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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:2. Abteilung
Rechtsgebiet:Strafrecht
Entscheiddatum:20.01.2020
Fallnummer:4M 19 43
LGVE:2020 II Nr. 6
Gesetzesartikel:Art. 220 StGB.
Leitsatz:Wer als sorgeberechtigter Elternteil verhindert, dass der andere sorgeberechtigte Elternteil das Kind im Rahmen eines Besuchsrechts oder einer alternierenden Obhut betreut, macht sich grundsätzlich nicht wegen Entziehens von Minderjährigen strafbar.
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:Aus den Erwägungen:
3.2.1
Wer eine minderjährige Person dem Inhaber des Rechts zur Bestimmung des Aufenthaltsorts entzieht oder sich weigert, sie ihm zurückzugeben, wird, auf Antrag, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft (Art. 220 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs [StGB; SR 311.0]).

Die Rechtsfrage, ob sich ein Elternteil, der die elterliche Sorge – allenfalls gemeinsam mit dem anderen Elternteil – ausübt, durch eine Vereitelung des Besuchsrechts nach Art. 220 StGB strafbar machen kann, wird in Lehre und Rechtsprechung seit geraumer Zeit kontrovers diskutiert.

Von Art. 220 StGB geschütztes Rechtsgut ist das Aufenthaltsbestimmungsrecht als Teilgehalt der elterlichen Sorge, das heisst die Befugnis, den Aufenthaltsort des Kindes sowie die Art und Weise der Unterbringung zu bestimmen (BGE 141 IV 205 E. 5.3.1; Eckert, Basler Komm., 4. Aufl. 2019, Art. 220 StGB N 5). Art. 220 StGB schützt mithin jene Person, die über den Aufenthaltsort des Kindes bestimmen darf. Wer dies im Einzelfall ist, ergibt sich aus dem Zivilrecht. Gemäss Art. 301a Abs. 1 des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs (ZGB; SR 210) schliesst die elterliche Sorge das Aufenthaltsbestimmungsrecht mit ein (vgl. BGE 141 IV 205 E. 5.3.1; Eckert, a.a.O., Art. 220 StGB N 5). Nach dem aktuell geltenden Recht gilt nunmehr unabhängig vom Zivilstand der Eltern die gemeinsame elterliche Sorge als Regelfall, wobei das Aufenthaltsbestimmungsrecht untrennbar mit ihr verbunden ist, weshalb die Zuweisung des Rechts zur Bestimmung des Aufenthalts des Kindes an einen Elternteil bei gemeinsamer Sorge nicht mehr möglich ist (Eckert, a.a.O., Art. 220 StGB N 10a). Möglich ist im Kontext der gemeinsamen Sorge jedoch die Zuweisung der faktischen Obhut, welche die häusliche Gemeinschaft, die tägliche Betreuung und Erziehung zulässt (vgl. Art. 133 Abs. 1 ZGB; Eckert, a.a.O., Art. 220 StGB N 10b).

Täter nach Art. 220 StGB kann grundsätzlich jedermann sein, der das Recht zur Bestimmung des Aufenthaltsorts des Minderjährigen nicht allein und uneingeschränkt ausübt (Donatsch/Thommen/Wohlers, Strafrecht IV, Delikte gegen die Allgemeinheit, 5. Aufl. 2017, S. 26; Eckert, a.a.O., Art. 220 StGB N 8 mit Hinweis; Trechsel, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskomm. [Hrsg. Trechsel/Pieth], 3. Aufl. 2018, Art. 220 StGB N 2, unter Verweis auf BGE 108 IV 22). Das Delikt kann also von Aussenstehenden, in verschiedenen Fällen aber auch von einem Elternteil begangen werden, namentlich bei gemeinsamer elterlicher Sorge beider Eltern von jenem, der den Aufenthaltsort des Kindes wechseln will und dafür die erforderliche Zustimmung des anderen Elternteils nicht einholt. Dessen Zustimmung muss eingeholt werden, wenn der neue Aufenthaltsort im Ausland liegt (Art. 301a Abs. 2 lit. a ZGB) oder wenn der Wechsel des Aufenthaltsorts erhebliche Auswirkungen auf die Ausübung der elterlichen Rechte des anderen Elternteils hat (Art. 301a Abs. 2 lit. b ZGB; Donatsch/Thommen/Wohlers, a.a.O., S. 26).

