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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Justiz- und Sicherheitsdepartement
Abteilung:-
Rechtsgebiet:Ausländerrecht
Entscheiddatum:14.03.2019
Fallnummer:JSD 2019 7
LGVE:2019 VI Nr. 7
Gesetzesartikel:Art. 24 Anhang I FZA
Leitsatz:Unter Berücksichtigung der «ratio legis» erscheint es sachgerecht, das Aufenthaltsrecht von Art. 24 Anhang I FZA auch dann untergehen zu lassen, wenn der aufenthaltsberechtige EU/EFTA-Bürger Prämienverbilligungen – nicht aber Sozialhilfe oder Ergänzungsleistungen – bezieht.
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:Aus den Erwägungen:

2. In der angefochtenen Verfügung hat die Vorinstanz das Verlängerungsgesuch des Beschwerdeführers abgelehnt und ihn aus der Schweiz weggewiesen mit der Begründung, dass er Prämienverbilligungen beziehe und dies mit seiner Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA zur erwerbslosen Wohnsitznahme nach Art. 24 Abs. 1 Anhang I des Abkommens zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedsstaaten andererseits über die Freizügigkeit vom 21. Juni 1999 (FZA) nicht vereinbar sei. Durch den Bezug dieser Verbilligungen sei die Voraussetzung der ausreichenden finanziellen Mittel nicht mehr erfüllt, weshalb sein Aufenthaltsrecht nicht mehr fortbestehe (Art. 24 Abs. 8 Anhang I FZA) und seine Aufenthaltsbewilligung nicht weiter verlängert werden könne (Art. 23 Abs. 1 der Verordnung über die Einführung des freien Personenverkehrs vom 22.5.2002 [VEP]).

(...)

2.2 Im Folgenden ist zu prüfen, ob die Vorinstanz die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA des Beschwerdeführers zu Recht aufgrund seines Bezugs von Prämienverbilligungen (Art. 24 Abs. 8 Anhang I FZA i.V.m. Art. 23 Abs. 1 VEP) abgelehnt hat.

3.
3.1 Art. 24 Abs. 1 Anhang I FZA hält fest, dass eine Person, welche die Staatsangehörigkeit einer Vertragspartei besitzt und keine Erwerbstätigkeit im Aufenthaltsstaat ausübt, ein Anwesenheitsrecht hat, sofern sie über ausreichende finanzielle Mittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfe in Anspruch nehmen muss (lit. a), und sie überdies über einen Krankenversicherungsschutz verfügt, der sämtliche Risiken abdeckt (lit. b). Gemäss Abs. 2 gelten die finanziellen Mittel als ausreichend, wenn sie den Betrag übersteigen, unterhalb dessen die eigenen Staatsangehörigen aufgrund ihrer persönlichen Situation und gegebenenfalls derjenigen ihrer Familienangehörigen Anspruch auf Fürsorgeleistungen haben. Ist diese Bedingung nicht anwendbar, so gelten die finanziellen Mittel des Antragstellers als ausreichend, wenn sie die von der Sozialversicherung des Aufnahmestaates gezahlte Mindestrente übersteigen. Schliesslich sieht Absatz 8 vor, dass das Aufenthaltsrecht nur so lange besteht, als die Berechtigten die Bedingungen des Absatzes 1 erfüllen.

3.2 Die Regelung von Art. 24 Anhang I FZA ist der Richtlinie 90/364/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht nachgebildet und hat zum Zweck zu vermeiden, dass die öffentlichen Finanzen des Aufnahmestaates über Gebühr belastet werden (vgl. BGE 142 II 35 E. 5.1 S. 43 f. mit Verweisen). Sie wird in Art. 16 VEP wie folgt konkretisiert:

1 Die finanziellen Mittel von EU- und EFTA-Angehörigen sowie ihren Familienangehörigen sind ausreichend, wenn sie die Fürsorgeleistungen übersteigen, die einem schweizerischen Antragsteller oder einer schweizerischen Antragstellerin und allenfalls seinen oder ihren Familienangehörigen aufgrund der persönlichen Situation nach Massgabe der Richtlinien für die Ausgestaltung und Bemessung der Sozialhilfe (SKOS-Richtlinien) gewährt werden.

