklagten vom 30. September 2009 begann die Klägerin mit der Planung und der Ausführung einer Projektänderung. Sie hat der Beklagten mit Schreiben vom 24. Dezember 2009 indes nach wie vor die Erfüllung des Vertrags bis am 8. Januar 2010 angeboten. Anstatt sich anfragegemäss bis zum 8. Januar 2010 zu erklären, ob bzw. dass sie bereit sei, die Verpflichtungen des Mietvertrags zu erfüllen, kündigte die Beklagte den Mietvertrag am 6. Januar 2010 erneut.

Dass der wichtige Grund, mit dem die Beklagte die zweite Kündigung begründete (Nichtvorliegen der Baubewilligung), nicht gegeben war, war bereits vor dem Entscheid der Schlichtungsbehörde offensichtlich. Besteht kein wichtiger Grund, ist die Kündigung nichtig und das Mietverhältnis dauert fort; eine Anfechtung der Kündigung wäre nicht erforderlich gewesen (vgl. Weber, Basler Komm., 6. Aufl. 2015, Art. 266g OR N 7). Mit der Anfechtung machte die Klägerin immerhin deutlich, dass sie von der Möglichkeit, die Beklagte auf die Kündigung zu behaften und dadurch die Beendigung des Vertragsverhältnisses als solches zu bewirken, keinen Gebrauch machen wollte. Dies ist indes vorliegend nicht entscheidend, weshalb sich Weiterungen dazu erübrigen.

Entscheidend ist, dass die Beklagte unter den gegebenen Umständen spätestens mit ihrer zweiten Kündigung unmissverständlich zum Ausdruck brachte, dass sie die Miete definitiv nicht antreten werde bzw. auf ihr Gebrauchsrecht verzichtet (vgl. BGer-Urteil 4C.269/2005 vom 16.11.2006 E. 7). Spätestens ab diesem Zeitpunkt musste die Klägerin das Mietobjekt entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht mehr bereitstellen und bestand für sie keine Vorleistungspflicht mehr. Ein "Schwebezustand", der die Klägerin verpflichtet hätte, der Beklagten mindestens bis zur Rechtskraft der Entscheide der Schlichtungsbehörde Erfüllung anzubieten, lag unter diesen Umständen entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht vor. Dem entspricht, dass die Klägerin mit Schreiben vom 12. Januar 2010 gegenüber der Beklagten ihren Standpunkt deutlich machte, wonach sich aus der erneuten Kündigung vom 6. Januar 2010 zwingend ergebe, dass die Beklagte das Mietobjekt endgültig nicht nutzen wolle, und sie, die Klägerin, nun versuchen werde, das Mietobjekt anderweitig zu vermieten, und die dafür notwendigen baulichen Massnahmen sofort veranlassen werde.

Ergänzend ist festzuhalten, dass es der Klägerin, obwohl sie nach der ersten Kündigung für eine anderweitige Nutzung der Mietobjekte Planungsvarianten erörterte und bauliche Massnahmen vornahm, gemäss vorinstanzlichem Beweisergebnis möglich gewesen wäre, die vorgenommenen Änderungen Ende Dezember 2009/Anfang Januar 2010, spätestens aber bis zum vertraglich vorgesehenen Mietantritt am 11. März 2010 rückgängig zu machen, wie dies die Zeugen A und B übereinstimmend bestätigten. Nach Aussage von A hätten die Änderungen innert weniger Tage wieder rückgängig gemacht werden können, wenn die Beklagte den Mietvertrag hätte "antreten" wollen. Es sei eine Grobplanung gemacht worden, dass die Änderungen zwischen Weihnachten und Neujahr bzw. innert weniger Tage wieder hätten rückgängig gemacht werden können. B bestätigte, dass die Änderungen innert nützlicher Frist (er sprach von zwei, drei Wochen) hätten rückgängig gemacht werden können bzw. die Herstellung des ursprünglichen Zustands terminlich ohne Verzögerung des Umbaus des Hauptbaus möglich gewesen wäre. Die Kosten dafür wären im Verhältnis zum Gesamtprojekt gering gewesen. Damit ist erstellt, dass die aufgrund der Projektänderung begonnenen Arbeiten der Klägerin bis zum "Beginn des Mietverhältnisses" hätten rückgängig gemacht werden können. Auch dies ist indes letztlich nicht entscheidend.

Wie dargelegt, brachte die Beklagte spätestens mit der Kündigung vom 6. Januar 2010 klar und verbindlich zum Ausdruck, dass sie am Mietantritt nicht interessiert war bzw. die Miete nicht antreten werde. An der Unmissverständlichkeit und Verbindlichkeit dieser Erklärung ändert nichts, dass die Beklagte der Klägerin am 23. März 2010 mitteilte, sie werde das Mietverhältnis (nun doch) antreten. Dieses Schreiben widerspricht ihrem in der Kündigung vom 30. September 2009 und insbesondere derjenigen vom 6. Januar 2010 geäusserten Verhalten und verletzt damit den Grundsatz von Treu und Glauben. Vor diesem Hintergrund erfolgte auch das Gesuch der Beklagten vom 28. Oktober 2010 an die Schlichtungsbehörde für Miete und Pacht, in welchem sie von der Klägerin verlangte, sie habe ihr die gemäss Vertrag vom 7. November 2008 vermieteten Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen, rechtsmissbräuchlich.

