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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:4. Abteilung
Rechtsgebiet:Erlassprüfung
Entscheiddatum:30.10.2020
Fallnummer:7R 20 3
LGVE:2020 IV Nr. 13
Gesetzesartikel:§ 191 VRG, § 192 Abs. 1 VRG, § 131 VRG, § 45 VRG; § 1 Abs. 1 VCov19, § 1 Abs. 2 VCov19, § 2a VCov19, § 10 VCov19.
Leitsatz:Im Verfahren der gerichtlichen Prüfung von Erlassen im Sinn von §§ 188 - 192 VRG als selbständiges Normenkontrollverfahren ist die Anordnung von vorsorglichen Massnahmen ausgeschlossen.
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist noch nicht rechtskräftig.
Entscheid:1.
Mit Verordnung über Massnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie vom 13. Oktober 2020 (VCov19; SRL Nr. 835a) beschloss der Regierungsrat des Kantons Luzern gestützt auf Art. 40 des Epidemiengesetzes vom 28. September 2012 (EpG; SR 818.101), Art. 8 der Covid-19-Verordnung
besondere Lage vom 19. Juni 2020 (SR 818.101.26) und § 54 Abs. 1 des Gesundheitsgesetzes vom 13. September 2005 (GesG; SRL Nr. 800) zusätzliche Massnahmen des Kantons zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie (vgl. § 1 Abs. 1 VCov19) Die Massnahmen dienen dazu, die Verbreitung des Coronavirus (Covid-19) zu verhindern und Übertragungsketten zu unterbrechen (§ 1 Abs. 2 VCov19). Unter dem Titel "Massnahmen betreffend öffentlich zugängliche Einrichtungen und Betriebe" ordnete der Regierungsrat an, dass Erotik- und Sexbetriebe für das Publikum geschlossen sind (§ 2a VCov19). Die Verordnung trat am 17. Oktober 2020 in Kraft und gilt (in der künftigen Fassung vom 31.10. 2020) bis zum 31. Januar 2021 (vgl. § 10 VCov19).

2.
Mit als "Verwaltungsgerichtsbeschwerde" genannter Eingabe vom 27. Oktober 2020 fochten die Antragsstellerinnen diese Verordnung mit Bezug auf die erwähnte Schliessung der Erotik- und Sexbetriebe an. Sie liessen im Wesentlichen beantragen, § 2a VCov19 betreffend die Schliessung der Erotik- und Sexbetriebe sei aufzuheben und die Aufhebung sei umgehend im Kantonsblatt zu veröffentlichen. Zudem beantragten sie unter Ziff. 4 ihrer Anträge:

"Den Beschwerdeführern 1 - 6 sei für die Dauer des Verfahrens zwischen 6 Uhr und 23 Uhr zu erlauben, in einem Erotik- und Sexbetrieb zu arbeiten und der Beschwerdeführerin 7 - 8 ihre Erotik- und Sexbetriebe im Kanton Luzern aufrecht zu erhalten."

In prozessualer Hinsicht beanspruchten sie, dass diesem Antrag superprovisorisch zu entsprechen sei. Zur Begründung machten sie im Wesentlichen geltend, sie würden in einem Erotik- und Sexbetrieb Dienstleistungen anbieten oder Erotik- und Sex-Betriebe führen. Durch das vollumfängliche Verbot für mindestens drei Monate seien sie ihrer Erwerbsmöglichkeit komplett beraubt. Insbesondere die mit der Anordnung verbundene Verletzung der Wirtschaftsfreiheit, die Verletzung der Rechtsgleichheit und der Rechtsvergleich zeige offensichtlich, dass es angemessen sei, den Antragsstellerinnen zu gestatten, ihre Arbeit unter zeitlichen Einschränkungen und unter einem Hygiene- und Schutzkonzept wiederaufzunehmen. Ein superprovisorischer Entscheid ohne Anhörung des Regierungsrats sei verhältnismässig, da eine massive zeitliche Dringlichkeit gegeben sei. Sie erlitten sonst massive Einbussen, welche nicht zurückerstattet würden.

