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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:3. Abteilung
Rechtsgebiet:Invalidenversicherung
Entscheiddatum:19.01.2018
Fallnummer:5V 16 505
LGVE:2018 III Nr. 2
Gesetzesartikel:Art. 35 IVG; Art. 25 AHVG; Art. 49 Abs. 1 AHVV; Art. 278 Abs. 2 ZGB.
Leitsatz:Absolviert das Stiefkind eine Ausbildung im Ausland, ist die Hausgemeinschaft nicht (mehr) gegeben und es besteht kein Anspruch des Stiefelternteils auf eine Kinderrente der Invalidenversicherung.
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:

A bezieht seit dem 1. April 2005 eine ganze Rente der Invalidenversicherung (Verfügung vom 5.4.2006). Am 12. April 2002 hatte er die Thailänderin B geheiratet, welche eine Tochter (C, geboren 1997) in die Ehe einbrachte. Die für seine Stieftochter gewährte Kinderrente wurde mit Verfügung vom 7. Oktober 2016 für den Zeitraum vom 1. Oktober 2015 bis 31. August 2016 zurückgefordert, da der Lehrvertrag der Volljährigen per 28. September 2015 aufgelöst worden war und sie deshalb nicht mehr in einer Ausbildung stand.

Mit Schreiben vom 19. September 2016 beantragte A die Wiederausrichtung der Kinderrente für seine Stieftochter C, da sie in Thailand einer Ausbildung nachgehe. Am 16. November 2016 verfügte die Verwaltung die Abweisung des Gesuchs auf eine Kinderrente.


Aus den Erwägungen:

1.

1.1.

Männer und Frauen, denen eine Invalidenrente zusteht, haben in Anwendung von Art. 35 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) für jedes Kind, das im Falle ihres Todes eine Waisenrente der Alters- und Hinterlassenenversicherung beanspruchen könnte, Anspruch auf eine Kinderrente. Für Pflegekinder, die erst nach Eintritt der Invalidität in Pflege genommen werden, besteht kein Anspruch auf Kinderrente, es sei denn, es handle sich um Kinder des andern Ehegatten (Art. 35 Abs. 3 IVG).

1.2.

Nach Art. 25 Abs. 3 des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG; SR 831.10) regelt der Bundesrat den Anspruch der Pflegekinder auf Waisenrente. Laut dem vom Bundesrat gestützt auf diese Delegationsnorm erlassenen Art. 49 Abs. 1 der Verordnung über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV; SR 831.101) haben Pflegekinder beim Tod der Pflegeeltern Anspruch auf eine Waisenrente nach Art. 25 AHVG, wenn sie unentgeltlich zu dauernder Pflege und Erziehung aufgenommen worden sind.

Das Stiefkind, das im Haushalt des Stiefvaters oder der Stiefmutter lebt, ist einem Pflegekind gleichgestellt, wenn der Stiefelternteil unentgeltlich für seinen Unterhalt aufgekommen ist (EVG-Urteil H 123/02 vom 24.2.2003 E. 1). Stiefeltern, die ein Stiefkind in die Hausgemeinschaft aufgenommen haben, gelten zusammen mit dem Elternteil als Pflegeeltern. Zwischen Pflegekind und Pflegeeltern oder dem Pflegeelternteil muss ein eigentliches Pflegeverhältnis bestanden haben. Das Kind muss zur Pflege und Erziehung und nicht zur Arbeitsleistung oder beruflichen Ausbildung in die Hausgemeinschaft der Pflegeeltern aufgenommen worden sein und dort faktisch die Stellung eines eigenen Kindes innegehabt haben. Das Pflegeverhältnis muss auf Dauer begründet worden sein. Das Kind darf von den Pflegeeltern nicht bloss für bestimmte Zeit aufgenommen worden sein (Rz. 3308 und 3315 der Wegleitung über die Renten in der Eidgenössischen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung [im Folgenden: RWL], Stand 1.1.2016).

1.3.