2 Die finanziellen Mittel sind für rentenberechtigte EU- und EFTA-Angehörige sowie ihre Familienangehörigen ausreichend, wenn sie den Betrag übersteigen, der einen schweizerischen Antragsteller oder eine schweizerische Antragstellerin und allenfalls seine oder ihre Familienangehörigen zum Bezug von Ergänzungsleistungen nach dem Bundesgesetz vom 19. März 1965 über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung berechtigt.

Das Bundesgericht hat daraus geschlossen, dass die Voraussetzung der ausreichenden finanziellen Mittel (Art. 24 Abs. 1 lit. a Anhang I FZA) nicht gegeben ist, wenn die betreffende Person Sozialhilfe oder Ergänzungsleistungen beansprucht (vgl. BGE 135 II 265 E. 3.6 S. 272). Die Herkunft der finanziellen Mittel spielt demgegenüber keine Rolle. Gemäss Bundesgericht können sie auch von Familienangehörigen oder sonstigen Dritten stammen (vgl. BGE 142 II 35 E. 5.1 S. 43 f. mit Verweisen).

4. Die Frage, ob das Aufenthaltsrecht nach Art. 24 Abs. 1 Anhang I FZA auch dann nicht mehr fortbesteht, wenn die berechtigte Person in der Schweiz Prämienverbilligungen bezieht, nicht aber Sozialhilfe oder Ergänzungsleistungen, wurde höchstrichterlich bislang nicht geklärt.

4.1 Das Bundesgericht hat sich am 29. Juli 2010 mit dieser Frage lediglich am Rande auseinandergesetzt, als es das Aufenthaltsrecht eines von einer IV-Rente und Ergänzungsleistungen lebenden Italieners zu beurteilen hatte. Damals war es zum Schluss gekommen, dass kein Aufenthaltsrecht nach Art. 24 Abs. 1 Anhang I FZA bestehe, weil Ergänzungsleistungen zur Sozialhilfe im Sinn dieser Bestimmung gerechnet würden und der Beschwerdeführer demnach teilweise von der Sozialhilfe lebe. Gleichzeitig fügte es aber an, dass sich diese Schlussfolgerung («l’étranger […] vit partiellement grâce à l’aide sociale au sens de cette norme») umso mehr aufdränge, als auch die Krankenkassenprämien des Italieners vollumfänglich von der öffentlichen Hand bezahlt werden (Prämienverbilligung; vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_222/2010 vom 29.7.2010 E. 6.2.2). Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hat sodann in verschiedenen Fällen die Ansicht vertreten, dass keine ausreichenden finanziellen Mittel gemäss Art. 24 Abs. 1 Anhang I FZA vorliegen, wenn Prämienverbilligungen bezogen würden, und demzufolge in einem solchen Fall seine Zustimmung zur Erteilung der Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA verweigert (vgl. u.a. Urteile des Bundesverwaltungsgerichts F-5817/2015 vom 24.07.2017 E. 5.3 S. 9, F-2671/2015 vom 19.7.2017 E. 6.2.1 S. 12, F-2042/2015 vom 23.6.2017 E. 5.2.1 S. 8 und F-826/2015 vom 16.3.2017 E. 6 S. 7). Diese Verfügungen des SEM wurden vom Bundesverwaltungsgericht jedoch jeweils auf Beschwerde hin aufgehoben, wobei das Gericht explizit darauf hinwies, dass Prämienverbilligungen eben gerade nicht als Sozialhilfe im Sinn von Art. 24 Abs. 1 Anhang I FZA zu verstehen seien (vgl. Urteile des Bundesverwaltungsgerichts F-5817/2015 vom 24.7.2017 E. 5.3 S. 9, F-2671/2015 vom 19.7.2017 E. 6.2.2 S. 13 und F-2042/2015 vom 23.6.2017 E. 5.2.2 S. 9).