7.
7.1.
Die Klägerin stützt ihre Forderung betreffend Mietzinse auf Art. 264 OR, d.h. auf eine vorzeitige Rückgabe der Mietsache.

Gibt der Mieter die Sache zurück, ohne Kündigungsfrist oder -termin einzuhalten, so ist er von seinen Verpflichtungen gegenüber dem Vermieter nur befreit, wenn er einen für den Vermieter zumutbaren neuen Mieter vorschlägt; dieser muss zahlungsfähig und bereit sein, den Mietvertrag zu den gleichen Bedingungen zu übernehmen (Art. 264 Abs. 1 OR). Andernfalls muss er den Mietzins bis zu dem Zeitpunkt leisten, in dem das Mietverhältnis gemäss Vertrag oder Gesetz endet oder beendet werden kann (Art. 264 Abs. 2 OR). Der Vermieter muss sich anrechnen lassen, was er an Auslagen erspart und durch anderweitige Verwendung der Sache gewinnt oder absichtlich zu gewinnen unterlassen hat (Art. 264 Abs. 3 OR).

7.2.
Die Anwendung von Art. 264 OR setzt rein begrifflich die Übergabe der Mietsache an den Mieter voraus (Higi, Zürcher Komm., Die Miete, Zürich 1995, Art. 264 OR N 9; Spirig, Mietrecht für die Praxis, 9. Aufl. 2016, S. 746; SVIT-Kommentar, Das Schweizerische Mietrecht, 3. Aufl. 2008, Art. 264 OR N 3a).

Vorliegend hat die Beklagte spätestens mit der zweiten Kündigung vom 6. Januar 2010 unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass sie das Mietobjekt nicht übernehmen werde. Ob bereits die Einstellung der Arbeiten der "Soft Sanierung" bzw. die erste Kündigung vom 30. September 2009 oder die am 1. Dezember 2009 auf Verlangen der Klägerin erfolgte Rückgabe der Schlüssel als vorzeitige Rückgabe des Mietobjekts zu qualifizieren wäre, wie dies die Klägerin geltend machte und macht, kann offenbleiben. Die Beklagte hat das Mietobjekt nicht übernommen bzw. die Miete nicht angetreten.

Tritt der Mieter das Mietverhältnis nicht an bzw. wenn das Mietobjekt – wie im vorliegenden Fall – nicht übernommen worden und die wörtliche Anwendung von Art. 264 OR daher ausgeschlossen ist, ist die Bestimmung analog anzuwenden (Spirig, a.a.O., S. 746 mit Hinweisen; Blumer, Schweizerisches Privatrecht VII/3, Gebrauchsüberlassungsverträge, Basel 2012, N 1026; vgl. auch Higi, a.a.O., Art. 264 OR N 9 ff., und SVIT-Kommentar, a.a.O., Art. 264 OR N 3a, wonach in solchen Fällen Annahmeverzug des Mieters i.S.v. Art. 91 ff. OR vorliege und der Vermieter nach Art. 107 ff. OR vorzugehen habe).

Bei der vorzeitigen Rückgabe der Mietsache nach Art. 264 OR handelt es sich um einen vorzeitigen Beendigungsgrund und nicht um eine vorzeitige Kündigung. Am ehesten kann die vorzeitige Rückgabe als bedingtes Gestaltungsrecht mit rechtsaufhebender Wirkung bezeichnet werden (SVIT-Kommentar, a.a.O., Art. 264 OR N 3; Weber, a.a.O., Art. 264 OR N 7; Higi, a.a.O., vor Art. 266-266o OR N 28).

Art. 264 Abs. 3 OR bewirkt, dass der Vermieter im Sinne einer Obliegenheit die Sache jederzeit zurückzunehmen hat, sobald der Mieter auf deren Gebrauch (ausdrücklich oder konkludent) verzichtet, denn die Rücknahme ist Voraussetzung für die anderweitige Verfügung über das Mietobjekt (Weber, a.a.O., Art. 264 OR N 8 und Art. 267 OR N 3a). Auch unter diesem Aspekt war die Klägerin entgegen der Auffassung der Vorinstanz spätestens ab der zweiten Kündigung der Beklagten nicht mehr gehalten, der Beklagten weiterhin Erfüllung anzubieten.

7.3.
Die Klägerin fordert gestützt auf Art. 264 OR für die Zeit vom 1. April 2010 bis zum 28. Februar 2011 den Mietzins für das ganze Mietobjekt. Ab 1. März 2011 habe ein Teil anderweitig vermietet werden können. Für den anderen Teil sei zudem Mietzins vom 1. März 2011 bis 31. Dezember 2011 geschuldet. (…)

7.4.
Es ist unbestritten, dass die Beklagte der Klägerin keinen Nachmieter vorgeschlagen bzw. gestellt hat (vgl. Art. 264 Abs. 1 OR). Nach dem Gesagten ist sie deshalb in analoger Anwendung von Art. 264 Abs. 2 OR grundsätzlich zur Zahlung des Mietzinses verpflichtet.