Für Kinder, die das 18. Altersjahr vollendet haben, aber noch oder wieder in Ausbildung sind, dauert der Rentenanspruch bis zu deren Abschluss, längstens aber bis zum vollendeten 25. Altersjahr (Art. 25 Abs. 5 i.V.m. Abs. 4 AHVG). Zweck der Kinderrente ist hierbei die Förderung der beruflichen Ausbildung, indem das volljährige Kind eines invaliden Elternteils durch die Invalidität eines Elternteils in seinem beruflichen Weiterkommen nicht behindert sein soll (BGE 139 V 122 E. 4.3).

2.

Der Beschwerdeführer macht im Wesentlichen geltend, Art. 49bis Abs. 1 und 2 AHVV würden die Anspruchsberechtigung für eine IV-Kinderrente für Kinder in Ausbildung regeln, dies auf Grundlage von Art. 25 Abs. 5 AHVG, welcher für Kinder in Ausbildung einen eigenständigen Anspruch auf Rente bestimme. Es sei für die Rentenberechtigung eines Kindes oder Stiefkindes nicht relevant, ob es sich in Hausgemeinschaft mit dem rentenberechtigten Stiefvater befinde. Dies entspreche auch dem Gleichbehandlungsgebot von Art. 8 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (BV; SR 101). Ziel der gesetzlichen Regelung müsse es sein, in Bezug auf die Rentenberechtigung für Kinderrenten Kinder und Stiefkinder von rentenberechtigten Personen gleichzustellen. Der Bundesrat habe in Art. 49bis AHVV zu Recht verzichtet, eine Unterscheidung dahingehend zu treffen, ob ein sich in Ausbildung befindendes Kind oder Stiefkind in Hausgemeinschaft mit dem IV-berechtigten Stiefvater lebe. Die von der IV-Stelle postulierte Voraussetzung, wonach eine Hausgemeinschaft zwischen Stiefvater und Stieftochter in Ausbildung bestehen müsse, sei nicht normiert worden.

Des Weiteren vertritt der Beschwerdeführer die Auffassung, wäre die Aufrechterhaltung der Hausgemeinschaft Erfordernis für die weiteren Rentenauszahlungen für Kinder oder Stiefkinder in Ausbildung, hätte dies eine unzulässige Ungleichbehandlung zwischen Stiefkindern zur Folge, welche ihre Ausbildung in der Nähe ihrer Hausgemeinschaft absolvieren und pendeln könnten, und solchen, die nicht jeden Abend zurückkehren könnten. Eine solche gesetzliche Unterscheidung sei sachlich nicht zu rechtfertigen.

Weiter fügt er an, eine Unterscheidung wäre sachfremd, weil der Zweck der Ausrichtung einer IV-Kinderrente sei, dass sich Stiefeltern gegenüber Stiefkindern finanziell mit grossen Auslagen für deren Ausbildung konfrontiert sehen würden und dadurch ein Stück weit entlastet werden sollten. Deshalb müsse ein solcher Anspruch stets bestehen, sobald sich ein Stiefkind in Ausbildung befinde, ungeachtet dessen, ob es hierfür die Haushaltsgemeinschaft mit dem rentenberechtigten Stiefelternteil verlassen müsse oder nicht. Vielmehr treffe zu, dass Art. 49bis AHVV eine eigene Kategorie von beschwerdeberechtigten Stiefkindern geschaffen habe. Die Tatsache, dass ein Stiefkind in Ausbildung sei, genüge, um ihm einen Rentenanspruch gestützt darauf zu verschaffen. Zudem habe C ihren Wohnsitz nicht ins Ausland verlegt. Gemäss Wohnsitzbescheinigung der Gemeinde Z vom 18. November 2016 habe sie weiterhin ununterbrochenen Wohnsitz in der Schweiz. Somit bestehe weiterhin rechtlich eine Hausgemeinschaft mit dem Stiefvater. Ferner habe er die Ausbildungskosten für seine Stieftochter weiterhin zu tragen, unabhängig davon, ob sie ihre Ausbildung in der Schweiz oder im Ausland absolviere.

3.

Streitig und zu prüfen ist, ob der Beschwerdeführer Anspruch auf eine Kinderrente nach Art. 35 IVG für seine Stieftochter C hat.

Demgegenüber ist unbestritten, dass sich die volljährige Stieftochter des Beschwerdeführers in Thailand in einer Ausbildung befindet.

3.1.