Umstritten ist vornehmlich die Frage, ob Art. 220 StGB zum Schutz des Besuchsrechts eines Elternteils herangezogen werden kann.

Das Bundesgericht äusserte sich letztmals in BGE 136 III 353 E. 3.4 (mit zahlreichen Hinweisen) ausdrücklich zu dieser Frage. Es erwog, gemäss einer mit BGE 91 IV 136 eingeleiteten Praxisänderung habe es befunden, dass auch der Inhaber der elterlichen Sorge als Täter in Frage kommen könne. Der erwähnte und die sich anschliessenden Entscheide hätten indes durchwegs die Konstellation betroffen, dass entweder beide Elternteile die volle elterliche Sorge besessen oder aber der nicht obhutsberechtigte Mitinhaber der elterlichen Sorge die Kinder dem allein Obhutsberechtigten entzogen bzw. nicht zurückgebracht habe. Davon zu unterscheiden sei die in der Literatur umstrittene Frage, ob umgekehrt auch der alleinige Obhutsinhaber dem Mitinhaber der elterlichen Sorge das Kind im Sinn von Art. 220 StGB entziehen könne, namentlich durch Vereitelung des Besuchsrechts. Die Anwendbarkeit von Art. 220 StGB bei dieser Konstellation werde von einem Teil der Lehre mit der Begründung abgelehnt, das Besuchsrecht sei nicht Teil der elterlichen Sorge. Unabhängig von der rechtlichen Einordnung des Besuchsrechts halte die strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts entgegen den zitierten Lehrmeinungen aber dafür, dass die Verletzung einer Besuchsrechtsregelung strafbar sei, wobei nicht das Besuchsrecht als solches von Art. 220 StGB geschützt werde, wohl aber die gerichtlich festgesetzte Besuchsrechtsregelung. Ergänzend fügte das Bundesgericht hinzu, die Rechtsprechung, wonach einerseits strafbar sei, wer die Kinder dem Inhaber der Obhut entziehe, und andererseits, wer eine Besuchsrechtsregelung vereitele, solle in der neuen Fassung von Art. 220 StGB, die im Zusammenhang mit der geplanten Revision des ZGB betreffend die gemeinsame elterliche Sorge vorgeschlagen werde, klarer zum Ausdruck kommen.

