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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Regierungsrat
Abteilung:-
Rechtsgebiet:Volksrechte
Entscheiddatum:21.01.2020
Fallnummer:RRE Nr. 58
LGVE:2020 VI Nr. 2
Gesetzesartikel:§ 110 Abs. 4 StRG
Leitsatz:Im Kanton Luzern besteht kein Anspruch auf eine Nachzählung von Amtes wegen, ohne dass konkrete Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Auszählung (Unregelmässigkeiten) der Abstimmungsresultate vorliegen.

Die Luzerner Praxis lässt einen Rückkommensantrag nach Abschluss eines Traktandums nur in Ausnahmefällen zu, wenn beispielsweise verschiedene voneinander abhängige Geschäfte an einer Versammlung behandelt werden oder wenn nach Abschluss eines Traktandums nachträglich ein Verfahrensfehler festgestellt wird.
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:An der Gemeindeversammlung war unter Traktandum 1 die Abstimmung über eine Gemeindeinitiative sowie einen Gegenvorschlag traktandiert. Die Initiative wurde mit 132 Ja- zu 66 Nein-Stimmen angenommen. Dem Antrag eines Stimmberechtigten, wonach die Schlussabstimmung an der Urne stattfinden solle, stimmten 82 Stimmberechtigte zu. Damit wurde die nötige 2/5-Mehrheit um eine Stimme nicht erreicht. Einen Antrag auf Wiederholung der Abstimmung lehnten die Stimmberechtigten ab. Nach Beendigung dieses Traktandums verliessen rund 30 Stimmberechtigte die Versammlung. Kurz vor Schluss der Gemeindeversammlung beantragte eine Stimmberechtigte ein Rückkommen auf das Traktandum 1. Sie verlangte, dass die Abstimmung über die Frage der Schlussabstimmung an der Urne wiederholt werden solle. Dieser Antrag wurde vom Versammlungsleiter nicht zugelassen.

Aus den Erwägungen:

5. Die Beschwerdeführerin rügt, dass bei der Abstimmung über die Frage, ob die Schlussabstimmung an die Urne überwiesen werden soll, nicht nachgezählt worden sei, obwohl nur gerade eine Stimme zur Annahme des Antrags gefehlt habe. An der vorhergehenden Gemeindeversammlung sei nochmals gezählt worden, als das Abstimmungsergebnis knapp gewesen sei, und nach § 110 Absatz 2 des Stimmrechtsgesetzes (StRG; SRL Nr. 10) sei das Mehr und, wenn es die Hälfte der Teilnehmer nicht eindeutig übersteigt, auch das Gegenmehr abzuzählen.

5.1. An der Gemeindeversammlung wird das Ergebnis von den Stimmenzählern zuerst geschätzt (vgl. § 110 Abs. 1 StRG). Können die Stimmenzähler das Ergebnis nicht eindeutig abschätzen oder wird ihre Schätzung in Zweifel gezogen, haben sie das Mehr und, wenn es die Hälfte der Teilnehmer nicht eindeutig übersteigt, auch das Gegenmehr abzuzählen (Abs. 2). Einwendungen gegen die Abzählergebnisse sind sofort vorzubringen. Nötigenfalls lässt der Präsident Mehr und Gegenmehr nochmals feststellen (Abs. 4).

5.2. Gemäss Versammlungsprotokoll wurde das Resultat nicht geschätzt, sondern ausgezählt. Es wurden die zustimmenden und die ablehnenden Stimmen gezählt. Das Stimmrechtsgesetz sieht keine zwingende Nachzählung vor. Diese ist nur «nötigenfalls» vorzunehmen (vgl. § 110 Abs. 4 StRG). Für die Aufhebung einer Abstimmung haben «Unregelmässigkeiten» vorzuliegen (vgl. § 165 Abs. 2 StRG). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist es in erster Linie eine Frage des anwendbaren Rechts des jeweiligen Gemeinwesens, unter welchen Voraussetzungen Nachzählungen von Wahl- und Abstimmungsergebnissen anzuordnen sind und ob der einzelne Stimmberechtigte eine Nachzählung erwirken kann. Ansonsten begründet ein sehr knappes Resultat einer Abstimmung für sich allein keinen Anspruch auf eine Nachzählung. Eine unmittelbar aus Artikel 34 Absatz 2 der Bundesverfassung (BV; SR 101) fliessende Verpflichtung zur Nachzählung sehr knapper Wahl- und Abstimmungsresultate besteht nur in jenen knapp ausgegangenen Fällen, in denen der Bürger auf konkrete Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Auszählung oder für ein gesetzwidriges Verhalten der zuständigen Organe hinzuweisen vermag (vgl. dazu BGE 141 II 297 E. 5.2. und 5.4.). Unter diesen Umständen besteht im Kanton Luzern daher grundsätzlich kein Anspruch auf eine Nachzählung von Amtes wegen, ohne dass konkrete Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Auszählung (Unregelmässigkeiten) vorliegen.

