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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:2. Abteilung
Rechtsgebiet:Strafrecht
Entscheiddatum:14.01.2021
Fallnummer:4M 20 51
LGVE:2021 II Nr. 3
Gesetzesartikel:Art. 13 StGB, Art. 15 StGB, Art. 19 Abs. 3 StGB, Art. 59 StGB.
Leitsatz:Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme bei Fehlen einer rechtswidrigen Anlasstat. Die Auslegung von Art. 19 Abs. 3 StGB ergibt, dass jedenfalls dann bei der Anlasstat auf die Voraussetzung der Rechtswidrigkeit verzichtet werden kann, wenn deren Ausschluss gerade Folge der psychischen Störung ist, die auch die Schuldunfähigkeit des Täters zur Folge hat.
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:Aus den Erwägungen:

3.4.1.
Wird jemand ohne Recht angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht, so ist der Angegriffene und jeder andere nach Art. 15 StGB berechtigt, den Angriff in einer den Umständen angemessenen Weise abzuwehren. Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt das Gericht die Tat zu Gunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich der Täter vorgestellt hat (Art. 13 Abs. 1 StGB). Nimmt der Täter irrtümlicherweise an, ein rechtswidriger Angriff im Sinne von Art. 15 StGB liege vor oder sei unmittelbar bevorstehend, liegt ein Fall von Putativnotwehr vor, der zur Rechtfertigung seiner Handlung führen kann (BGer-Urteil 6B_873/2018 vom 15.2.2019 E. 1.1.3 m.H.).

War der Täter zur Zeit der Tat nicht fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so ist er nicht strafbar (Art. 19 Abs. 1 StGB). Gemäss Art. 19 Abs. 3 StGB können indessen Massnahmen nach den Art. 59–61, 63, 64, 67, 67b und 67e getroffen werden. Nach Art. 59 Abs. 1 StGB kann das Gericht eine stationäre Behandlung anordnen, wenn der Täter psychisch schwer gestört ist, sein Verbrechen oder Vergehen mit seiner psychischen Störung in Zusammenhang steht und zu erwarten ist, dadurch lasse sich der Gefahr weiterer mit seiner psychischen Störung in Zusammenhang stehender Taten begegnen.

Art. 59 Abs. 1 StGB setzt für die Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme neben den übrigen Erfordernissen voraus, dass der Täter ein Verbrechen oder Vergehen begangen hat, das mit seiner psychischen Störung im Zusammenhang steht. Das Anordnungskriterium der Anlasstat wird gemeinhin dahingehend verstanden, dass die beschuldigte Person ein Verbrechen oder Vergehen vorsätzlich und rechtswidrig, nicht notwendigerweise aber auch schuldhaft begangen haben muss (Bommer, Basler Komm., 2. Aufl. 2014, Art. 375 StPO N 4; Heer/Habermeyer, Basler Komm., 4. Aufl. 2019, Art. 59 N 43a; Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht –Allgemeiner Teil I: Die Straftat, 4. Aufl. 2011, § 8 N 18).

Der Beschuldigte beruft sich vorliegend auf den Rechtfertigungsgrund der (Putativ-)Notwehr und will damit das Erfordernis der rechtswidrigen Anlasstat als nicht erfüllt wissen. Es gilt somit die Frage zu klären, ob das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrunds der Anordnung einer strafrechtlichen Massnahme entgegensteht, und dies auch dann, wenn sich die mangelnde Rechtswidrigkeit gerade aus der psychischen Störung des Täters ergibt, die zu dessen Schuldunfähigkeit führt (siehe hierzu Stratenwerth/Bommer, Schweizerisches Strafrecht – Allgemeiner Teil II: Strafen und Massnahmen, 3. Aufl. 2020, § 8 N 6; Thommen/Habermeyer/Graf, Tatenlose Massnahmen?, sui generis 2020, S. 329; Urteil des Obergerichts Schaffhausen OGE 50/2019/24 vom 26.5.2020).