Im Vorentwurf zur Teilrevision des Schweizerischen Zivilgesetzbuches betreffend elterliche Sorge aus dem Jahr 2009 sah der Bundesrat in der Tat eine Erweiterung von Art. 220 StGB um einen Abs. 2 vor, der explizit jede Person mit Strafe bedroht, die sich weigert, eine minderjährige Person dem Inhaber eines Besuchsrechts zu übergeben (Quelle: https://www.bj.admin.ch/dam/data/bj/gesellschaft/gesetzgebung/archiv/elterlichesorge/vorentw-d.pdf; letztmals abgerufen am 9.1.2020). Zur Begründung wurde im Bericht zum Vorentwurf festgehalten, Art. 220 StGB erlaube es nicht, jene Person zu bestrafen, die als Inhaberin der elterlichen oder vormundschaftlichen Sorge das Besuchsrecht eines anderen missachte. Entsprechend mache sich strafbar, wer das Kind am Ende der Besuchszeit nicht zurückgebe, während jener Elternteil, der sich dem Besuchsrecht verweigere, straflos bleibe. Diese Situation werde wegen der damit verbundenen nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung zu Recht kritisiert. Die zur Obhut berechtigte Person könne jedoch gute Gründe haben, das Kind der besuchsberechtigten Person nicht zu übergeben, etwa wenn das Kind plötzlich erkrankt sei oder wenn die besuchsberechtigte Person im vorgesehenen Zeitpunkt der Übergabe offensichtlich nicht in der Lage erscheine, das Kind ordentlich zu betreuen. Für solche Fälle kenne das StGB den Rechtfertigungsgrund des Notstands bzw. der Notstandshilfe (Art. 17 und 18 StGB). Die Straflosigkeit der Weigerung zur Übergabe lasse sich unter Umständen auch auf Art. 14 StGB stützen, denn der obhutsberechtigte Elternteil nehme die vom Gesetz gebotene Fürsorgepflicht wahr, wenn er sich aus Sorge um die Gesundheit weigere, das Kind zu übergeben. Auch ohne spezifische Strafandrohung bestehe zwar die Möglichkeit, den Elternteil, der sich weigere, das Kind der besuchsberechtigten Person zu übergeben, wegen Ungehorsams gegen eine amtliche Verfügung mit einer Busse bis zu Fr. 10'000.-- zu belegen (Art. 292 StGB). Eine spezielle Strafnorm verdeutliche aber, wie wichtig die Beziehung des Kinds auch zu einem Elternteil sei, dem kein Obhutsrecht zustehe (Bericht zum Vorentwurf einer Teilrevision des Schweizerischen Zivilgesetzbuches [Elterliche Sorge] und des Schweizerischen Strafgesetzbuches [Art. 220] S. 30-31; abrufbar unter: https://www.bj.admin.ch/dam/data/bj/gesellschaft/gesetzgebung/archiv/elterlichesorge/vn-ber-d.pdf; letztmals abgerufen am 9.1.2020).

Anders als im Vorentwurf verzichtete der Bundesrat im Entwurf dann jedoch darauf, jenem Elternteil Strafe anzudrohen, der das Besuchsrecht vereitelt, und liess es beim ursprünglichen Art. 220 StGB bewenden, der einzig das Entziehen von Minderjährigen unter Strafe stellt. Der Bundesrat begründete diesen Entscheid mit der Einsicht, dass Besuchsrechtsstreitigkeiten regelmässig mit hohem emotionalem Aufwand ausgetragen würden. Zusätzliche Strafandrohungen trügen in diesem Fall kaum zur Vermeidung oder Vorbeugung von Konflikten bei. Zudem sei zu befürchten, dass unter der Bestrafung eines Elternteils zumindest indirekt auch das Kind leide. Sollte dies ausnahmsweise einmal anders sein, könne die Kindesschutzbehörde oder ein Gericht immer noch konkrete, strafbewehrte Anordnungen treffen. So könne beispielsweise der Scheidungsrichter anordnen, dass die Mutter das Kind dem Vater zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt und an einem ganz bestimmten Ort übergeben müsse, widrigenfalls sie gebüsst werde (Art. 343 Abs. 1 lit. a ZPO i.V.m. Art. 292 StGB; Botschaft zu einer Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches [Elterliche Sorge], in: BBl 2011 9096).

Im Rahmen der (umfangreichen) parlamentarischen Beratungen des Geschäfts 11.070 fand Art. 220 StGB insofern wenig Beachtung, als er nur am Rand behandelt wurde und letztlich lediglich dahingehend eine Änderung erfuhr, dass nicht länger der "Inhaber des Obhutsrechts", sondern der "Inhaber des Aufenthaltsbestimmungsrechts" geschützt werden sollte (vgl. Amtl.Bull. SR 2013 S. 16; Amtl.Bull. NR 2013 S. 706).

