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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Regierungsrat
Abteilung:-
Rechtsgebiet:Volksrechte
Entscheiddatum:26.09.2017
Fallnummer:RRE Nr. 1039
LGVE:2017 VI Nr. 8
Gesetzesartikel:Art. 34 BV, § 145 Abs. 2f StRG, § 6 Abs. 3, § 48 Abs. 6, § 68 Abs. 4 FHGG
Leitsatz:Das kantonale Gesetz bestimmt das Eigenkapital der Bilanz einer Gemeinde, das beachtlich ist für die Frage, ab wann eine Abtragungspflicht für negative Jahresergebnisse vorzunehmen ist. Die Neubewertungsreserven sind von Gesetzes wegen in den Bilanzüberschuss oder -fehlbetrag zu überführen und sind damit Teil des massgeblichen Eigenkapitals. Für eine individuelle Begriffsdefinition in der Gemeindeordnung besteht kein Raum, weshalb ein entsprechendes Initiativbegehren gegen übergeordnetes Recht verstösst.

Eine Initiative ist nicht als Ganzes für ungültig zu erklären, sofern vernünftigerweise anzunehmen ist, die Unterzeichner der Initiative hätten den gültigen Teil auch unterzeichnet, wenn er ihnen allein unterbreitet worden wäre. Dies ist dann der Fall, wenn der verbleibende Teil der Initiative nicht von untergeordneter Bedeutung ist, sondern noch ein sinnvolles Ganzes im Sinne der ursprünglichen Stossrichtung ergibt, so dass die Initiative nicht ihres wesentlichen Gehaltes beraubt wird.

Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:Eine Gemeindeinitiative enthielt folgendes Begehren um Ergänzung von § 46 der Gemeindeordnung:

3 Ein Aufwandüberschuss im Voranschlag/Budget kann nur budgetiert werden, wenn dafür noch ein entsprechendes Eigenkapital, welches aus einem ordentlichen Jahresabschluss geäufnet wurde, vorhanden ist.

4 Neubewertungsreserven gehören nicht zum ordentlichen Eigenkapital. Werden die Neubewertungsreserven auf das ordentliche Eigenkapital übertragen, sind diese für die Berechnung des ordentlichen Eigenkapitals abzuziehen oder in einem separaten Konto zu führen.

5 Sofern ein Aufwandüberschuss im Rechnungsabschluss nicht mit einem allfälligen ordentlichen Eigenkapital belastet werden kann, ist es zu aktivieren und längstens innert 4 Jahren mittels linearer Abschreibung zu tilgen.

6 Die entsprechende Tilgung ist jeweils ins Budget einzustellen.


Der Einwohnerrat erklärte die Initiative in Bezug auf die beantragte Änderung von Art. 46 Abs. 4 der Gemeindeordnung für ungültig, da diese übergeordnetem (kantonalem) Recht widerspreche. Im Übrigen lehnte er die Initiative ab.


Aus den Erwägungen:

(…)

4.1. Gemäss § 145 Abs. 1 des Stimmrechtsgesetzes vom 25. Oktober 1988 (StRG; SRL Nr. 10) ist ein Volksbegehren ungültig, wenn es rechtswidrig oder eindeutig undurchführbar ist. Ein Volksbegehren ist namentlich rechtswidrig, wenn der verlangte Beschluss gegen übergeordnetes Recht verstösst (§ 145 Abs. 2f StRG).

(…)

5.1. Streitig ist, ob sich die Bestimmung nach § 46 Abs. 4 mit dem höherrangigen kantonalen Recht in Einklang bringen lässt. Die Vorinstanz geht davon aus, dass diese Bestimmung § 68 Abs. 4 des Gesetzes über den Finanzhaushalt der Gemeinden vom 20. Juni 2016 (FHGG, SRL Nr. 160) widerspricht.

5.2. Nach § 76 der Kantonsverfassung vom 17. Juni 2007 verwenden Kanton und Gemeinden die öffentlichen Mittel wirtschaftlich und wirksam. Das Gesetz stellt sicher, dass die Fi-nanzhaushalte von Kanton und Gemeinden ausgeglichen sind und allfällige Fehlbeträge innert einer angemessenen Frist abgetragen werden. Die Finanzhaushalte sind unabhängig und fachkundig zu prüfen. Für die Luzerner Gemeinden wird diesen Grundsätzen neu mit dem Gesetz über den Finanzhaushalt der Gemeinden (FHGG) nachgekommen, welches am 1. Januar 2018 in Kraft tritt. Das Gesetz regelt die Steuerung der Finanzen und der Leistungen, die Ausgaben und deren Bewilligung sowie die Rechnungslegung der Gemeinden (§ 1 FHGG). Im Rahmen der Umstellung auf das harmonisierte Rechnungsmodell 2 (HRM2) haben die Gemeinden für die Jahresrechnung 2019 bis zum 30. Juni 2019 eine angepasste Eröffnungsbilanz per 1. Januar 2019 zu erstellen (§ 68 Abs. 3 FHGG). Das FHGG sieht dazu in den Schlussbestimmungen unter anderem eine Neubewertung des Finanzvermögens vor. Das Finanzvermögen ist nach den Verkehrswerten zu bewerten (§ 68 Abs. 1a FHGG). Die entsprechenden Wertveränderungen («Neubewertungsreserven») sind dem Eigenkapital zuzuweisen (§ 68 Abs. 2a FHGG). Die Neubewertungsreserve wird per 1. Januar 2019 erfolgsneutral in den Bilanzüberschuss oder -fehlbetrag übergeführt (§ 68 Abs. 4 FHGG).