4.2 Eines dieser Urteile des Bundesverwaltungsgerichts wurde beim Bundesgericht angefochten (F-2042/2015). Dieses warf die Frage der Handhabung von Prämienverbilligungen im Kontext von Art. 24 Abs. 1 Anhang I FZA alsdann anlässlich seines Leitentscheides vom 15. Januar 2018 auf, liess sie letztlich aber offen und erwog lediglich, dass es fraglich sei, ob die monatlichen Prämienverbilligungen – wie vom Bundesverwaltungsgericht ausgeführt – im Rahmen der Berechnung der ausreichenden finanziellen Mittel auf der Einkommensseite berücksichtigt werden dürfen, oder ob sie nicht eher als eine Art Ergänzungsleistungen zu verstehen seien, die von den Existenzmitteln nach Art. 24 Abs. 2 Anhang I FZA ausgeschlossen sind (vgl. BGE 144 II 113 E. 4.3 S. 119). Das Bundesverwaltungsgericht passte daraufhin seine Praxis an, indem es in seinem Urteil vom 22. November 2018 nur noch festhielt, dass gemäss Skos-Richtlinien die monatlichen Prämienverbilligungen grundsätzlich zum Einkommen hinzuzuzählen seien, diese Frage vom Bundesgericht jedoch offengelassen wurde, und das Bundesverwaltungsgericht deshalb die Prämienverbilligungen bei der Lebensbedarfsberechnung vorerst weiterhin berücksichtige (vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts F-3321/2017 vom 22.11.2018 E. 5.4.3 S. 8). Dass Prämienverbilligungen nicht als Sozialhilfe im Sinn von Art. 24 Abs. 1 lit. a Anhang I FZA gelten dürfen, erwähnte es nicht mehr. (…)

5. Es bleibt zu prüfen, ob sich durch Gesetzesauslegung eine Antwort auf die Frage, wie sich der Bezug von Prämienverbilligungen auf das Aufenthaltsrecht von Art. 24 Abs. 1 Anhang I FZA auswirkt, finden lässt.

5.1 Der Wortlaut von Art. 24 Abs. 2 Anhang I FZA und der konkretisierenden Bestimmung von Art. 16 VEP legt nahe, dass der Gesetz- beziehungsweise der Verordnungsgeber mit der Einführung der Voraussetzung der ausreichenden finanziellen Mittel in erster Linie ausschliessen wollte, dass erwerbslose EU/EFTA-Bürger in der Schweiz ein Aufenthaltsrecht erhalten, die hier auf Kosten der Staatskasse von der wirtschaftlichen Sozialhilfe oder von Ergänzungsleistungen leben. Dass gleichzeitig auch der Bezug von Prämienverbilligungen verhindert werden soll, darüber schweigt sich der Wortlaut dieser Bestimmungen aus. Auch enthalten die Artikel keinerlei Wendungen (wie z.B. «namentlich»), die darauf hindeuten würden, dass nebst der Sozialhilfe und den Ergänzungsleistungen auch noch weitere finanzielle Leistungen ein Aufenthaltsrecht nach Art. 24 Abs. 1 Anhang I FZA ausschliessen würden. Auch die historische Betrachtungsweise hilft in dieser Hinsicht nicht weiter. So ist die Regelung von Art. 24 Anhang I FZA wie bereits erwähnt der Richtlinie 90/364/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht nachgebildet. Diese schliesst unter Art. 1 Abs. 1 ebenfalls nur den Bezug von Sozialhilfe und von Ergänzungsleistungen aus, wobei diesbezüglich in der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaft (EuGH) vergebens nach zweckdienlichen Weiterungen gesucht wird. Insofern fragt sich, ob nebst diesen durch die öffentliche Hand finanzierten und im Gesetz beziehungsweise der Verordnung explizit genannten Leistungen überhaupt noch andere finanzielle Unterstützungen zur Beendigung des Aufenthaltsrechts von Art. 24 Anhang I FZA führen können oder ob der Gesetz- beziehungsweise der Verordnungsgeber dies mit seinem Schweigen im Gegenteil ausdrücklich ausschliessen wollte (sog. qualifiziertes Schweigen).