Zunächst ist festzuhalten, dass die Kinderrente dann geschuldet ist, wenn der (unterhaltspflichtige) Vater oder die (unterhaltspflichtige) Mutter noch lebt (vgl. Art. 35 Abs. 1 IVG; Art. 22ter Abs. 1 AHVG); sie ersetzt dem Kind nicht den Wegfall des Elternteils wie bei der Waisenrente, sondern dient der Erleichterung der Unterhaltspflicht des invalid gewordenen oder im AHV-Alter stehenden Unterhaltsschuldners und soll dessen (durch Alter oder Invalidität bedingte) Einkommenseinbusse ausgleichen. Mit anderen Worten soll sie dem invaliden oder im AHV-Alter stehenden Elternteil ermöglichen, seiner Unterhaltspflicht nachzukommen, aber nicht der Bereicherung des Unterhaltsempfängers dienen. Der Anspruch steht daher dem Rentenempfänger zu, nicht direkt dem Kind (BGE 134 V 15 E. 2.3.3 mit Hinweisen).

3.2.

3.2.1.

Art. 35 IVG i.V.m. Art. 25 AHVG bestimmt, dass für jenes Kind Anspruch auf eine IV-Kinderrente besteht, welches seinerseits im Fall des Todes eines Elternteils selber eine Waisenrente beanspruchen könnte. In den massgebenden Gesetzen (IVG und AHVG) sowie in der entsprechenden Verordnung (AHVV) ist einzig der Anspruch auf eine Waisenrente für Pflegekinder normiert, nicht hingegen für Stiefkinder. Das Bundesgericht hat in der Folge festgehalten, dass das Stiefkind, welches im Haushalt des Stiefvaters oder der Stiefmutter lebt, einem Pflegekind gleichgestellt ist, wenn der Stiefelternteil unentgeltlich für seinen Unterhalt aufgekommen ist (EVG-Urteile B 14/04 vom 19.9.2005 E. 1.3, H 123/02 vom 24.2.2003 E. 1; SZS 2003 S. 544 mit Hinweisen). Damit hat es unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass einzig ein Anspruch auf eine Waisenrente entstehen kann, wenn sich das Stiefkind in demselben Haushalt aufhält wie der rentenberechtigte Stiefelternteil. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers stellt dies somit eine zwingende Voraussetzung dar.

3.2.2.

Gleiches ergibt sich aus Rz. 3329 RWL. Danach erlischt der Anspruch auf eine Waisenrente mit Ablauf des Monats, in welchem ein rentenberechtigtes Pflegekind die Hausgemeinschaft verlässt (…). Kann das Pflegekind mithin lediglich solange in den Genuss einer Waisenrente kommen, als es in einer Hausgemeinschaft mit seinen Pflegeeltern lebt, muss dies auch für das Stiefkind, welches dem Pflegekind gleichgestellt ist, sowie gemäss Art. 25 Abs. 3 AHVG i.V.m. Art. 49 Abs. 1 AHVV und Art. 35 Abs. 1 IVG ebenfalls in Bezug auf eine IV-Kinderrente gelten. Triftige Gründe, um von dieser Verwaltungsweisung abzuweichen, sind weder ersichtlich noch werden sie vom Beschwerdeführer geltend gemacht (vgl. BGE 132 V 121 E. 4.4).

3.2.3.

Dieser Schluss rechtfertigt sich zudem mit Blick auf das Schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB; SR 210). Art. 278 Abs. 2 ZGB statuiert, dass jeder Ehegatte dem andern in Erfüllung der Unterhaltspflicht gegenüber vorehelichen Kindern in angemessener Weise beizustehen hat. Dabei handelt es sich um eine ehetypische Bestimmung, welche die eheliche Beistandspflicht des Stiefelternteils und die gemeinsame Unterhaltspflicht auch in der Stieffamilie konkretisiert, aber nicht dem Stiefkind einen direkten Unterhaltsanspruch gegenüber dem Stiefelternteil verschafft. Die Unterhaltspflicht der leiblichen Eltern gegenüber dem Kind geht der Beistandspflicht des Stiefelternteils gegenüber seinem Gatten vor (Breitschmied, Basler Komm., 5. Aufl. 2014, Art. 278 ZGB N 4 und 5). Befindet sich das Stiefkind ausserhalb der Hausgemeinschaft des Stiefelternteils, hat der leibliche Elternteil statt Betreuung Geldbeträge zu entrichten. Diese bleiben persönliche Schulden, sind aber bei der Berücksichtigung seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit im Rahmen von Art. 163 Abs. 2 ZGB gegenüber seinem Gatten zu berücksichtigen. Dessen Beistand als Stiefelternteil besteht alsdann in der Tragung eines entsprechend höheren Anteils an den Kosten des gemeinsamen Haushalts (Breitschmied, a.a.O., Art. 278 ZGB N 12). Der Stiefelternteil hat mithin keine Pflicht, sich an den Kosten des sich ausserhalb der Hausgemeinschaft befindenden Stiefkinds zu beteiligen. Hierfür sind vielmehr die leiblichen Eltern leistungspflichtig.

