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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:2. Abteilung
Rechtsgebiet:Strafvollzug
Entscheiddatum:02.03.2018
Fallnummer:4H 17 20
LGVE:2018 II Nr. 3
Gesetzesartikel:Art. 77a StGB.
Leitsatz:Bei der Beurteilung, ob die Voraussetzungen für das Arbeitsexternat gegeben sind, hat die Behörde nicht nur das kantonale Recht zu beachten, sondern bei der Rechtsfindung hilfsweise auch die Richtlinien des Strafvollzugskonkordats der Nordwest- und Innerschweiz heranzuziehen.
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:Aus den Erwägungen:

2.1.
Unter der Marginalie "Vollzug von Freiheitsstrafen / Arbeitsexternat und Wohnexternat" bestimmt Art. 77a des Schweizerischen Strafgesetzbuchs (StGB; SR 311.0), dass die Freiheitsstrafe in der Form des Arbeitsexternats vollzogen wird, wenn der Gefangene einen Teil der Freiheitsstrafe, in der Regel mindestens die Hälfte, verbüsst hat und nicht zu erwarten ist, dass er flieht oder weitere Straftaten begeht (Abs. 1). Im Arbeitsexternat arbeitet der Gefangene ausserhalb der Anstalt und verbringt die Ruhe- und Freizeit in der Anstalt. Der Wechsel ins Arbeitsexternat erfolgt in der Regel nach einem Aufenthalt von angemessener Dauer in einer offenen Anstalt oder der offenen Abteilung einer geschlossenen Anstalt. Als Arbeiten ausserhalb der Anstalt gelten auch Hausarbeit und Kinderbetreuung (Abs. 2).

2.2.
(…)

2.3.
(…)

2.4.
§ 29 Abs. 3 der Verordnung über den Justizvollzug (JVV; SRL Nr. 327) bestimmt, dass für die Voraussetzungen, Entscheidungskompetenzen und Rahmenbedingungen des Arbeitsexternats die Richtlinien des Strafvollzugskonkordats gelten. Die systematische Sammlung der Erlasse und Dokumente (SSED) des Strafvollzugskonkordats der Nordwest- und Innerschweiz (nachfolgend Konkordat) enthält u.a. eine Richtlinie der Konkordatskonferenz der Nordwest- und Innerschweizer Kantone betreffend

- die externe Beschäftigung aus dem Normalvollzug von eingewiesenen Personen
- den Vollzug des Arbeitsexternats und des Wohn- und Arbeitsexternats
- die elektronische Überwachung anstelle des Arbeitsexternats oder des Wohn- und Arbeitsexternats (EM-Backdoor)

vom 3. November 2017 (SSED 10.0; nachfolgend Richtlinie).

In Art. 1 der Richtlinie ist festgehalten, dass die eingewiesene Person während des offenen Normalvollzugs bei einem privaten oder öffentlichen Arbeitgeber ausserhalb der Vollzugsinstitution beschäftigt werden kann, wenn Betreuung und Kontrolle gewährleistet sind (sog. externe Beschäftigung aus dem Normalvollzug). Sie bleibt während diesen Arbeitseinsätzen dem Vollzugsregime und der Disziplinargewalt der Vollzugsinstitution unterstellt und erhält ein der Arbeit und ihrer Leistung angepasstes Arbeitsentgelt. Sie muss dem Einsatz zustimmen (Abs. 1).

Das Arbeitsexternat und das Wohn- und Arbeitsexternat sind Vorstufen der (bedingten) Entlassung. Sie dienen bei längerdauernden Freiheitsentzügen der schrittweisen Eingliederung der eingewiesenen Person und sind damit Teil der Vollzugsplanung. Im Arbeitsexternat arbeitet die eingewiesene Person ausserhalb der Vollzugseinrichtung und verbringt ihre Ruhe- und Freizeit in der Vollzugseinrichtung. Bewährt sie sich im Arbeitsexternat, kann sie bei langen Strafen auch ausserhalb der Vollzugseinrichtung wohnen und dabei nötigenfalls elektronisch überwacht werden (Abs. 2).

