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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:2. Abteilung
Rechtsgebiet:Zivilrecht
Entscheiddatum:28.06.2018
Fallnummer:3B 17 46
LGVE:2018 II Nr. 4
Gesetzesartikel:Art. 296 Abs. 2 ZGB, Art. 298 Abs. 2ter ZGB.
Leitsatz:Leisten beide Elternteile einen Beitrag an die Betreuung der Kinder, der jenen während gerichtsüblicher Besuchswochenenden in zeitlichem Umfang signifikant übersteigt, entspricht diese Regelung per se einer alternierenden Obhut. Der Feststellung im Rechtsspruch des Eheschutz- oder Scheidungsurteils, wonach sich die Kinder in der alternierenden Obhut beider Elternteile befänden, kommt in solchen Konstellationen rein deklaratorische Bedeutung zu.
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:Die Parteien heirateten 1998. Ihrer Ehe entsprossen zwei Kinder, A (geb. 2004) und B (geb. 2007). Mit Eheschutzgesuch vom 27. September 2016 beantragte der Gesuchsteller dem Bezirksgericht Z, die beiden Kinder seien für die Dauer des Getrenntlebens in seine alleinige Obhut zu geben – unter Einräumung eines gerichtsüblichen Besuchsrechts an die Gesuchsgegnerin betreffend A sowie eines ausgedehnten Besuchsrechts betreffend B. Die Gesuchsgegnerin erklärte sich in ihrer Stellungnahme damit einverstanden, dass A für die Dauer des Getrenntlebens in die Obhut des Gesuchstellers gegeben werde, verlangte jedoch, dass B unter ihre Obhut zu stellen sei. Zudem sei für beide Kinder eine ungefähr hälftige Betreuung durch beide Parteien vorzusehen. Mit Entscheid vom 7. April 2017 gab der Eheschutzrichter A in die Obhut des Gesuchstellers und ordnete eine allmähliche Ausdehnung des Besuchsrechts der Gesuchsgegnerin hin zu einer fast hälftigen Betreuung an. Die Obhut für B teilte er der Gesuchsgegnerin zu und verfügte eine annähernd hälftige Betreuung durch den Gesuchsteller. Gegen diesen Entscheid erhob der Gesuchsteller am 14. August 2017 Berufung beim Kantonsgericht und beantragte, B sei in die alternierende Obhut beider Parteien zu geben, wobei sie ihren Wohnsitz bei ihm haben solle.

Aus den Erwägungen:

4.3.
Haben die Eltern, die zur Regelung des Getrenntlebens das Gericht anrufen, minderjährige Kinder, trifft das Gericht gemäss Art. 176 Abs. 3 des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs (ZGB; SR 210) nach den Bestimmungen über die Wirkungen des Kindesverhältnisses die nötigen Massnahmen. Zu regeln sind namentlich die Obhut über das Kind, der persönliche Verkehr mit dem nicht obhutsberechtigten Elternteil, die Beteiligung jedes Elternteils an der Betreuung und der Kindesunterhalt. Was die Obhut betrifft, ist vorweg in Erinnerung zu rufen, dass am 1. Juli 2014 die revidierten Bestimmungen des Zivilgesetzbuchs über die elterliche Sorge in Kraft getreten sind (AS 2014 357). Neu ist die gemeinsame elterliche Sorge unabhängig vom Zivilstand der Eltern der Regelfall (Art. 296 Abs. 2 ZGB). Vom Grundsatz der gemeinsamen elterlichen Sorge soll nur dann abgewichen werden, wenn eine andere Lösung die Interessen des Kindes ausnahmsweise besser wahrt. Die Alleinzuteilung des elterlichen Sorgerechts muss daher die eng begrenzte Ausnahme bleiben (BGE 142 III 1 E. 3.3 m.H.). Von der elterlichen Sorge ist die Obhut zu unterscheiden. Unter der Herrschaft des alten Rechts bedeutete "Obhut" im Rechtssinn das Recht, den Aufenthaltsort des Kindes und die Modalitäten seiner Betreuung zu bestimmen (BGE 128 III 9 E. 4a). Im neuen Recht umfasst die elterliche Sorge auch das "Recht, den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen" (Art. 301a Abs. 1 ZGB). Die Bedeutung der "Obhut" reduziert sich – losgelöst vom Sorgerecht – auf die "faktische Obhut", das heisst auf die Befugnis zur täglichen Betreuung des Kindes und auf die Ausübung der Rechte und Pflichten im Zusammenhang mit seiner Pflege und laufenden Erziehung (BGE 142 III 612 E. 4.1 m.H.).

