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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Justiz- und Sicherheitsdepartement
Abteilung:-
Rechtsgebiet:Ausländerrecht
Entscheiddatum:16.01.2017
Fallnummer:JSD 2017 4
LGVE:2017 VI Nr. 4
Gesetzesartikel:Art. 30 Abs. 1 lit. b AuG, Art. 50 Abs. 1 lit. b AuG, Art 77 VZAE
Leitsatz:Häusliche Gewalt in einer Konkubinatsbeziehung kann unter Umständen Grundlage für eine Verlängerung einer Aufenthaltsbewilligung bilden.
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:Aus den Erwägungen:

(…)

2. Aufgrund des gemeinsamen Kindes (Beschwerdeführer B) mit dem in der Schweiz niedergelassenen Kindsvater erhielt die Beschwerdeführerin A eine Aufenthaltsbewilligung nach Art. 30 Abs. 1 litera b des Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer vom 16. Dezember 2005 (AuG SR 142.20) in Verbindung mit Art. 31 der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit vom 24. Oktober 2007 (VZAE SR 142.201) zum Zusammenleben im Konkubinat in der Schweiz. A und der Kindsvater, welcher über eine Niederlassungsbewilligung verfügt, sind nicht verheiratet. Weil die A daher über das alleinige Sorgerecht verfügt (Art. 298a Abs. 5 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches vom 10.12.1907 [ZGB; SR 210]), erhielt der B ebenfalls bloss eine Aufenthaltsbewilligung (vgl. auch Weisungen und Erläuterungen des Staatssekretariats für Migration SEM zum Ausländerbereich vom 25.10.2013 [Stand 25.11.2016] Ziff. 6.1.2).

3. Gemäss einem Schreiben des Frauenhauses Luzern vom 13. Mai 2015 ist A – zusammen mit B – Anfang Mai 2015 wegen häuslicher Gewalt seitens des Kindsvaters aus der gemeinsamen Wohnung ins Frauenhaus Luzern gezogen. Seither hat sie die Familiengemeinschaft mit ihrem Konkubinatspartner nicht wieder aufgenommen.

(…)

5. A macht weiter geltend, ihr komme ein Anspruch auf Verlängerung ihrer Aufenthaltsbewilligung aus Art. 50 Abs. 1 litera b AuG in Verbindung mit Art. 31 VZAE zu.

5.1 Nach Auflösung der Ehe oder der Familiengemeinschaft besteht der Anspruch des Ehegatten und der Kinder auf Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung nach den Art. 42 und 43 weiter, wenn die Ehegemeinschaft mindestens drei Jahre bestanden hat und eine erfolgreiche Integration besteht (Art. 50 Abs. 1 lit. a AuG) oder wichtige persönliche Gründe einen weiteren Aufenthalt in der Schweiz erforderlich machen (Art. 50 Abs. 1 lit. b AuG). Wichtige persönliche Gründe nach Abs. 1 litera b können namentlich vorliegen, wenn die Ehegattin oder der Ehegatte Opfer ehelicher Gewalt wurde oder die Ehe nicht aus freiem Willen geschlossen hat oder die soziale Wiedereingliederung im Herkunftsland stark gefährdet erscheint (Art. 50 Abs. 2 AuG).

5.2 Aus Art. 50 Abs. 1 litera a AuG kann A nichts zu ihren Gunsten ableiten, wird doch im Ausland oder im Konkubinat verbrachtes Zusammenleben gerade nicht berücksichtigt (Urteil des Bundesgerichts 2C_72/2015 vom 13.8.2015 E. 2.2 mit Verweisen).

5.3 Auch kann A keinen Anspruch aus Art. 50 Abs. 1 litera b AuG ableiten, da auch hierfür ein eheliches Zusammenleben Voraussetzung wäre (vgl. dazu Urteile des Bundesgerichts 2C_20/2015 vom 21.7.2015 E. 3.1; 2C_590/2010 vom 29.11.2010 E. 2.5.3 jeweils mit Verweisen). Vorliegend bestand allerdings gar nie ein Anspruch auf Familiennachzug nach Art. 42 oder 43 AuG, sondern der Familiennachzug wurde gestützt auf Art. 30 Abs. 1 litera b AuG in Verbindung mit Art. 31 VZAE gewährt. A kann höchstens analog Art. 77 Abs. 1 litera b in Verbindung mit Abs. 2 VZAE ermessensweise wegen denselben Konstellationen wie bei Art. 50 Abs. 1 und 2 AuG eine Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung zugestanden werden.

