Instanz: | Kantonsgericht |
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Abteilung: | 2. Abteilung |
Rechtsgebiet: | Strafrecht |
Entscheiddatum: | 10.07.2020 |
Fallnummer: | 4M 20 5 |
LGVE: | 2020 II Nr. 10 |
Gesetzesartikel: | Art. 21 und Art. 24 SIS II-Verordnung. |
Leitsatz: | Die Ausschreibung im SIS wird eingegeben, wenn die Entscheidung auf die Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung oder die nationale Sicherheit gestützt wird, die die Anwesenheit des betreffenden Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats darstellt (Art. 24 Ziff. 2 Satz 1 SIS-II-Verordnung). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die betreffende Person in einem Mitgliedstaat wegen einer Straftat verurteilt wurde, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht ist (Art. 24 Ziff. 2 lit. a SIS-II-Verordnung). Auch wenn letzteres Kriterium erfüllt ist, darf eine Ausschreibung von Drittstaatsangehörigen im SIS gemäss dem in Art. 21 SIS-II-Verordnung verankerten Verhältnismässigkeitsprinzip nur vorgenommen werden, wenn die Angemessenheit, Relevanz und Bedeutung des Falles dies rechtfertigen. |
Rechtskraft: | Dieser Entscheid ist rechtskräftig. |
Entscheid: | 3.4 Zu prüfen bleibt die von der Vorinstanz angeordnete Ausschreibung der Landesverweisung im SIS. 3.4.1. Wird gegen einen Drittstaatsangehörigen eine Landesverweisung ausgesprochen, so prüft das urteilende Gericht deren Ausschreibung zur Einreise- und Aufenthaltsverweigerung im SIS (Art. 2 [EG] Nr. 1987/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.12.2006 über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems der zweiten Generation [SIS-II-Verordnung, Abl. L 381 vom 28.12.2006, S. 4]). Damit werden die Wirkungen der Landesverweisung auf alle Schengen-Staaten ausgedehnt (vgl. Art. 3 Bst. d, Art. 21 und Art. 24 SIS II-Verordnung [Abl. L 381/4 vom 28.12.2006]; Art. 6 Abs. 1 Bst. d sowie Art. 14 Abs. 1 Schengener Grenzkodex [SGK, Abl. L 77/1 vom 23.3.2016]; Art. 20 und Art. 22a Verordnung über den nationalen Teil des Schengener Informationssystems und das SIRENE-Büro vom 8.3.2013 [N-SIS-Verordnung, SR 362.0]; Schneider/Gfeller, Landesverweisung und das Schengener Informationssystem, Sicherheit & Recht 1/2019, S. 3 ff.). Die übrigen Schengen-Staaten können die Einreise in ihr Hoheitsgebiet im Einzelfall aus humanitären Gründen oder Gründen des nationalen Interesses oder aufgrund internationaler Verpflichtungen indes dennoch bewilligen (Art. 6 Abs. 5 lit. c Schengener Grenzkodex; vgl. auch Art. 25 Abs. 1 lit. a Visakodex). Die Souveränität der übrigen Schengen-Staaten wird insofern durch die in der Schweiz ausgesprochene Landesverweisung, welche ausschliesslich für das Hoheitsgebiet der Schweiz gilt (vgl. Art. 66a StGB), nicht berührt (BGer-Urteil 6B_509/2019 vom 29.8.2019 E. 3.3). Eine Ausschreibung von Drittstaatsangehörigen im Sinn von Art. 3 lit. d SIS-II-Verordnung im SIS darf gemäss dem in Art. 21 SIS-II-Verordnung verankerten Verhältnismässigkeitsprinzip nur vorgenommen werden, wenn die Angemessenheit, Relevanz und Bedeutung des Falles dies rechtfertigen (vgl. dazu und zum Nachfolgenden BGer-Urteil 6B_572/2019 vom 8.4.2020 E. 3.2.2). Voraussetzung der Ausschreibung im SIS ist eine nationale Ausschreibung, die auf einer Entscheidung der zuständigen nationalen Instanz (Verwaltungsbehörde oder Gericht) beruht (Art. 24 Ziff. 1 SIS-II-Verordnung). Die Ausschreibung wird eingegeben, wenn die Entscheidung auf die Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung oder die nationale Sicherheit gestützt wird, die die Anwesenheit des betreffenden Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats darstellt (Art. 24 Ziff. 2 Satz 1 SIS-II-Verordnung). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die betreffende Person in einem Mitgliedstaat wegen einer Straftat verurteilt wurde, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht ist (Art. 24 Ziff. 2 lit. a SIS-II-Verordnung), oder wenn gegen sie der begründete Verdacht besteht, dass sie schwere Straftaten begangen hat, oder wenn konkrete Hinweise bestehen, dass sie solche Straftaten im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates plant (Art. 24 Ziff. 2 lit. b SIS-II-Verordnung). Das Bundesverwaltungsgericht versteht Art. 24 Ziff. 2 lit. a SIS-II-Verordnung in steter Praxis so, dass darunter Straftaten fallen, die mit einer Höchststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe oder mehr bedroht sind (vgl. etwa BVGer-Urteile F-953/2017 vom 20.12.2018 E. 7, C-7594/2014 vom 12.4.2016 E. 6.3; BVGE 2014/20 E. 5.3 und E. 8.5). Das Obergericht des Kantons Zürich geht indes davon aus, massgebend sei, ob der abstrakte Strafrahmen eine Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe aufweise, wobei die konkrete Strafhöhe aber ein tauglicheres Abgrenzungskriterium darstelle (vgl. OGer ZH SB180218 vom 5.11.2018 E. VII.2 sowie SB170246 vom 6.12.2017 E.III.3; zustimmend Zurbrügg/Hruschka, Basler Komm., 4. Aufl., vor Art. 66a-66d N 95 sowie Schneider/Gfeller, S. 8 f.). Der Wortlaut des Art. 24 Ziff. 2 Bst. a SIS-II-Verordnung lässt verschiedene Interpretationen zu. Das Abstellen auf eine abstrakte einjährige Mindeststrafe hätte jedoch zur Folge, dass bei diversen Anlassdelikten (inkl. Verbrechen wie z.B. schwere Körperverletzung, vgl. Art. 66a lit. b i.V.m. Art. 122 StGB) keine SIS-Ausschreibung erfolgen könnte. Dies wäre mit der Verpflichtung der Schweiz, im Geltungsbereichs des Schengen-Rechts die Interessen der Gesamtheit aller Schengen-Staaten zu wahren, kaum zu vereinbaren (vgl. dazu etwa BVGE 2011/48 E. 6.1 sowie weiterführend Paul-Lukas Good, Die Schengen-Assoziierung der Schweiz, Diss., St. Gallen 2010, vgl. zum Ganzen Entscheid des Obergerichts Schaffhausen 50/2018/33 vom 9.4.2019). Eine Ausschreibung im SIS setzt jedenfalls voraus, dass die Ausschreibungsvoraussetzungen von Art. 21 und Art. 24 SIS-II-Verordnung erfüllt sind (Erläuterungen des Bundesamtes für Justiz [BJ] vom 20.12.2016 zur Verordnung über die Einführung der Landesverweisung, S. 11). Eine Ausschreibung im SIS darf gemäss Art. 21 und Art. 24 Ziff. 1 SIS-II-Verordnung nur auf der Grundlage einer individuellen Bewertung unter Berücksichtigung des Verhältnismässigkeitsprinzips ergehen (Schneider/Gfeller, a.a.O., S. 9; Zurbrügg/Hruschka, a.a.O., vor Art. 66a-66d StGB N 96; Progin-Theuerkauf/Zoeteweij-Turhan/Turhan, Interoperabilität der Informationssysteme im Migrationsbereich – digitale Grenzkontrollen 2019, in: Jahrbuch für Migrationsrecht 2018/2019, S. 13). Im Rahmen dieser Bewertung ist bei der Ausschreibung gestützt auf Art. 24 Ziff. 2 SIS-II-Verordnung insbesondere zu prüfen, ob von der betroffenen Person eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Verhältnismässig ist eine Ausschreibung im SIS immer dann, wenn eine solche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung gegeben ist (Zurbrügg/Hruschka, a.a.O., vor Art. 66a-66d StGB N 97). Zu prüfen ist dabei namentlich, ob von der Person eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht, die sich nicht von vornherein auf das Territorium der Schweiz beschränkt (vgl. Art. 21 sowie Art. 24 Abs. 1 SIS-Verordnung; Zurbrügg/Hruschka, a.a.O., vor Art. 66a-66d N 97; Schneider/Gfeller, a.a.O., S. 11; BVGer F-953/2017 vom 20.12.2018 E. 7.3). Dabei kann nach Auffassung des Kantonsgerichts von einer Ausschreibung auch trotz Erfüllung der Voraussetzungen von Art. 24 Ziff. 1 und 2 SIS-II-Verordnung abgesehen werden, wenn sie sich als unverhältnismässig erweist (Schneider/Gfeller, a.a.O., S. 11). Im Einzelfall kann es geboten sein, auf eine SIS-Ausschreibung zu verzichten, wenn die mit der SIS-Ausschreibung einhergehende zusätzliche Beeinträchtigung der Bewegungsfreiheit z.B. aus beruflichen oder familiären Gründen unverhältnismässig wäre (vgl. zum Ganzen auch Entscheid des Obergerichts Schaffhausen 50/2018/33 vom 9.4.2019). Sind die Voraussetzungen von Art. 21 und Art. 24 Ziff. 1 und 2 SIS-II-Verordnung erfüllt, besteht eine Pflicht zur Ausschreibung im SIS (vgl. Schneider/Gfeller, a.a.O., S. 10 f., vgl. zum Ganzen BGer-Urteil 6B_572/2019 8.4.2020 E. 3.2.2). 