Auch wenn die gemeinsame elterliche Sorge nunmehr die Regel ist (Art. 296 Abs. 2 ZGB) und grundsätzlich das Recht einschliesst, den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen (Art. 301a Abs. 1 ZGB), geht damit nicht notwendigerweise die Errichtung einer alternierenden Obhut einher (BGE 142 III 612 E. 4.2). Unabhängig davon, ob sich die Eltern auf eine alternierende Obhut geeinigt haben, muss der mit dieser Frage befasste Richter prüfen, ob dieses Betreuungsmodell möglich und mit dem Wohl des Kindes vereinbar ist. Denn nach der Rechtsprechung gilt das Kindeswohl als oberste Maxime des Kindesrechts; es ist für die Regelung des Eltern-Kind-Verhältnisses demnach immer der entscheidende Faktor, während die Interessen und Wünsche der Eltern in den Hintergrund zu treten haben (BGE 142 III 612 E. 4.2, 131 III 209 E. 5). Wohl finden sich in der Kinderpsychologie verschiedene Meinungen zum Thema, die sich mehr oder weniger absolut für oder gegen dieses Betreuungsmodell aussprechen. Allein aus kinderpsychologischen Studien lassen sich für die Beurteilung im konkreten Fall indessen kaum zuverlässige Schlüsse ziehen. Ob die alternierende Obhut überhaupt in Frage kommt und ob sie sich mit dem Kindeswohl verträgt, hängt vielmehr von den konkreten Umständen ab. Das bedeutet, dass der Richter gestützt auf festgestellte Tatsachen der Gegenwart und der Vergangenheit eine sachverhaltsbasierte Prognose darüber zu stellen hat, ob die alternierende Obhut als Betreuungslösung aller Voraussicht nach dem Wohl des Kindes entspricht (BGE 142 III 612 E. 4.2).

Im Rahmen der Scheidung und des Eheschutzes wird den Eltern im Regelfall die gemeinsame elterliche Sorge belassen. Deren Ausübung bedeutet, dass die Eltern grundsätzlich alle Entscheidungen für ihr Kind gemeinsam treffen. Die alleinige Entscheidungskompetenz kommt einem Elternteil jedoch zu, wenn er das Kind betreut und die Angelegenheit alltäglich oder dringlich ist und der andere Elternteil nicht mit vernünftigem Aufwand zu erreichen ist (vgl. Art. 301 Abs. 1bis Ziff. 1 und 2 ZGB). Dies gilt unabhängig davon, ob die Obhut alternierend festgelegt wurde oder nur einem Elternteil zusteht: Auch der besuchsberechtigte Elternteil entscheidet während der Besuchszeiten allein über solche Belange (vgl. Schwenzer/Cottier, Basler Komm., 5. Aufl. 2014, Art. 301 ZGB N 3b). Als alltäglich gelten Entscheidungen über die Ernährung, die Bekleidung und die Freizeitgestaltung des Kindes. Nicht alltäglichen Charakter haben Angelegenheiten, die das Leben des Kindes in einschneidender Weise prägen, so etwa der Wechsel der Schule, die Konfession des Kindes, medizinische Eingriffe, die Ausübung von Hochleistungssport oder die dauerhafte Übertragung der Tagesbetreuung des Kindes auf Dritte (Schwenzer/Cottier, a.a.O., Art. 310 ZGB N 3c). Dabei sind auch die mittelfristigen Auswirkungen solcher Entscheidungen zu prüfen, insbesondere wenn sie schwer abzuändernde Effekte auf das Leben eines Kindes zeitigen oder die Betreuungszeit des anderen Elternteils tangieren. Die meisten Tätigkeiten im musikalischen oder sportlichen Bereich beeinflussen mit den damit oftmals einhergehenden Veranstaltungen wie Konzerten oder Turnieren früher oder später sehr unterschiedlich auch die Wochenendgestaltung und wirken sich dergestalt allenfalls auf die Betreuungszeit des anderen Elternteils aus. Wird mit dem Beitritt zu einem Orchester oder Sportverein erwartet, dass das Kind sich jedes Wochenende zur Verfügung stellt, bewirkt dies eine beträchtliche Behinderung der elterlichen Betreuungszeit, weshalb dafür das Einverständnis beider Elternteile notwendig ist (Hausheer/Geiser/Aebi-Müller, Das Familienrecht des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, 5. Aufl. 2014, N 17.127; Kilde, Das Verhältnis zwischen persönlichem Verkehr, Betreuung und Obhut bei gemeinsamer elterlicher Sorge, recht 2015, S. 239).

4.4.
4.4.1.
(…)