5.4 A bringt unter anderem vor, dass sie aufgrund der erlebten häuslichen Gewalt seitens des Kindsvaters, welche mehrheitlich psychisch war, in zwei Fällen aber auch physisch stattgefunden hat, zusammen mit B aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen ist.

5.5 Häusliche Gewalt bedeutet systematische Misshandlung mit dem Ziel, Macht und Kontrolle auszuüben (Urteil des Bundesgerichts 2C_765/2013 vom 2.6.2014 E. 3.2 mit Verweisen). Eine ermessensweise Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung analog Art. 77 Abs. 1 litera b in Verbindung mit Abs. 2 VZAE wird nicht bereits durch eine einmalige tätliche Auseinandersetzung begründet; auch nicht, wenn in deren Folge der Ausländer in psychischem Ausnahmezustand und mit mehreren Kratzspuren im Gesicht einen Arzt aufsucht, zumal wenn anschliessend eine Wiederannäherung der Eheleute stattfindet. Das Gleiche gilt, wenn der Ehepartner den Ausländer nach einem Streit aus der Wohnung weist, ohne dass das Opfer körperliche oder psychische Schäden erleidet. Die physische oder psychische Zwangsausübung und deren Auswirkungen müssen vielmehr von einer gewissen Konstanz bzw. Intensität sein (vgl. hierzu Urteil des Bundesgerichts 2C_765/2013 vom 2.6.2014 E. 3.2 mit Verweis).

5.6 Auch wenn eheliche Gewalt in den wenigsten Fällen direkt bewiesen werden kann, trifft die ausländische Person bei der Feststellung des entsprechenden Sachverhalts eine weitreichende Mitwirkungspflicht. Sie muss die eheliche Gewalt bzw. die psychische Beeinträchtigung in geeigneter Weise – etwa durch Arztberichte oder psychiatrische Gutachten, Polizeirapporte, Berichte/Einschätzungen von Fachstellen (Frauenhäuser, Opferhilfe usw.), glaubwürdige Zeugenaussagen von weiteren Angehörigen oder Nachbarn usw. – glaubhaft machen (Art. 77 Abs. 5, 6 und 6bis VZAE; vgl. auch Weisungen und Erläuterungen des Staatssekretariats für Migration SEM zum Ausländerbereich vom 25.10.2013 [Stand 25.11.2016] Ziff. 6.15.3.4).

5.7 In den Akten findet sich ein Schreiben des Frauenhauses Luzern vom 13. Mai 2015, aus welchem hervorgeht, dass die Beschwerdeführer anfangs Mai 2015 für zwei Wochen im Frauenhaus Luzern lebten, da A von ihrem Konkubinatspartner geschlagen und unter Druck gesetzt worden sei. Aus dem erwähnten Entscheid der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde der Stadt Luzern vom 21. Juli 2015 geht ebenfalls hervor, dass ein Zusammenleben mit dem Kindsvater schwierig gewesen sei. Zwar habe körperliche Gewalt nicht im Vordergrund gestanden. Einmal sei A allerdings vom Konkubinatspartner gegen den Kopf geschlagen worden, als sie ihm, auf seine Aufforderung hin, den Kaffee nicht gleich gebracht habe. Ein anderes Mal habe er einen Teller gegen ihren Kopf geschlagen, da er das Essen, das sie gekocht habe, nicht gemocht habe. Weiter habe A das Haus nicht verlassen dürfen, und sie sei unter grossem Druck gestanden. Auch Fachpersonen bestätigen, dass der Konkubinatspartner grossen Druck auf A ausübe. So habe sie ihre persönlichen Dinge nicht selber aus der Wohnung abholen können, sondern die Polizei damit beauftragen müssen.