3.2.4.

Berücksichtigt man überdies den Sinn und Zweck der Waisen- bzw. IV-Kinderrente (vgl. E. 3.1 hievor), so kommt entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers dem Kriterium, ob sich das Stiefkind tatsächlich in einer Hausgemeinschaft mit dem rentenberechtigten Stiefelternteil befindet, entscheidende Bedeutung zu. Denn nur wenn dies zutrifft, hat der Stiefelternteil auch entsprechend Kosten für den Unterhalt des Stiefkindes (mit) zu tragen. Diesfalls trägt die IV-Kinderrente erleichternd dazu bei, dass er seinen Unterhaltspflichten im Rahmen der Hausgemeinschaft nachkommen kann. Lebt das Stiefkind hingegen ausserhalb der Hausgemeinschaft, ist der Stiefelternteil nicht mehr in gleichem Umfang belastet, wie vorstehend dargelegt wurde. Daran vermag auch der Einwand des Beschwerdeführers, wonach er weiterhin die Ausbildungskosten für seine Stieftochter trage und auch zu tragen habe, nichts zu ändern. Dass er tatsächlich für die Kosten aufkommt, geht weder aus den Akten hervor noch wurde es von ihm in irgendeiner Weise belegt. In gleichem Sinn entschieden hat im Übrigen auch das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil C-4157/2015 vom 2. Juni 2016. Eine Ungleichbehandlung, wie sie der Beschwerdeführer bemängelt, ist damit sachlich begründet.

3.3.

Ob die Stieftochter ihren Wohnsitz tatsächlich von Z ins Ausland verlegt hat, muss nicht abschliessend beurteilt werden. Denn zu berücksichtigen ist Folgendes:

Pflegekinder haben beim Tod der Pflegeeltern Anspruch auf eine Waisenrente nach Art. 25 AHVG, wenn sie unentgeltlich zu dauernder Pflege und Erziehung aufgenommen worden sind. Die Voraussetzungen für die Ausrichtung von Kinderrenten an ein Pflegekind bzw. vorliegend ein Stiefkind sind demnach dreifacher Natur: Aufnahme des Kindes, Unentgeltlichkeit sowie dauernde Pflege und Erziehung. Die Aufnahme zu dauernder Pflege und Erziehung beinhaltet einerseits ein zeitliches Moment, andererseits ein finanzielles und erzieherisches Engagement (Urteil des Verwaltungsgerichts Luzern S 10 485 vom 14.4.2011 E. 1 und 2c). Da sich die Stieftochter in Thailand in Ausbildung befindet, wird das zeitliche Moment hinsichtlich Gewährung der dauernden Pflege und Erziehung beeinträchtigt. Der Beschwerdeführer kann dadurch seinen Obhutspflichten als Stiefvater nicht nachkommen. Die dauernde Pflege und Erziehung ist nicht gewährleistet und diese gesetzliche Voraussetzung somit nicht erfüllt. Gleiches ist der RWL zu entnehmen. Das Pflegeverhältnis muss ununterbrochen vorhanden sein (Rz. 3316 RWL) und es darf nicht nur für bestimmte Zeit aufgenommen werden (Rz. 3315 RWL).

3.4.

Nach dem Gesagten hat die IV-Stelle zu Recht den Anspruch auf eine Kinderrente der Invalidenversicherung verneint. Die Einwände des Beschwerdeführers zielen allesamt ins Leere. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde erweist sich daher als unbegründet und ist abzuweisen.