3.4.2.
Eine Strafe oder Massnahme darf nur wegen einer Tat verhängt werden, die das Gesetz ausdrücklich unter Strafe stellt (Art. 1 StGB). Ausgangspunkt der Gesetzesanwendung ist der Gesetzestext (grammatikalisches Element). Ist der Wortlaut der Bestimmung klar, d.h. eindeutig und unmissverständlich, darf davon nur abgewichen werden, wenn ein triftiger Grund für die Annahme besteht, der Wortlaut ziele am "wahren Sinn" der Regelung vorbei. Anlass für eine solche Annahme können die Entstehungsgeschichte der Bestimmung (historisches Element), ihr Zweck (teleologisches Element) oder der Zusammenhang mit andern Vorschriften (systematisches Element) geben. Nur für den Fall, dass der Wortlaut der Bestimmung unklar bzw. nicht restlos klar ist und verschiedene Interpretationen möglich bleiben, muss nach der wahren Tragweite der Bestimmung gesucht werden. Dabei sind alle anerkannten Auslegungselemente zu berücksichtigen. Auch eine solche Auslegung findet ihre Grenzen aber am klaren Wortlaut und Sinn einer Gesetzesbestimmung, indem der eindeutige Wortsinn nicht zugunsten einer solchen Interpretation beiseitegeschoben werden darf. In diesen Grenzen ist eine Gesetzesauslegung auch zu Lasten der beschuldigten Person im Strafprozess zulässig (BGE 143 I 272 E 2.2.3, 128 IV 272 E. 2 je m.H.).

3.4.2.1.
Die massgebenden Bestimmungen des Strafgesetzbuchs lassen offen, ob die Massnahmenanordnung bei schuldunfähigen Tätern stets eine rechtswidrig begangene Straftat voraussetzt. Namentlich Art. 19 Abs. 3 StGB, der einzig festhält, dass bei schuldunfähigen Tätern strafrechtliche Massnahmen getroffen werden können, erweist sich diesbezüglich als auslegungsbedürftig. Immerhin ist festzuhalten, dass die letztgenannte Norm – wie auch Art. 59 Abs. 1 StGB – die Rechtswidrigkeit der Anlasstat nicht explizit erwähnen, dieses in der Lehre genannte Erfordernis sich demnach nicht direkt aus dem Wortlaut des Gesetzes ableiten lässt.

3.4.2.2.
Wenig Klarheit bringt diesbezüglich die Entstehungsgeschichte von Art. 19 Abs. 3 StGB. Bereits der Entwurf zu einem schweizerischen Strafgesetzbuch vom 23. Juli 1918 hatte in dessen Art. 13 und 14 die Anordnung von Massnahmen bei unzurechnungsfähigen Straftätern vorgesehen. Die Botschaft aus dem Jahr 1918 hält hierzu fest, mit der Freisprechung oder dem Ausser-Verfolgung-Setzen des unzurechnungsfähigen Urhebers einer Schädigung oder einer Gefährdung sei noch recht wenig erreicht, weshalb auch in diesen Fällen das Gemeinwesen einzuschreiten habe. Der Entscheid über die Unterbringung solcher Personen sei nicht nur aus Effizienzgründen, sondern auch deshalb durch das Strafgericht zu treffen, weil es sich um folgeschwere Anordnungen handle. Ausserdem sei so die öffentliche Sicherheit eher gewährleistet. Der Richter brauche bei dieser Regelung nicht mehr zu befürchten, Letztere zu gefährden, wenn er einem Gutachten folge, das auf Unzurechnungsfähigkeit laute. Weder der Angeschuldigte noch der Verteidiger würden sich zudem künftig leichtsinnig hinter die Einrede der Unzurechnungsfähigkeit verschanzen (Botschaft des Bundesrats vom 23.7.1918 zu einem Gesetzesentwurf enthaltend das schweizerische Strafgesetzbuch, BBl 1918 IV S. 1 ff.). Ihren Niederschlag gefunden hat die entsprechende Regelung in Art. 10 der bis 31. Dezember 2006 geltenden Fassung des Strafgesetzbuchs. Anlässlich der Revision des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs im Jahr 2007 wurde diese in den heutigen Art. 19 Abs. 3 StGB überführt. Die Botschaft zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches (Allgemeine Bestimmungen, Einführung und Anwendung des Gesetzes) und des Militärstrafgesetzes sowie zu einem Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht vom 21. September 1998 (BBl 1999, S. 1979 ff.) erwähnt zwar an verschiedener Stelle die Möglichkeit, Massnahmen auch bei schuldunfähigen Tätern anzuordnen (S. 1985, 2068 f., 2095 und 2098). Die Bestimmung des heutigen Art. 19 Abs. 3 StGB wird dort indes nicht kommentiert.