6. Ebenfalls kann aufgrund einer Gefährdung der sozialen Wiedereingliederung im Herkunftsland analog Art.77 Abs.1 litera b in Verbindung mit Abs. 2 die Aufenthaltsbewilligung ermessensweise verlängert werden.

Diesbezüglich geht aus den Akten hervor, dass A zwar kroatische Staatsangehörige ist, im Alter von zwölf Jahren jedoch mit ihrer Familie nach Serbien geflüchtet ist. Es ist des Weiteren davon auszugehen, dass sie seit dem 5. Februar 2005 ohne geregelten Aufenthalt (und damit illegal) beim Kindsvater in der Schweiz gelebt hat. Ein illegaler Aufenthalt soll zwar grundsätzlich nicht belohnt werden und ihr wurde erst per 28. April 2013 eine Aufenthaltsbewilligung im Rahmen eines Härtefalles aufgrund des Konkubinats erteilt. Die Eltern und der Bruder von A leben nach wie vor in Serbien. Sie sind allerdings finanziell nicht in der Lage, die alleinerziehende A und ihren Sohn zu unterstützen. A hat sodann nie eine Ausbildung gemacht, sondern unterstützte während ihres (teilweise illegalen) Aufenthalts in der Schweiz ihren Konkubinatspartner, welcher selbständig erwerbstätig ist. Dieser kam im Gegenzug bis zur Trennung für die Lebensunterhaltskosten der Beschwerdeführer auf. Es ist unter diesen Umständen glaubwürdig, dass A in ihrem Heimatland Kroatien keine sozialen Kontakte mehr pflegt, und auch eine soziale Wiedereingliederung in Serbien, wo sie bis zu ihrem (illegalen) Aufenthalt in der Schweiz als Flüchtling gelebt hat, stark gefährdet erscheint.

7. Allenfalls würden die vorgebrachten wichtigen Gründe, nämlich die erlebte häusliche Gewalt, die stark gefährdete soziale Wiedereingliederung im Herkunftsland sowie das Besuchsrecht des Kindsvaters gegenüber B je für sich alleine noch nicht ausreichen, um ermessensweise einen Härtefall anzunehmen. Aufgrund der Gesamtumstände und in Kumulierung der wichtigen Gründe kann vorliegend jedoch von einem Härtefall ausgegangen werden.

(…)

9. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass den Beschwerdeführern zwar keinerlei Anspruch auf Verlängerung ihrer Aufenthaltsbewilligungen zukommt. Allerdings ist A aufgrund der erlittenen häuslichen Gewalt sowie der stark gefährdeten sozialen Wiedereingliederung im Herkunftsland analog Art. 77 Abs. 1 litera b in Verbindung mit Abs. 2 VZAE ermessensweise ihre Aufenthaltsbewilligung zu verlängern. Ebenso ist die Aufenthaltsbewilligung von B zu verlängern, leiten doch minderjährige Kinder ausländischer Personen ihr Aufenthaltsrecht regelmässig von ihrem sorgeberechtigten Elternteil ab. Darüber hinaus soll der B das Besuchsrecht zu seinem Vater aufrechterhalten können, wobei dieser Grund angesichts dessen, dass der Kindsvater keine Alimente leistet, wie gesagt, nicht ausschlaggebend ist. Damit überwiegen die privaten Interessen der Beschwerdeführer an einem Verbleib in der Schweiz die öffentlichen Interessen an deren Entfernung derzeit (knapp). Sollte A die ihr damit eingeräumte Chance nicht zu nutzen wissen und nicht alles ihr Zumutbare tun, um sich von der wirtschaftlichen Sozialhilfe zu lösen, wäre zu einem späteren Zeitpunkt gegebenenfalls der Widerruf der Aufenthaltsbewilligung oder deren Nichtverlängerung zu prüfen.

10. Nach dem Gesagten ist die Verwaltungsbeschwerde vom 9. September 2016 gutzuheissen, und die angefochtene Verfügung ist aufzuheben. (…)