3.
Über das Gesuch betreffend Erlass vorsorglicher Massnahmen ist vorab im Rahmen eines Zwischenentscheids zu befinden.

Diese Verfügung ergeht in Anwendung von § 21 Abs. 5 i.V.m. § 22 Abs. 1 und 2 lit. a der Geschäftsordnung für das Kantonsgericht des Kantons Luzern (GOKG; SRL Nr. 263) als Einzelrichterentscheid.

4.
4.1.
Indem die "Beschwerdeführerinnen" mit ihrer Eingabe die regierungsrätliche Verordnung VCov19 in Bezug auf eine der generell-abstrakten Anordnungen gerichtlich aufheben lassen wollen, wenden sie sich nicht gegen einen (gegen sie gerichteten) Entscheid in Anwendung der besagten Bestimmung von § 2a VCov19, sondern verlangen eine gerichtliche Prüfung, ob die Schliessung von Sex- und Erotikbetrieben im Sinn von § 2a VCoV19 verfassungs- oder gesetzwidrig sei. Dafür steht aber nicht das Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren, sondern allein das Normprüfungsverfahren, wie es das Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege (VRG; SRL Nr. 40) unter der verwaltungsgerichtlichen Prüfung von Erlassen im Sinn der §§ 188 - 192 regelt, zur Verfügung. Dementsprechend wurde auch das vorliegende Verfahren als Erlassprüfungsverfahren angelegt.

4.2.
Mit dem Urteil des Kantonsgerichts im Erlassprüfungsverfahren wird, wenn ein angefochtener Rechtssatz verfassungs- oder gesetzwidrig ist oder sonstwie einem übergeordneten Rechtssatz widerspricht, dieser aufgehoben. Die Aufhebung wird im Kantonsblatt veröffentlicht (vgl. § 192 Abs. 1 VRG).

Anders als für das Verwaltungsbeschwerde- und das Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren fehlen in der Verfahrensordnung für das Verfahren der Erlassprüfung Regeln über die aufschiebende Wirkung (vgl. für das Beschwerdeverfahren § 131 VRG) oder betreffend die Möglichkeit, vorsorgliche Massnahmen anzuordnen (vgl. § 45 VRG). Daraus, dass § 191 VRG für das Verfahren die §§ 132 - 141 VRG, nicht jedoch § 131 VRG, als sinngemäss anwendbar erklärt, ergibt sich, dass der Antrag auf Prüfung eines Erlasses keine aufschiebende Wirkung hat, d.h. das Inkrafttreten der angefochtenen Bestimmung und deren Anwendung nicht hindert. Entsprechend hat denn auch das ehemalige Verwaltungsgericht des Kantons Luzern die Anwendbarkeit von § 131 VRG auf das Verfahren für die Prüfung von Erlassen unter einlässlicher Auseinandersetzung mit der Literatur und der Entstehungsgeschichte des kantonalrechtlichen Normprüfungsverfahrens ausgeschlossen (LGVE 1984 II Nr. 45).