Aus den amtlichen Bulletins von National- und Ständerat über die Beratung des heute geltenden Strafgesetzbuchs ergeben sich keine massgebenden Erkenntnisse zur Auslegung von Art. 19 Abs. 3 StGB (AB Ständerat 1999 S. 1111, AB Nationalrat 2001 S. 553 f., AB Ständerat 2001 S. 508).

3.4.2.3.
Keine eindeutigen Schlüsse zur Frage, ob die fehlende Rechtswidrigkeit der Anlasstat die Anordnung einer strafrechtlichen Massnahme in allen Fällen ausschliesst, lässt sich sodann aus der Gesetzessystematik ableiten. Dass die Möglichkeit der Anordnung strafrechtlicher Massnahmen für schuldunfähige Straftäter im Gesetz unter der Marginalie "Schuldunfähigkeit und verminderte Schuldfähigkeit" und nicht (auch) unter dem Titel der Rechtswidrigkeit geregelt wird, könnte dafür sprechen, dass bei der Anlasstat als Voraussetzung der therapeutischen und sichernden Massnahmen einzig auf das Erfordernis der Schuldfähigkeit, nicht jedoch auf jenes der Rechtswidrigkeit verzichtet werden sollte. Indes ist anzunehmen, dass die systematische Einordnung der entsprechenden Vorschrift vielmehr praktischen Gründen geschuldet ist, dürfte die fehlende Strafbarkeit eines psychisch schwer gestörten und behandlungsbedürftigen Straftäters doch in sämtlichen denkbaren Fällen in erster Linie auf dessen fehlende Schuldfähigkeit und nur ausnahmsweise zusätzlich auf die fehlende Rechtswidrigkeit der Tat zurückzuführen sein. Dafür, dass die Anordnungsvoraussetzungen der therapeutischen Massnahmen und der Verwahrung nicht nur was die Schuldfähigkeit betrifft, sondern auch darüber hinaus losgelöst von den Voraussetzungen der Strafen im engeren Sinne zu beurteilen sind, spricht im Übrigen, dass diese in den Art. 56, 59 ff. und 64 StGB umfassend separat geregelt sind. Es ist demnach fraglich, ob es der Bestimmung von Art. 19 Abs. 3 StGB in dieser Form überhaupt bedurft hätte (vgl. Bommer/Dittmann, Basler Komm., 4. Aufl. 2019, Art. 19 StGB N 45).

Die strafprozessualen Vorschriften zum Verfahren bei einer schuldunfähigen beschuldigten Person bringen zur hier interessierenden Frage ebenso wenig Klarheit. Art. 375 Abs. 1 StPO hält fest, dass das Gericht die beantragte oder eine andere Massnahme anordnet, wenn es die Täterschaft und die Schuldunfähigkeit für erwiesen und die Massnahme für erforderlich hält. Darüber, ob die "Täterschaft" die Rechtswidrigkeit der Anlasstat miteinschliesst, leistet das Gesetz keinen Aufschluss.

3.4.2.4.
Für die Auslegung von Art. 19 Abs. 3 StGB ist demnach das teleologische Element entscheidend.

Den therapeutischen und sichernden Massnahmen kommt im dualistischen Sanktionensystem des schweizerischen Strafrechts eine besondere, über die herkömmliche Sanktionsform der Strafe hinausreichende Bedeutung zu. Dies findet in Art. 56 Abs. 1 lit. a StGB seinen Ausdruck, der festhält, dass eine Massnahme anzuordnen ist, wenn eine Strafe allein nicht geeignet ist, der Gefahr weiterer Straftaten des Täters zu begegnen. Wie das Gesetz an dieser Stelle deutlich macht, besteht der den therapeutischen und sichernden Massnahmen eigene Zweck in der Deliktsverhütung, genauer: in der Spezialprävention (Heer, Basler Komm., 4. Aufl. 2019, Vor Art. 56 StGB N 2 ff.; Stratenwerth/Bommer, a.a.O., § 8 N 2; BGE 137 IV 201 E. 1.3). Ihr oberstes Ziel und gleichzeitig Legitimationsgrundlage für diese Form kriminalrechtlicher Sanktionen ist der Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Delikten des Täters.