5.2 Eine Antwort darauf lässt sich am ehesten der «ratio legis» von Art. 24 Anhang I FZA entnehmen. Wie das Bundesgericht in seinem Urteil vom 24. März 2009 dargelegt hat, soll die Regelung über die Wohnsitznahme nicht erwerbstätiger Personen gewährleisten, dass es nicht zu einer ungebührlichen Belastung der öffentlichen Finanzen des Aufnahmestaates kommt (vgl. BGE 135 II 265 E. 3.7 S. 273). Insofern erscheint es durchaus sachgerecht, das Aufenthaltsrecht von Art. 24 Anhang I FZA auch dann untergehen zu lassen, wenn die berechtige Person Prämienverbilligungen bezieht. Auch diese werden – wie die Sozialhilfe und die Ergänzungsleistungen – von der öffentlichen Hand finanziert, sind beitragsunabhängig und kommen allen Personen zugute, welche in der Schweiz wohnhaft sind und in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen leben (vgl. Art. 65 des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung vom 18.3.1994 [KVG]). Dass der massgebliche Schwellenwert in Bezug auf das Einkommen für den Anspruch auf Prämienverbilligungen (vgl. für den Kanton Luzern die §§ 6 f. des Gesetzes über die Verbilligung von Prämien der Krankenversicherung vom 24.1.1995 [SRL Nr. 866] i.V.m. den §§ 2, 2a und 3 der Verordnung zum Gesetz über die Verbilligung von Prämien der Krankenversicherung vom 12.12.1995 [SRL Nr. 866a]) nicht exakt demjenigen für den Anspruch auf Sozialhilfe nach den Skos-Richtlinien entspricht, ist nicht weiter relevant. Auch der Anspruch auf Ergänzungsleistungen orientiert sich an einem eigenen Schwellenwert. Vor dem Hintergrund von Art. 24 Anhang I FZA ist vielmehr entscheidend, ob mit dem auf diese Weise bewilligten Wohnsitzwechsel in die Schweiz ein Anspruch auf Geldleistungen geschaffen wird, der die öffentlichen Finanzen belastet. Dies ist mit den Prämienverbilligungen zweifellos der Fall. Wie bei den Ergänzungsleistungen ist es demzufolge mit dem Sinn und Zweck von Art. 24 Abs. 1 Anhang I FZA nicht vereinbar, die Voraussetzung der ausreichenden finanziellen Mittel als genügend zu betrachten, wenn dem betroffenen Ausländer damit ein Anspruch auf Prämienverbilligungen erwächst und er diese auch tatsächlich bezieht. Prämienverbilligungen müssen mit anderen Worten – gleich wie Ergänzungsleistungen – zur Sozialhilfe im Sinn von Art. 24 Abs. 1 lit. a Anhang I FZA gerechnet werden (vgl. BGE 135 II 265 E. 3.7 S. 273).

6. Daraus folgt, dass vorliegend kein genügender Anlass besteht, um die Entscheidung der Vorinstanz, die Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA des Beschwerdeführers wegen seines Bezugs von Prämienverbilligungen nicht weiter zu verlängern (Art. 24 Abs. 8 Anhang I FZA i.V.m. Art. 23 Abs. 1 VEP), aufzuheben. Einerseits hat das Bundesgericht diese Vorgehensweise in seiner Rechtsprechung – wie oben dargelegt – bislang nie explizit ausgeschlossen beziehungsweise zeigt hierfür gar gewisse Sympathien. Andererseits erscheint die Gleichbehandlung von Ergänzungsleistungen und Prämienverbilligungen in Bezug auf Art. 24 Abs. 1 Anhang I FZA angesichts dessen «ratio legis» als folgerichtig, ohne dass dieser Schluss im Widerspruch mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stünde. Letzteres erwog in seinem Urteil vom 22. November 2018 denn auch nur noch, dass Prämienverbilligungen im Rahmen der Lebensbedarfsberechnung nach den Skos-Richtlinien als Einkommen zu berücksichtigen seien. Dass Prämienverbilligungen jedoch per se nicht als Sozialhilfe im Sinn von Art. 24 Abs. 1 lit. a Anhang I FZA gelten dürfen, erwähnte es im Lichte des Bundesgerichtsurteils vom 15. Januar 2018 (BGE 144 II 113) nicht mehr (vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts F-3321/2017 vom 22.11.2018 E. 5.4.3 S. 8). (...)