Die wohl herrschende Lehre leitet aus diesem Vorgehen des Gesetzgebers ab, dass der Tatbestand von Art. 220 StGB nicht erfüllt sei, wenn der Inhaber des Aufenthaltsbestimmungsrechts die Ausübung des Besuchsrechts vereitle. Dem Besuchsberechtigten sei es unbenommen und ohne Weiteres zumutbar, sein Recht auf zivilprozessualem Weg durchzusetzen, wobei der zuständige Richter immer noch den Hinweis auf die Strafdrohung des Ungehorsamstatbestands (Art. 292 StGB) machen könne (Donatsch/Thommen/Wohlers, a.a.O., S. 26-27 mit zahlreichen Hinweisen; Eckert, a.a.O., Art. 220 StGB N 15; Trechsel, a.a.O., Art. 220 StGB N 2). Zwischen Eltern mit gemeinsamer Sorge sei der Anwendungsbereich von Art. 220 StGB auf die in Art. 301a Abs. 2 ZGB geregelten Fälle zu beschränken und der Besuchsberechtigte im Übrigen auf die zivilrechtlichen Interventionsmöglichkeiten zu verweisen (Bucher, Elterliche Sorge im schweizerischen und internationalen Kontext, in: Familien in Zeiten grenzüberschreitender Beziehungen, 7. Symposium der Universität Freiburg zum Familienrecht 2013 [Hrsg. Rumo-Jungo/Fountoulakis], S. 69; Donatsch/Thommen/Wohlers, a.a.O., S. 26-27; Eckert, a.a.O., Art. 220 StGB N 16; Weder, in: Komm. StGB mit V-StGB-MStG und JStG [Hrsg. Donatsch/Heimgartner/Isenring/Weder], 20. Aufl. 2018, Art. 220 StGB N 5).

Das Bundesgericht hat sich seit dem Inkrafttreten der Gesetzesrevision per 1. Juli 2014, soweit ersichtlich, nicht mehr zur Thematik geäussert, ob Art. 220 StGB in seiner aktuellen Fassung zur Anwendung gelange, wenn ein sorgeberechtigter Elternteil dem anderen Elternteil das (gerichtlich geregelte) Besuchsrecht verwehre.

Im Urteil 1B_533/2012 vom 22. November 2012 betreffend eine Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft hielt das Bundesgericht in E. 3.2 noch vor Abschluss der parlamentarischen Beratungen und dem Inkrafttreten der Gesetzesrevision fest: Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts könne ein Elternteil den objektiven Tatbestand von Art. 220 StGB erfüllen, der die gerichtlich festgesetzte Besuchsrechtsregelung verletze. Diese höchstrichterliche Rechtsauffassung werde zwar in der Literatur kontrovers diskutiert. Selbst wenn aber beachtliche Argumente dafür sprechen sollten, dass die Vereitelung des Besuchsrechts durch den obhutsberechtigten Elternteil den objektiven Tatbestand von Art. 220 StGB nicht erfülle, sei die Frage jedenfalls umstritten. Daraus schloss es, die Staatsanwaltschaft sei gemäss zutreffenden Erwägungen des Obergerichts (des Kantons Schaffhausen) nicht befugt gewesen, das Verfahren mit der Begründung einzustellen, das umstrittene Verhalten erfülle den objektiven Tatbestand von vornherein nicht.

In BGE 141 IV 205 äusserte sich das Bundesgericht in E. 5.3.1 nur allgemein zum Schutzzweck von Art. 220 StGB, wobei es sich aber explizit auf dessen bis zum 30. Juni 2014 gültige Fassung bezog. Zur Anwendbarkeit der Strafnorm im Fall einer Verweigerung des Besuchsrechts lässt sich dem publizierten Entscheid nichts entnehmen. Dasselbe gilt mit Blick auf die (…) Urteile 6B_123/2014 vom 2. Dezember 2014 (E. 3.3) und – bereits unter Geltung des aktuellen Rechts – 6B_1073/2018 vom 23. August 2019 (E. 6.5.1).

Im Urteil 6B_787/2017 vom 12. April 2018 E. 4 setzt sich das Bundesgericht lediglich mit der bis zum 31. Dezember 2012 gültig gewesenen Fassung von Art. 220 StGB auseinander, weil sie für die damalige Beschwerdeführerin das mildere Recht im Sinn von Art. 2 Abs. 2 StGB repräsentierte.

