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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:4. Abteilung
Rechtsgebiet:Staats- und Gemeindesteuern / direkte Bundessteuer
Entscheiddatum:20.12.2016
Fallnummer:7W 15 25
LGVE:2018 IV Nr. 6
Gesetzesartikel:Art. 175 DBG; Art. 182 DBG.
Leitsatz:Es liegt in der Untersuchungspflicht der Steuerstrafbehörde, im Rahmen einer persönlichen Befragung den subjektiven Sachverhalt einlässlich zu ergründen müssen (E. 4.3.4.1).

Die grosse Übereinstimmung von erstinstanzlichen Strafgerichtsverfahren mit dem Steuerjustizverfahren der ersten Gerichtsinstanz erfordert, im Steuerjustizverfahren erster Instanz die Möglichkeit zu eröffnen, Beweislücken mit Bezug auf den Anklagesachverhalt zu schliessen. Eine Rückweisung zur Ergänzung der Sachverhalts im Verwaltungsverfahren würde den strafprozessualen Regeln widersprechen (E. 4.3.4.3).

Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Das Bundesgericht wies eine von der ESTV und der Beschwerdeführerin erhobene Beschwerde mit Urteil vom 14. Juli 2017 ab (BGer-Urteile 2C_84/2017, 2C_130/2017).
Entscheid:

Aus den Erwägungen:


4.3.1.

In subjektiver Hinsicht ist für die Tatbestandsmässigkeit der Steuerhinterziehung bei einer juristischen Person erforderlich, dass das Organ vorsätzlich oder zumindest fahrlässig handelte. Vorsätzlich handelt, wer die Tat im Sinn von Art. 12 Abs. 2 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs (StGB; SR 311.0) mit Wissen und Willen ausführt. Eventualvorsatz wird dem direkten Vorsatz gleichgesetzt und liegt vor, wenn der Täter die Verwirklichung eines Tatbestands zwar nicht mit Gewissheit voraussieht, aber doch ernsthaft für möglich hält und die Erfüllung des Tatbestands für den Fall, dass sie eintreten sollte, auch will bzw. mindestens in Kauf nimmt (grundlegend zum dolus eventualis: BGE 69 IV 75; Richner/Frei/Kaufmann/Meuter, Handkomm. zum DBG, 3. Aufl. 2016, Art. 175 DBG N 49 f. m.H.).


Fahrlässig handelt, wer die Folge seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedenkt oder darauf nicht Rücksicht nimmt. Pflichtwidrig ist die Unvorsichtigkeit, wenn der Täter die Vorsicht nicht beachtet, zu der er nach den Umständen und nach seinen persönlichen Verhältnissen verpflichtet ist (Art. 12 Abs. 3 StGB).

(…)


4.3.4.

Der Nachweis der subjektiven Tatbestandsmerkmale obliegt, wie gesagt, im Steuerstrafverfahren der Behörde (Sieber, in: Komm. zum Schweizerischen Steuerrecht, Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer [Hrsg. Zweifel/Athanas], 2. Aufl. 2008, Art. 175 N 28). Aus den Akten geht hervor, dass das Organ der Beschuldigten, d.h. A, im Hinterziehungsverfahren Vorsatz und Fahrlässigkeit mehrmals bestritt. Die Steuerbehörde klärte zwar den Nachsteuersachverhalt ergänzend zu den Erhebungen der ASU/ESTV ab, unterliess jedoch jegliche Untersuchungshandlungen betreffend den subjektiven Hinterziehungstatbestand, das allfällige Verschulden und die Beweggründe, mithin betreffend die unerlässlichen Entscheidgrundlagen für Bestrafung und Strafzumessung. Vielmehr stellte sie für den subjektiven Tatbestand unter Berufung auf bundesgerichtliche Rechtsprechung (BGer-Urteil 2A.374/2005 vom 8.6.2006) auf die Annahme ab, dass wer sich nicht gegen eine zu tiefe Ermessensveranlagung zur Wehr setze, eine Steuerhinterziehung zumindest in Kauf nehme. Hierbei scheint sie indessen die Tragweite der bundesgerichtlichen Erwägungen zu verkennen, führt doch das Bundesgericht ausdrücklich aus: "En effet, dès lors que la taxation est fondée sur des revenus manifestement trop bas et qu'elle est entrée en force, le contribuable sait que sa taxation est incomplète de manière indue. En ne le signalant pas, il commet par cette omission une soustraction d'impôt intentionnellement ou par négligence (…)" (E. 2.2). D.h., damit die Annahme greifen kann, wird vorausgesetzt, dass die Ermessensveranlagung auf "revenus manifestment trop bas" beruhen muss. Genau diese Offensichtlichkeit der zu tiefen Ermessensveranlagung bestritten und bestreiten aber die Beschwerdeführerin und A mit dem Argument, es sei letzterem nicht bewusst gewesen, dass die Ermessensveranlagung zu tief ausgefallen sei, da die Jahresrechnung 2005 einen um etwa Fr. 23'000.-- tieferen Gewinn ausgewiesen habe.


4.3.4.1.