3.4.2. Der Beschuldigte ist Drittstaatsangehöriger und wurde wegen der mehrfachen Widerhandlung gegen Art. 19 Abs. 1 BetmG, begangen als schwerer Fall nach Art. 19 Abs. 2 lit. a BetmG, zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 17 Monaten verurteilt. Der Beschuldigte erfüllt damit das Kriterium nach Art. 24 Ziff. 2 lit. a der SIS-II-Verordnung (Verurteilung in einem Mitgliedstaat wegen einer Straftat, die mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht ist). Der Beschuldigte weist bezüglich des qualifizierten Betäubungsmitteldeliktes jedoch keine einschlägige Vorstrafe auf. Auch bei der Prognosebeurteilung gilt, dass dem Beschuldigten im Strafregister gelöschte Vorstrafen nicht mehr entgegengehalten werden dürfen (BGE 135 IV 87 E. 2.4). Mit der Vorinstanz ist davon auszugehen, dass das vorliegende Strafverfahren einschliesslich der Untersuchungshaft eine abschreckende Wirkung auf den Beschuldigten erzielt hat, so dass unwahrscheinlich ist, dass es zu einem vergleichbaren Delikt kommen wird. Auch vor Kantonsgericht brachte der Beschuldigte seine Reue glaubhaft zum Ausdruck. Es handelte sich um eine gravierende, aber auch einmalige Entgleisung des Beschuldigten. Seit dem Vorgefallenen ist er in strafrechtlicher Hinsicht – soweit bekannt – nicht mehr in Erscheinung getreten. Er hat glaubhaft versichert, keine Drogen mehr zu konsumieren. Der Beschuldigte pflegt gefestigte familiäre Beziehungen und befindet sich im Aufbau eines eigenen Geschäfts. Seine Prognose ist nach dem Gesagten nicht nur als nicht ungünstig, sondern als gut zu beurteilen. Das Verschulden des Beschuldigten wurde gerade noch als leicht qualifiziert. Er hatte ausserdem beim Betäubungsmittelhandel eine untergeordnete Stellung inne und bewahrte die Drogen zur Finanzierung seines eigenen Konsums auf und nicht, um sich im grossen Stil zu bereichern. Wie bereits die Vorinstanz festgehalten hat, handelt es sich vorliegend nicht um eine solch gravierende Straftat, dass daraus gefolgert werden müsste, der Beschuldigte stelle ein ernstzunehmendes Risiko für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar. Dies gilt gleichermassen für den sog. Schengenraum. Eine Ausschreibung im ganzen Schengenraum würde den Beschuldigten überdies sehr hart treffen. Er pflegt den Kontakt zu seiner Tochter in der Schweiz regelmässig, was durch die Ausschreibung im SIS zweifellos erschwert würde. Er ist ausserdem im Begriff, ein international tätiges Geschäft mit Sportartikel aufzubauen. Die entsprechende GmbH und die Marke hat er in Deutschland eingetragen. Zudem bezieht er Einkommen aus einem von ihm als Geschäftsführer in Deutschland betriebenen Immobilienservice. Sein Neustart in Deutschland würde ihm durch die Ausschreibung verunmöglicht. Dadurch würde er auch Gefahr laufen, die von ihm zu bezahlenden Unterhaltsbeiträge für seine Kinder gar nicht mehr leisten zu können. Zweifellos wird bei schweren Betäubungsmitteldelikten, wie dem vorliegenden, in Beachtung des als hochwertig zu qualifizierenden Rechtsguts der Gefährdung der Gesundheit von vielen Menschen regelmässig auch die Ausschreibung der ausgesprochenen Landesverweisung im SIS vorzunehmen sein. Vom Beschuldigten geht jedoch, wie ausgeführt, keine grosse Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Schengenraum aus. Angesichts der in dieser Art einmaligen Tat, der guten Prognose und der in der Schweiz lebenden Tochter erweist sich eine Ausschreibung im SIS als unverhältnismässig. Von einer Ausschreibung im SIS ist hier daher – ausnahmsweise – abzusehen. |