5.3 Nach dem Vorschlag in der Initiative sollen die Neubewertungsreserven, welche durch die Umstellung auf HRM2 resultieren, in die Beurteilung, ob ein negativer Saldo der kumulierten Ergebnisse der Vorjahre entsteht, nicht einbezogen werden. Die Neubewertungsreserven sollen im Sinn einer «eisernen Reserve» unantastbar bleiben. Die Initiative definiert dazu eine eigene Art von Eigenkapital, das «ordentliche» Eigenkapital, in dem die Neubewertungsreserven nicht enthalten sind (§ 46 Abs. 4). Der Aufwandüberschuss muss gemäss Wortlaut der Initiative (§ 46 Abs. 5) durch dieses «ordentliche» Eigenkapital belastet werden können. Aufgrund des engen Zusammenhanges von Absatz 4 (Grundsatz) und 5 (Anwendungsfall) des Initiativbegehrens stellt sich die Frage, ob beide Absätze überhaupt unabhängig voneinander beurteilt werden können. Auf diese Frage ist am Schluss nochmals zurückzukommen.

(…)

6. Die Neubewertungsreserven sind von Gesetzes wegen Bestandteil des Bilanzüberschusses oder -fehlbetrags im Eigenkapital (§ 68 Abs. 4 FHGG). Das massgebende Eigenkapital ist kantonalgesetzlich definiert (§ 48 Abs. 6 FHGG). Daher können die Neubewertungsreserven bei der Verrechnung des negativen Jahresergebnisses mit den kumulierten Ergebnissen des Vorjahres und beim Entscheid, ob es nach den gesetzlichen Bestimmungen abgetragen werden muss (§ 6 Abs. 3 FHGG), nicht weggelassen werden. Die Neubewertungsreserven sind zum «kumulierten Ergebnis der Vorjahre» hinzuzuzählen. In diesem Sinn schreibt das kantonale Recht auch vor, dass ein Bilanzfehlbetrag durch eine zusätzliche Überführung von Aufwertungsreserven in dieser Höhe eliminiert werden muss, wenn ein solcher nach der Überführung der Neubewertungsreserve ins Eigenkapital per 1. Januar 2019 immer noch bestehen sollte (vgl. § 68 Abs. 5 FHGG). Diese Vorgaben sind für die Gemeinden verbindlich.

6.1 Ein Ziel des neuen Finanzhaushaltsgesetzes war es, das Finanzvermögen zu seinem richtigen Wert zu bilanzieren (True-and fair view-Prinzip). Die Folge ist, dass stille Reserven eliminiert werden und dass in den meisten Gemeinden das Eigenkapital einen Zuwachs erfährt. Allerdings steht den Gemeinden nicht mehr Geld zur Verfügung, denn das Eigenkapital ist in der Infrastruktur des Gemeinwesens gebunden (vgl. Botschaft zum Gesetz über den Finanzhaushalt der Gemeinden vom 22. September 2015 [B14-2015], S. 22, Handbuch zum FHGG, Kap. 6.1.1.1). Damit lässt sich das Anliegen der Initianten erklären, die Neubewertungsreserven schützen zu wollen und diese für die Frage, ab wann eine Abtragungspflicht eines Bilanzfehlbetrages entsteht, nicht mitzuberücksichtigen. Rechtlich ist dieses Vorgehen aber – wie erläutert – nicht zulässig. Die Neubewertungsreserven müssen mitberücksichtigt werden. Das kantonale Gesetz gibt vor, was zum beachtlichen Eigenkapital gehört und ab welchem Zeitpunkt und wie – nämlich durch Abtragung mittels positiven Jahresergebnissen (d.h. es müssen entsprechende Ertragsüberschüsse in der Erfolgsrechnung budgetiert werden) – ein negatives kumuliertes Ergebnis der Vorjahre abgetragen werden muss. Es lässt den Gemeinden einzig bei der Abtragungsdauer einen Spielraum, indem es eine maximale Frist von sechs Jahren vorsieht (vgl. Botschaft B14-2015, S. 21). Nicht zulässig ist es, statt der eben beschriebenen Abtragung eine Abschreibung vorzusehen und zusätzlich zu den kantonal vorgegebenen Abschreibungen eigene Abschreibungsregeln einzuführen (Handbuch zum FHGG, Kap. 4.2.3.17.4, S. 6, und Kap. 4.2.4.3.2). Eine einheitliche Begriffsdefinition und Rechnungsweise im Haushaltsrecht dient der Vergleichbarkeit unter den Gemeinden. Daher besteht kein Raum für individuelle Begriffsbestimmungen oder Berechnungsgrundlagen. Das Konstrukt des «ordentlichen Eigenkapitals» (das heisst eines um die Neubewertungsreserven gekürztes Eigenkapitals), so wie es die Initiative vorsieht und mit dem in Zukunft in der Gemeinde die Frage entschieden werden soll, ab wann Abtragungen nötig sind, verstösst somit gegen kantonales Recht. Da die vorliegende Initiative ausformuliert ist, gibt es keinen Spielraum, die Formulierung so anzupassen oder auszulegen, dass sie nicht mehr gegen übergeordnetes Recht verstösst. Die Initiativbestimmung zu § 46 Abs. 4 wurde daher zu Recht für ungültig erklärt.