Die herrschende Lehrmeinung verdient nach dem Gesagten Zustimmung. Nach dem ausdrücklichen Verzicht des Gesetzgebers, dem besuchsberechtigten Elternteil den Schutz von Art. 220 StGB angedeihen zu lassen, liegt nun gleichsam ein qualifiziertes Schweigen vor, an welches das Kantonsgericht gebunden ist. Daran ändert nichts, dass nach bisheriger bundesgerichtlicher Rechtsprechung zum alten Recht nicht das Besuchsrecht per se, sondern dessen gerichtliche resp. behördliche Regelung dem Schutz von Art. 220 StGB unterstand. Denn der Gesetzgeber wollte die regelmässig mit hohem emotionalem Aufwand ausgetragenen Besuchsrechtsstreitigkeiten nicht mit weiteren Strafdrohungen zusätzlich anfachen und verwies die Gerichte und Kindesschutzbehörden stattdessen ausdrücklich auf das bereits existierende Instrumentarium wie den Erlass konkreter, strafbewehrter Anordnungen. Damit im Einklang steht, dass das Bundesgericht bereits im zitierten Urteil vom 22. November 2012 mit Blick auf die Botschaft und die parlamentarischen Beratungen zur Sorgerechtsrevision vorausschauend erwog, es könnten durchaus beachtliche Argumente dafür sprechen, dass die Vereitelung des Besuchsrechts durch den obhutsberechtigten Elternteil den objektiven Tatbestand von Art. 220 StGB nicht erfülle. Die Familiengerichte werden demgemäss gehalten sein, in krisenanfälligen Konstellationen, in denen sich die Weigerungshaltung eines Elternteils abzeichnet oder in der Vergangenheit bereits manifestiert hat, vermehrt bereits im Zusammenhang mit der Regelung des Besuchsrechts die Strafandrohung nach Art. 292 StGB auszusprechen.

Wenn der Gesetzgeber aber die Missachtung des Besuchsrechts nicht nach Art. 220 StGB unter Strafe stellen wollte, besteht auch für den Fall der Betreuung eines Kindes in alternierender Obhut beider Elternteile kein Anlass zu einer divergierenden Einschätzung. Abgesehen davon, dass im Verhältnis zwischen den sorgeberechtigten Eltern nach herrschender Lehre wie erwähnt lediglich die Konstellationen gemäss Art. 301a Abs. 2 ZGB strafrechtlichen Schutz nach Art. 220 StGB geniessen sollen, unterscheidet sich die alternierende Obhut – im Hinblick auf die in casu zu beantwortende Frage – seit Inkrafttreten der Sorgerechtsrevision im Wesentlichen noch durch ihre zeitliche Dimension von einem Besuchsrecht, nicht aber in Bezug auf das Recht eines Elternteils, den Aufenthaltsort des minderjährigen Kinds zu bestimmen. Denn die einstige rechtliche Obhut im Sinn einer Befugnis, den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen, stellt nunmehr bereits eine feste Komponente der elterlichen Sorge selbst dar (Art. 301a Abs. 1 ZGB). Infolgedessen betrifft der Entscheid eines Gerichts oder einer KESB über die Betreuungsregelung a priori allein noch die faktische Obhut, das heisst die Befugnis zur täglichen Betreuung des Kindes und zur Ausübung der Rechte und Pflichten im Zusammenhang mit seiner Pflege und laufenden Erziehung (vgl. BGE 142 III 612 E. 4.1; LGVE 2018 II Nr. 4 und 2016 II Nr. 10). In diesem Sinn wird das Aufenthaltsbestimmungsrecht beider Elternteile eingeschränkt (vgl. zum Ganzen: Kilde, Das Verhältnis zwischen persönlichen Verkehr, Betreuung und Obhut bei gemeinsamer elterlicher Sorge, in: recht 2015 S. 235 ff.).