Sowohl die aufschiebende Wirkung als auch vorsorgliche Massnahmen bezwecken den tatsächlichen oder rechtlichen Zustand in einer Streitsache einstweilen unverändert zu bewahren oder bedrohte rechtliche Interessen vorläufig sicherzustellen (vgl. § 45 VRG). Da auch die Bestimmung von § 45 VRG genauso wenig wie diejenige von § 131 VRG durch den Verweis in § 191 VRG erfasst wird, fehlt für vorläufige Massnahmen im Verfahren der Normprüfung eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage. Damit zeigt sich indes nicht eine Lücke, die dem Richter erlaubte, die allgemeinen Verfahrensregeln auf das Normenkontrollverfahren zu übertragen. Vielmehr entspricht es dem Wesen und den Besonderheiten des Erlassprüfungsverfahrens. Beim Erlassprüfungsverfahren geht es um die Frage der Gültigkeit einer untergesetzlichen Rechtsnorm. Das Prüfungsverfahren dient dem Schutz des objektiven Rechts (vgl. Ruckli, Die abstrakte Prüfung von Erlassen durch das Verwaltungsgericht unter spezieller Berücksichtigung des Luzerner Verwaltungsrechtspflegegesetzes, Diss. Basel 1978, S. 118 f.). Wenn das Kantonsgericht die Ungültigkeit eines Rechtssatzes feststellt, geht die Wirkung dieses Urteils über den Einzelfall hinaus. Im Falle der Anordnung einer vorsorglichen Massnahme, welche die Aussetzung des Vollzugs der angefochtenen Vorschrift bezweckt, müsste dies gleichermassen gelten. Die Zulassung von vorsorglichen Massnahmen im Verfahren der abstrakten gerichtlichen Normenprüfung würde dazu führen, dass bereits die Hauptsachenprognose dazu führen könnte, die Ungültigkeit der Norm festzustellen und deren Rechtswirkungen allen Rechtsunterworfenen gegenüber aufzuheben. Letzteres wäre nicht nur mit der Publikation verbunden, sondern würde die Rechtssicherheit in erheblicher Weise beeinträchtigen. Sollte sich denn herausstellen, dass die Hauptsachenprognose falsch war, müsste der bisherige Rechtszustand wiederhergestellt und eine Ordnung für die zeitweise Aussetzung gerichtlich geschaffen werden. Solche Befugnisse wurden dem Gericht aber mit § 192 Abs. 1 VRG gerade nicht gegeben. Die Anordnung von vorsorglichen Massnahmen muss somit im Verfahren der gerichtlichen Prüfung von Erlassen im Sinn von §§ 188 - 192 VRG als selbständiges Normenkontrollverfahren entfallen, weil insoweit in letztlich unabänderlicher Weise das Ergebnis des Rechtsstreits vorweggenommen werden müsste (vgl. Ruckli, a.a.O., S. 119 f.).

Anzufügen bleibt, dass die in der Lehre und in der ausländischen Rechtsprechung vertretenen Auffassungen, bei wichtigen Gründen müssten vorsorgliche Massnahmen möglich sein, jedenfalls dann, wenn der Vollzug der Norm nur gegenüber dem Antragssteller ausgesetzt werden kann (vgl. Ruckli, a.a.O., S. 120), den Antragsstellerinnen nicht zu helfen vermöchten: Das Kantonsgericht ist allein befugt, im Fall festgestellter Ungültigkeit, den angefochtenen Rechtssatz aufzuheben (§ 192 Abs. 1 VRG). Es ist deshalb von vornherein ausgeschlossen, dass das Gericht im Massnahmenverfahren reformatorische Verordnungslösungen entscheiden würde, wie sie mit dem Antrag auf vorsorgliche Massnahmen verlangt werden (vgl. vorne E. 2).

Die von den Antragsstellerinnen gegen die Gültigkeit der angefochtenen Rechtsnorm vorgebrachten Argumente können deshalb nicht schon in einem Verfahren auf Anordnung von vorsorglichen Massnahmen berücksichtigt werden und der Antrag, den "Beschwerdeführerinnen" 1 - 6 sei für die Dauer des Verfahrens zwischen 6 Uhr und 23 Uhr zu erlauben, in einem Erotik- und Sexbetrieb zu arbeiten und den "Beschwerdeführerinnen" 7 - 8 ihre Erotik- und Sexbetriebe im Kanton Luzern aufrecht zu erhalten, ist abzuweisen.

5.
Bei diesem Ausgang entfällt eine Auseinandersetzung mit dem prozessualen Antrag, ohne Anhörung des Regierungsrats vorsorgliche Massnahmen für die Dauer des Verfahrens anzuordnen, von vornherein.

6.
(Nebenfolgeregelung)