Die elterliche Obhut für B hat die Vorinstanz der Gesuchsgegnerin zugewiesen. Der Gesuchsteller wurde im Gegenzug berechtigt und verpflichtet, B in den geraden Wochen von Montag, 7.30 Uhr, bis Mittwoch, 12.00 Uhr, und in ungeraden Wochen von Montag, 7.30 Uhr, bis Mittwoch, 12.00 Uhr, und von Freitag, 18.00 Uhr, bis Montag, 7.30 Uhr, zu betreuen. Diese vom Bezirksgericht festgelegte Betreuungsregelung entspricht per se bereits einer alternierenden Obhut der Eltern mit nahezu gleichen Betreuungsanteilen. Gemäss übereinstimmender Darstellung der Parteien wird dieses Betreuungsmodell seit der Aufhebung des gemeinsamen Haushalts so praktiziert; es entspreche den Vereinbarungen der Parteien und dem Kindeswohl. Mit den von der Vorinstanz festgelegten Betreuungszeiten für B zeigt sich denn auch der Gesuchsteller explizit einverstanden. Die Meinungen der Parteien gehen lediglich darüber auseinander, ob das Bezirksgericht die mit Einverständnis der Parteien verfügte Betreuungsregelung zu Recht als alleinige Obhut der Gesuchsgegnerin für B definiert hat. Wie vorstehend erwogen (E. 4.3) hat der Begriff der Obhut seit der letzten Kindesrechtsrevision stark an Bedeutung verloren. Obschon dem Erstrichter insoweit zuzustimmen ist, als aufgrund der Aktenlage Indizien vorliegen, die an einer weitreichenden Kooperationsfähigkeit der Parteien gewisse Zweifel wecken, ändert sich nichts an der von ihm bestätigten, von den Parteien einvernehmlich vereinbarten Betreuungslösung. Selbst wenn diese als "alleinige Obhut der Gesuchsgegnerin für B" betitelt würde, hätte dies nicht zur Konsequenz, dass der Gesuchsgegnerin in den von den Meinungsverschiedenheiten der Parteien geprägten Bereichen (medizinische Behandlung, Schule, Freizeit) eine alleinige Entscheidungskompetenz zukäme und B dergestalt vor jeglichen Konflikten auf der Elternebene abgeschirmt wäre. Wie bereits erwähnt, ist die alleinige Entscheidungskompetenz der Eltern von Gesetzes wegen a priori eingeschränkt (vgl. Art. 301 Abs. 1bis ZGB). Gleiches gilt selbstverständlich für den Gesuchsteller: Wird B in die alternierende Obhut der Parteien gegeben, bedeutet dies nicht, dass er in den genannten Konfliktpunkten allein entscheidungsbefugt wäre. Sofern jedoch das von den Parteien seit längerer Zeit gelebte und von der Vorinstanz bestätigte Betreuungsmodell das Kindeswohl von B ernsthaft gefährden würde, müssten die Betreuungsanteile eines Elternteils signifikant vermindert werden, was wiederum zugleich zur Folge hätte, dass keine alternierende Obhut mehr vorläge. Eine solche Lösung drängt sich vorliegend indes nicht auf und wird auch von keiner Partei beantragt. Die von den Parteien im Berufungsverfahren aufgelegten E-Mails deuten vielmehr darauf hin, dass sie ernsthaft bestrebt sind, anfallende Probleme, zeitliche Überschneidungen etc. gemeinsam einvernehmlich zu lösen, und dabei bereit sind, sofern nötig auch Hilfe von Drittpersonen zu akzeptieren. Für das Kantonsgericht spricht mithin nichts dagegen, auch im Wortlaut des Rechtsspruchs des Eheschutzurteils zum Ausdruck zu bringen, dass B effektiv von beiden Parteien zu annähernd gleichen Teilen betreut wird und damit unter ihrer alternierenden Obhut steht. In diesem Sinne ist die Berufung des Gesuchstellers gutzuheissen.

4.4.2.
Der Gesuchsteller beantragt des Weiteren, dass B ihren Wohnsitz bei ihm habe. Zur Begründung macht er geltend, da er mit dem Ferienbesuchsrecht und den Feiertagen B zu mehr als 50 % betreue und die Kinder im Hinblick auf ihren Wohnsitz nicht unnötig zu trennen seien, soll B wie A ihren Wohnsitz beim Vater haben.

Die elterliche Obhut ist Anknüpfungspunkt für bestimmte Rechtswirkungen, insbesondere für die Bestimmung des zivilrechtlichen Wohnsitzes des Kinds. Lebt das Kind in alternierender Obhut mit beiden Elternteilen in häuslicher Gemeinschaft, richtet sich der Wohnsitz nach dem Ort, zu dem das Kind die engsten Beziehungen aufweist (Büchler/Clausen, FamKomm. Scheidung, 3. Aufl. 2017, Art. 298 ZGB N 12). Das Gericht kann, wenn sich die Eltern darüber nicht einigen können, bei alternierender Obhut den Aufenthaltsort des Kindes bestimmen und so den zivilrechtlichen Wohnsitz (Art. 25 Abs. 1 ZGB) festlegen (Schwenzer/Cottier, a.a.O., Art. 298 ZGB N 9).

Wie der Gesuchsteller selbst ausführt, betreut die Gesuchsgegnerin B – ohne Anrechnung der Ferien- und der Feiertage, die selbstverständlich auch ihr zuzugestehen sind – unter der Woche ein wenig mehr als er. Unter diesem Blickwinkel ist es gerechtfertigt, den Wohnsitz von B bei der Gesuchsgegnerin festzulegen, zumal der Schulort bei einem Wohnsitz an der Adresse des Gesuchstellers identisch wäre und der exakten Lage des Wohnsitzes von B innerhalb der Gemeinde Y mithin lediglich geringe Bedeutung zukommt. Der Antrag des Gesuchstellers ist insofern abzuweisen.