(…)

Um den subjektiven Tatbestand einer Hinterziehung im Sinn von Art. 175 Abs. 1 DBG zu erstellen, hätte die Dienststelle Steuern mithin nicht allein die objektive Steuerverkürzung nachweisen, sondern zugleich die geltend gemachten Gründe widerlegen müssen. Namentlich wäre es ihre Untersuchungspflicht und Nachweisobliegenheit gewesen, Tatsachen zu erheben und Motive zu ergründen, welche für die Annahme sprächen, dass A zumindest sorgfaltspflichtwidriges Verhalten vorzuwerfen wäre. Dabei hätte sie insbesondere in Nachachtung ihrer strafprozessualen Pflicht, A als beschuldigtes Organ der Beschwerdeführerin persönlich zu befragen (BGE 140 I 68 E. 9.2; BGer-Urteil 2C_284/2014 vom 2.12.2014 E. 3.2; LGVE 2012 II Nr. 25 E. 2c/aa-bb; Urteil des Verwaltungsgerichts Luzern A13 14 vom 5.2.2014 E. 3.1.-3.2.), den subjektiven Sachverhalt einlässlich ergründen müssen. Indem sie dies jedoch unterliess und den Nachweis des Eventualvorsatzes auf gemutmasste Kenntnisse einer zu tiefen Ermessensveranlagung stützte, versäumte sie, den rechtsgenügenden Nachweis von Fahrlässigkeit oder Vorsatz zu erbringen. Auf diese Verletzungen der gesetzlichen Untersuchungspflicht im Sinn von Art. 182 Abs. 1 und Abs. 3 DBG i.V.m. Art. 130 Abs. 1 DBG, die eine Verletzung des rechtlichen Gehörs bedeutet (Richner/Frei/Kaufmann/Meuter, a.a.O., Art. 130 DBG N 16; Zweifel, in: Komm. zum Schweizerischen Steuerrecht, Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer [Hrsg. Zweifel/Athanas], 2. Aufl. 2008, Art. 130 DBG N 6), wird bei den Nebenfolgen zurückzukommen sein. In der Sache ist im Ergebnis der objektive Tatbestand der Steuerverkürzung in den bereits mehrfach genannten Positionen rechtsgenügend erstellt, hingegen besteht eine aufgrund der im vorinstanzlichen Verfahren erstellten Aktenlage nicht überbrückbare Erkenntnislücke im subjektiven Tatbestand.

(…)


4.3.4.3.

Das schriftliche Behauptungsverfahren, wie es im gerichtlichen Beschwerdeverfahren des Steuerstrafrechts aufgrund der Verweisung von Art. 182 Abs. 3 DBG durchgeführt wird, lässt die direkte Übertragung der Verfahrensabläufe, wie sie in der StPO vorgesehen sind, nicht zu. Das Strafverfahren vor dem erstinstanzlichen Gericht erlaubt den Beweis von mit der Anklage erhobener Behauptungen im Beweisverfahren nach den Art. 341 ff. StPO. Mängel des Vorverfahrens können in diesem Verfahrensstadium noch behoben werden; eine Rückweisung ist aber in diesem Verfahrensstand ausgeschlossen; nach Beginn der Hauptverhandlung kann grundsätzlich ausschliesslich ein Sachurteil, ein Schuld- oder ein Freispruch oder ein Prozessurteil ergehen (Donatsch/Schwarzenegger/Wohlers, Strafprozessrecht, 2. Aufl. 2014, S. 287). Demgegenüber können im Veranlagungsverfahren Sachverhaltslücken zufolge von Verletzungen der Untersuchungspflicht entweder vom Gericht selber geschlossen werden oder führen – gerade bei qualifizierten Untersuchungsmängeln in wesentlichen Punkten – zur Aufhebung mit Rückweisung zur Untersuchung im Verfahren der Vorinstanz (Richner/Frei/Kaufmann/Meuter, a.a.O., Art. 143 DBG N 29).


Eine – funktional betrachtet – möglichst grosse Übereinstimmung von erstinstanzlichen Strafgerichtsverfahren mit dem Steuerjustizverfahren der ersten Gerichtsinstanz wegen der Geltung der strafprozessualen Fundamentalnormen von EMRK und BV auch im Steuerstrafverfahren erfordert demnach, im Steuerjustizverfahren erster Instanz die Möglichkeit zu eröffnen, Beweislücken mit Bezug auf den Anklagesachverhalt (d.h. auf die Strafverfügung) zu schliessen. Hingegen dürfte eine Rückweisung zur Ergänzung der Sachverhalts im Verwaltungsverfahren wegen der EMRK-rechtlichen Tatsachenzuständigkeit des Gerichts und der Ausschlusswirkung des durchgeführten Behauptungsverfahrens analog derjenigen der eröffneten Hauptverhandlung den strafprozessualen Regeln widersprechen.


Diese Erwägungen führen zum Zwischenergebnis, dass die festgestellte, schwerwiegende Untersuchungslücke mit Bezug auf den subjektiven Tatbestand der Steuerhinterziehung durch das Gericht im Beweisverfahren zu schliessen ist. Die dafür erforderliche Einvernahme des Organs der Beschuldigten erfolgte im vorliegenden Beschwerdeverfahren im Rahmen der Gerichtsverhandlung vom 25. Oktober 2016.