Gemäss Art. 3 der Richtlinie kann das Arbeitsexternat bewilligt werden, wenn die eingewiesene Person den Vollzugsplan eingehalten, bei den Eingliederungsbemühungen aktiv mitgewirkt und sich als zuverlässig und absprachefähig erwiesen hat sowie wenn angenommen werden kann, dass sie nicht flieht, keine neuen Straftaten begeht und die Regelungen am Arbeitsplatz, in der Vollzugseinrichtung und in ihrer Wohnung einhält (Abs. 1). Abs. 3 des genannten Artikels hält fest, dass Ausländer, die nach der Verbüssung ihrer Strafe das Land zu verlassen haben, weder zur externen Beschäftigung noch zum Arbeitsexternat, zum Wohn- und Arbeitsexternat oder zu EM-Backdoor zugelassen werden.

Analoges ist mit Bezug auf das Arbeits- und Wohnexternat auch den Richtlinien des Ostschweizer Konkordats über die Gewährung des Arbeitsexternats und des Wohnexternats, die elektronische Überwachung anstelle des Arbeits- oder Wohnexternats (EM-Backdoor) sowie über die Beschäftigung von eingewiesenen Personen bei einem privaten Arbeitgeber vom 7. April 2006 zu entnehmen (Ziff. 3.1 Abs. 2).

2.5.
Der Vollzug von Strafen und Massnahmen obliegt gemäss Art. 123 Abs. 2 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (BV; SR 101) den Kantonen. Art. 48 BV sieht vor, dass die Kantone miteinander Verträge (sog. Konkordate) schliessen sowie gemeinsame Organisationen und Einrichtungen schaffen können. Sie können namentlich Aufgaben von regionalem Interesse gemeinsam wahrnehmen. Gestützt auf Art. 48 Abs. 4 BV sind die Kantone ermächtigt, Rechtsetzungsbefugnisse an interkantonale Organe zu übertragen. Vorausgesetzt wird dafür, dass der Vertrag nach dem gleichen Verfahren, das für die Gesetzgebung gilt, genehmigt wird und die inhaltlichen Grundzüge der Bestimmungen festlegt. Gemäss Art. 48a Abs. 1 lit. a BV könnte überdies der Bund auf Antrag interessierter Kantone interkantonale Verträge betreffend den Straf- und Massnahmenvollzug als allgemein verbindlich erklären.

Im Bereich des Straf- und Massnahmenvollzugs haben sich die Kantone in den Jahren 1956 bis 1963 mittels Konkordaten zu drei regionalen "Vollzugsgemeinschaften", den sog. Strafvollzugskonkordaten, zusammengeschlossen. Diese Konkordate dienen der Vereinheitlichung und Verbesserung des Strafvollzugs in den verschiedenen Kantonen (vgl. etwa die Präambel des Strafvollzugskonkordats der Nordwest- und Innerschweiz). Zur Erreichung dieses Zwecks ist die jeweilige Konkordatskonferenz befugt, Richtlinien zu erlassen. Die drei Konkordatsverträge sind mit Blick auf das Inkrafttreten der Revision des StGB von 2002 in den Jahren 2004 bis 2007 einer vollständigen Überarbeitung unterzogen worden (LGVE 2005 III Nr. 14 E. 3; Baechtold, Strafvollzug, Straf- und Massnahmenvollzug an Erwachsenen in der Schweiz, in: KJS 2016, S. 66). Die Konkordatsvereinbarung wurde allerdings nicht in allen Kantonen dem fakultativen Referendum unterstellt. Ferner wurden die inhaltlichen Grundzüge der Bestimmungen in den konkordatlichen Richtlinien und nicht in der Konkordatsvereinbarung selbst umschrieben. Aufgrund dieser unvollständigen materiellen Ausgestaltung der Konkordatsvereinbarung hat jedenfalls für das Konkordat der Nordwest- und Innerschweiz keine Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen stattgefunden. Die Konkordatskonferenz hat demzufolge hier keine Rechtsetzungsbefugnisse (Schärer, Konkordatliche Richtlinien: Blosse Gentlemen's Agreements oder verbindliches Strafvollzugsrecht?, in: SKZ 2012, S. 53).