5.3. Nun wird von der Beschwerdeführerin aber vorgebracht, dass der Stadtpräsident an der vorhergehenden Gemeindeversammlung von sich aus eine Nachzählung bei einem knappen Ergebnis angeordnet habe. Angesprochen ist der Anspruch auf Gleichbehandlung. Sofern ein Rechtssatz durch das Verwenden unbestimmter Rechtsbegriffe oder das Einräumen von Ermessen einen Spielraum offenlässt, hat die rechtsanwendende Behörde davon in allen gleich gelagerten Fällen gleichen Gebrauch zu machen. Eine rechtsanwendende Behörde verletzt dann den Gleichheitssatz, wenn sie zwei gleiche tatsächliche Situationen ohne sachlichen Grund unterschiedlich beurteilt (vgl. Häfelin/Müller/Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 7. Aufl., Zürich 2016, Rz. 587 mit Hinweisen). Gerade beim Abstimmungsverfahren an Gemeindeversammlungen, das relativ offen gestaltet ist und der Versammlungsleitung Freiräume lässt (vgl. z.B. § 119 Abs. 1 StRG), ist es unter diesem Grundsatz wichtig, die Abläufe immer gleich zu handhaben und allfällige Praxisänderungen rechtzeitig anzukünden. Vorliegend kann dem Versammlungsleiter aber nicht vorgeworfen werden, das Nachzählen einmal von Amtes wegen und einmal nur auf Antrag angeordnet zu haben. Wie sich aus dem Auszug aus dem Protokoll zur vorherigen Gemeindeversammlung ergibt, wurde auch damals bei einem Unterschied von einer Stimme nur auf Antrag hin nochmals abgestimmt. Eine Ungleichbehandlung beim Vorgehen bei einer Nachzählung konnte daher nicht nachgewiesen werden. Die Rüge der fehlenden Nachzählung ist unbegründet.

6. Weiter ist auf die Rüge einzugehen, wonach über den Rückkommensantrag unter dem Traktandum «Varia» nicht abgestimmt wurde.

6.1. Der Rückkommensantrag ist im Stimmrechtsgesetz nicht geregelt. Er ist ein Ordnungsantrag und bezweckt die nochmalige Behandlung und Abstimmung über eine bestimmte Sachfrage und kann nur nach Schluss der Beratung gestellt werden. Der Rückkommensantrag ist auf «zusammengesetzte Vorlagen» zugeschnitten, das heisst auf Vorlagen, bei welchen vor der Verabschiedung der Gesamtvorlage in der Schlussabstimmung auf gefasste Detailbeschlüsse zurückgegriffen werden kann. Besteht eine Vorlage nur aus einem Beschlussentwurf, das heisst, hat vorher die Gesamtberatung stattgefunden, erscheint es nicht als zulässig, eine für geschlossen erklärte Diskussion unter dem Titel des Rückkommens fortzusetzen (Alex Stöckli, Die politischen Rechte des Aktivbürgers in der ordentlichen Gemeindeorganisation des Kantons Luzern, Willisau 1989, S. 200).

6.2. Ein Rückkommensantrag müsste als rechtsmissbräuchlich bezeichnet werden, wenn er gestellt würde, obwohl die Gemeindeversammlung mehr als einmal ihren Willen klar kundgetan hat. Ein erstmaliger Wiedererwägungsantrag, besonders bei knappem Abstimmungsausgang, ist jedoch noch nicht rechtsmissbräuchlich. Mit der Einräumung eines umfassenden Antrags- beziehungsweise Initiativrechtes hat es der Gesetzgeber in Kauf genommen, dass die Verwaltungstätigkeit unter Umständen durch Stimmbürger, die von diesem Recht einen ausgiebigen Gebrauch machen, erschwert wird. Es muss aber hier in erster Linie dem gesunden Bürgersinn anheimgegeben werden, Auswüchse der Versammlungsdemokratie zu verhindern (vgl. BGE 99 Ia 402 E. 4b).

6.3. Die Luzerner Praxis lässt nach Abschluss eines Traktandums grundsätzlich kein Rückkommen zu. Nur in Ausnahmefällen kann es sich allenfalls als zweckmässig erweisen, auf ein Sachgeschäft zurückzukommen, so zum Beispiel wenn verschiedene voneinander abhängige Geschäfte an einer Versammlung behandelt werden oder wenn nach Abschluss eines Traktandums nachträglich ein Verfahrensfehler festgestellt wird, der den Ausgang des Verfahrens beeinflusst haben könnte. Hier ist es sinnvoll, den Fehler noch an der Versammlung zu korrigieren, um eine allfällige Wiederholung der Versammlung zu verhindern.

6.4. Vorliegend ging es weder darum, die Diskussion eines früheren, in Abhängigkeit stehenden Sachgeschäfts wiederaufzunehmen, noch darum, einen Verfahrensmangel im Abstimmungsverfahren zu beheben. Es wurde lediglich eine Wiederholung der Abstimmung über die Frage verlangt, ob die Schlussabstimmung an der Urne erfolgen soll. Damit wurde die Frage an dieser Versammlung bereits zum dritten Mal aufgeworfen. Das erste Mal ging es darum, als über die Abstimmung an der Urne ursprünglich abgestimmt wurde. Die Urnenabstimmung wurde abgelehnt. Ein zweites Mal ging es um diese Frage, als nach dem knappen Abstimmungsergebnis über den Antrag abgestimmt wurde, diese Abstimmung zu wiederholen. Der Antrag auf Wiederholung wurde abgelehnt. Auch der dritte Antrag bezweckte die erneute Abstimmung über die Frage einer Urnenabstimmung. Ein drittes Mal an der gleichen Versammlung über schliesslich immer wieder die gleiche Frage abstimmen zu lassen, erscheint im Lichte der bundesgerichtlichen Rechtsprechung als rechtsmissbräuchlich.