6.2 Die Initianten rügen, dass ihre Initiative ohne Abs. 4 ihren wesentlichen Inhalt verlöre.

6.2.1 Nach der Rechtsprechung gebietet der Grundsatz der Verhältnismässigkeit, die Initiative nicht als Ganzes für ungültig zu erklären, sofern vernünftigerweise anzunehmen ist, die Unterzeichner der Initiative hätten den gültigen Teil auch unterzeichnet, wenn er ihnen allein unterbreitet worden wäre. Dies ist dann der Fall, wenn der verbleibende Teil der Initiative nicht von untergeordneter Bedeutung ist, sondern noch ein sinnvolles Ganzes im Sinn der ursprünglichen Stossrichtung ergibt, so dass die Initiative nicht ihres wesentlichen Gehaltes beraubt wird. Obwohl demnach der Initiantenwille nicht allein für die Interpretation eines Volksbegehrens massgeblich ist, muss das durch Auslegung ermittelte Verständnis des Volksbegehrens doch mit der grundsätzlichen Stossrichtung der Initiative vereinbar bleiben. Die Gültigkeit einer solchen Initiative lässt sich nicht dadurch erreichen, dass ihr ein Gehalt beigemessen wird, der dem Grundanliegen der Initianten nicht mehr entspricht, so wie dieses auch von den die Initiative unterzeichnenden Stimmberechtigten verstanden werden durfte. Schon vor einiger Zeit hielt das Bundesgericht fest, durch die Auslegung des Initiativtextes dürfe die Natur des Volksbegehrens nicht tiefgreifend verändert werden, weil dadurch der im Initiativbegehren zum Ausdruck kommende Wille der Unterzeichner in unzulässiger Weise verfälscht würde; eine nachträgliche Umdeutung einer Initiative, die dem ursprünglichen Textverständnis und den dadurch geweckten Erwartungen zuwiderlaufe, sei abzulehnen (BGE 139 I 292 E. 7.2.3 f. mit Hinweisen).

6.2.2 Unter Berücksichtigung der vorliegenden Erwägungen und der Rechtsprechung zur Teilungültigkeit von Initiativen stellt sich die Frage, wie weit die verbleibenden Bestimmungen der Initiative den Stimmberechtigten noch zur Abstimmung unterbreitet werden dürfen bzw. ob ein sinnvolles Ganzes im Sinn der ursprünglichen Stossrichtung übrig bleibt. Mit dem Wegfall von Absatz 4 des Initiativtextes entfällt die Definition des «ordentlichen Eigenkapitals» samt der gegen kantonales Recht verstossenden Regelung über die Behandlung der Neubewertungsreserven. Absatz 5, der auf diesen Begriff zurückgreift, erscheint dadurch, wie von den Beschwerdeführern geltend gemacht, in der Tat als sinnentleert und keiner Anwendung mehr zugänglich. Dasselbe gilt für Absatz 6, der sich wiederum auf Absatz 5 bezieht. Dass der damit noch verbleibende Absatz 3 des Initiativtextes im Sinn der bundesgerichtlichen Rechtsprechung «noch ein sinnvolles Ganzes im Sinn der ursprünglichen Stossrichtung der Initiative ergibt», ist zudem ebenfalls zu hinterfragen. Angesichts dieser Ausgangslage ist es angezeigt, dass der Regierungsrat in seiner Funktion als Aufsichtsbehörde im Stimmrechts- und im Gemeindewesen (vgl. § 147 StRG und § 104 Abs. 1 GG) in den weiteren Ablauf des Geschehens eingreift, indem er die Vorinstanz anweist, auf ihren Beschluss zurückzukommen und nochmals zu prüfen, ob und in welchem Umfang der nach dem Wegfall von Absatz 4 noch verbleibende Teil der Initiative für gültig erklärt werden soll.