Die Rechtsnatur der Richtlinien ist umstritten (weiterführend Rohner, Die Fachkommission zur Beurteilung gefährlicher Straftäter nach Art. 62d Abs. 2 StGB, Diss. Zürich 2016, N 474). Der aus vielen Sitzungen hervorgegangene und in den Richtlinien zusammengefasste Konsens unter den Akteuren der Praxis ist jedoch sehr breit abgestützt, weil die einzelnen Bestimmungen der Richtlinie gemeinsam erarbeitet und beschlossen wurden. Die konkordatlichen Richtlinien werden von den Gerichten im Sinne einer Erkenntnisquelle als Auslegungs- und Orientierungshilfe herangezogen. Eine direkte, unmittelbare Rechtswirkung kann dieses sog. "Soft Law" auf diesem Wege zwar nicht entfalten, dennoch impliziert dessen Heranziehen eine zumindest mittelbare rechtliche Bindungswirkung. Wo die kantonale Strafvollzugsnorm den Regelungsgegenstand der Sachmaterie nicht oder nicht hinreichend regelt, finden sich zahlreiche Vorbehalte und Verweise auf die konkordatlichen Richtlinien (so auch im Kanton Luzern, siehe § 29 Abs. 3 JVV: "(…) gelten die Richtlinien des Strafvollzugskonkordats"; vgl. E. 2.4). Diese Ausformulierungen bezwecken alle die Anwendbarkeit der Richtlinien (Schärer, a.a.O., S. 53 f.).

Die Richtlinien des Konkordats stossen somit aufgrund der Mitgestaltung aller betroffenen Kantone auf ein breites Interesse. Ungleich den Richtlinien und Weisungen, welche gestützt auf das Hierarchieprinzip von einer übergeordneten Behörde erlassen werden (sog. Verwaltungsverordnungen; vgl. Häfelin/Müller/Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 7. Aufl. 2016, N 81-83 a.z.F.) und ebenfalls eine einheitliche, gleichmässige und sachrichtige Praxis des Gesetzesvollzugs bezwecken, können die Richtlinien des Konkordats zwar keine analoge Wirkung entfalten, sich aufgrund ihrer umfassenden Interessenwahrnehmung und gemeinsamen Ausgestaltung aber auf den Konsens und die Gunst sämtlicher Beteiligten stützen. Im Übrigen sind die Gerichte auch an Verwaltungsverordnungen im dargelegten Sinn nicht gebunden, berücksichtigen diese bei der Entscheidfindung allerdings, soweit sie eine dem Einzelfall gerecht werdende Auslegung der massgebenden Bestimmung zulässt, weil sie nicht ohne Not von einer einheitlichen Praxis der Verwaltungsbehörden abweichen wollen (BGE 132 IV 200 E. 5.1.2, 122 V 19 E. 5a/bb; Rohner, a.a.O., N 480). Mit Blick auf Sinn und Zweck der Strafvollzugskonkordate, nämlich die Vereinheitlichung und Verbesserung des Strafvollzugs in den verschiedenen Kantonen, und die konkreten Verhältnisse, insbesondere die ausländerrechtliche Situation des Beschwerdeführers, erscheint es vorliegend als folgerichtig, dass die Vollzugsbehörden an die Beschlüsse und Richtlinien entsprechend dem Zweck des Konkordats gebunden sind und diese konsequent zu vollziehen haben (vgl. LGVE 2005 III Nr. 14 E. 3).

Bei der Beurteilung, ob die Voraussetzungen für das Arbeitsexternat gegeben sind, hat die Behörde somit nicht nur das kantonale Recht zu beachten, sondern bei der Rechtsfindung hilfsweise auch die Richtlinien des Strafvollzugskonkordats der Nordwest- und Innerschweiz heranzuziehen (vgl. LGVE 2005 III Nr. 14 E. 3). Dies umso mehr, als auch § 29 Abs. 3 JVV das Konkordat bzw. dessen Richtlinien – zumindest implizit – als verbindlich erklärt, was auch vom Beschwerdeführer nicht bestritten wird.