Anzumerken bleibt, dass nach Auffassung von Donatsch/Thommen/Wohlers (a.a.O., S. 26-27) und Eckert (a.a.O., Art. 220 StGB N 16) mit dem Entscheid des Gesetzgebers, die Besuchsrechtsvereitelung nicht unter Strafe zu stellen, weiterhin nicht abschliessend entschieden sein soll, wie eine Vereitelung des Besuchsrechts zwischen Eltern mit gemeinsamer elterlicher Sorge zu behandeln sei. Deshalb plädieren diese Autoren lediglich unter Verweis auf die Rechtssicherheit mit der Mehrheit im Schrifttum dafür, den Anwendungsbereich von Art. 220 StGB zwischen Eltern mit gemeinsamem Sorgerecht auf jene Fälle zu beschränken, die in Art. 301a Abs. 2 ZGB explizit geregelt sind (Bucher, a.a.O., S. 69; Donatsch/Thommen/Wohlers, a.a.O., S. 26-27; Eckert, a.a.O., Art. 220 StGB N 16; Weder, a.a.O., Art. 220 StGB N 5). Der Bundesrat wollte im Vorentwurf zur Gesetzesrevision aber ausnahmslos jede Person mit Strafe bedrohen, die sich weigert, eine minderjährige Person dem Inhaber eines Besuchsrechts zu übergeben ("wer sich weigert…"), und verzichtete im Nachgang zur Kritik, die im Vernehmlassungsverfahren gegen eine solche Regelung erhoben wurde, bewusst und mit Billigung des Parlaments auf eine entsprechende Neuformulierung der Strafnorm. Umgekehrt machte er im Vorentwurf keine Unterscheidung danach, ob der Inhaber des Besuchsrechts auch Inhaber der elterlichen Sorge sei oder nicht. Dabei bildete die Durchsetzung der gemeinsamen elterlichen Sorge als Regelfall gerade das Kernanliegen der Sorgerechtsrevision, sodass angenommen werden darf, dass eine entsprechende Präzisierung resp. Unterscheidung nach gemeinsamer oder alleiniger elterlicher Sorge bei der initiierten Neuformulierung von Art. 220 StGB geboten gewesen und wohl auch beachtet worden wäre. Hinzu kommt, dass dem besuchsberechtigten Elternteil mit der gerichtlichen Regelung des Wohnsitzes und des Besuchsrechts im Eheschutzentscheid oder im Scheidungsurteil das Aufenthaltsbestimmungsrecht auch bei gemeinsamer elterlicher Sorge (weitgehend) entzogen wird (BGE 136 III 353 E. 3.4). Dann aber macht es für den Verzicht auf die Strafbarkeit der Besuchsrechtsvereitelung keinen Unterschied, ob dem betroffenen Elternteil zusätzlich zum Besuchsrecht die (geteilte) elterliche Sorge zukommt oder nicht. Denn in beiden Fällen kann er den persönlichen Verkehr mit dem minderjährigen Kind infolge einer Weigerungshaltung des anderen Elternteils nicht wahrnehmen, welchen Umstand der Gesetzgeber aber nicht unter Strafe stellen wollte, da die Mittel des Zivilrechts und der Weg über die Ungehorsamsstrafe vorzuziehen seien. Mithin dürfte nicht nur die Rechtssicherheit, sondern ebenso der Gesetzgebungsprozess resp. das historische Auslegungselement die Rechtsauffassung nahelegen, wonach Art. 220 StGB bei Besuchsrechtsstreitigkeiten grundsätzlich nicht zur Anwendung gelangen soll. Ob sich ein sorgeberechtigter Elternteil letztlich nur dann nach Art. 220 StGB strafbar machen kann, wenn er den Aufenthaltsort des Kindes ins Ausland verlegt oder dergestalt verändert, dass aus dem Wechsel erhebliche Auswirkungen auf die Ausübung der elterlichen Sorge und den persönlichen Verkehr durch den andern Elternteil resultieren, für welche Tatbestände Art. 301a Abs. 2 ZGB explizit die Zustimmung des anderen sorgeberechtigten Elternteils statuiert, oder ob auch die besonders gravierende Verletzung einer Besuchsrechts- oder alternierenden Obhutsregelung genügt, braucht vorliegend nicht abschliessend beurteilt zu werden.