Bei den strafrechtlichen Behandlungsmassnahmen – um die es im hier massgeblichen Zusammenhang geht – soll die deliktpräventive Wirkung in erster Linie durch eine therapeutische Einwirkung auf den Täter erreicht werden. Im Gegensatz zur Strafe bildet bei diesen Massnahmen neben der Anlasstat deshalb stets eine ausgeprägte Rückfallgefahr des Straftäters Anknüpfungspunkt für die Anordnung der Sanktion. Die besondere Sozialgefährlichkeit des Täters muss überdies in einem (behandlungsbedürftigen) psychischen Defektzustand desselben gründen, sei es in Form einer schweren psychischen Störung (Art. 59 und 63 StGB), einer Abhängigkeit (Art. 60 und 63 StGB) oder einer Störung der Persönlichkeitsentwicklung (Art. 61 StGB). Der Anlasstat kommt im Massnahmenrecht nach dem Gesagten nicht die gleiche Bedeutung zu, wie im übrigen Bereich des Strafrechts. Zwar ist sie unabdingbare Voraussetzung jeder kriminalrechtlichen Sanktion und muss ihr überdies Symptomcharakter für die vom Täter ausgehende Rückfallgefahr zukommen (Stratenwerth/Bommer, a.a.O., § 8 N 11 ff.). Als Anordnungskriterium von Behandlungsmassnahmen beschränkt sich ihr Gehalt neben ihrer Funktion als Anknüpfungspunkt für das Strafrecht jedoch weitestgehend auf die daraus abzuleitenden Erkenntnisse für die Legalprognose des Betroffenen. Für die konkrete Wahl der im Einzelfall angezeigten Massnahme wie auch namentlich für die Bemessung der Massnahmendauer spielt sie – anders als bei der Bemessung der Strafe – nur eine untergeordnete Rolle. Im Vordergrund stehen hier vielmehr die psychischen Defizite des Täters und die sich daraus ergebende Rückfallprognose.

Nachdem therapeutische und sichernde Massnahmen in erster Linie der Deliktsverhütung dienen, sind die Gründe dafür, nach Art. 19 Abs. 3 StGB die Anordnung strafrechtlicher Massnahmen auch bei vollumfänglich schuldunfähigen Tätern zur Anwendung bringen zu lassen, vorrangig im damit angestrebten Schutz der öffentlichen Sicherheit zu sehen. Dies ergibt sich, wie dargelegt (vorne E. 3.4.2.2), im Übrigen auch aus der Entstehungsgeschichte der Norm. Die Botschaft zum Entwurf des Strafgesetzbuchs von 1918 nannte dies explizit als Grund dafür, das Strafgericht und nicht zivilrechtliche oder Administrativbehörden über die Unterbringung dieser Personen entscheiden zu lassen, falls eine solche angezeigt ist. Bei dieser Ausgangslage wäre es sinnwidrig, dem Gesetzgeber zu unterstellen, er habe die Anordnung von Massnahmen bei Tätern, die aufgrund ihrer zur Schuldunfähigkeit führenden psychischen Störung nicht rechtswidrig gehandelt haben, nicht vor Augen gehabt. Es ist darauf hinzuweisen, dass gerade von Tätern, die gestützt auf eine krankhaft bedingte Wahnvorstellung eine schwere Straftat begehen, unbehandelt zumeist eine besonders ausgeprägte Rückfallgefahr ausgeht. Namentlich an paranoider Schizophrenie leidende Personen weisen ein deutlich erhöhtes Gewaltrisiko auf (vgl. Heer/Habermeyer, Basler Komm., 4. Aufl. 2019, Art. 59 StGB N 69a m.H.), zumal dann, wenn sich ihre Gefährlichkeit in einer konkreten Tat manifestiert hat. Vor allem in diesen Fällen dürfte es aber am häufigsten vorkommen, dass die psychische Störung die Vorstellung des Täters derart beeinflusst, dass dessen Handlungen die Rechtswidrigkeit abgesprochen werden muss. Dass gerade in diesen wichtigsten Fällen die Anwendung von Art. 19 Abs. 3 StGB ausgeschlossen sein soll, kann gesetzgeberisch nicht gewollt sein. Vielmehr ist mit Blick auf die Entstehungsgeschichte der Norm und die vornehmliche Ausrichtung des Massnahmenrechts auf die Spezialprävention davon auszugehen, dass damit auch schuldunfähige Täter erfasst werden sollten, deren psychische Störung sich nicht nur negativ auf deren Schuldfähigkeit, sondern auch auf die Rechtswidrigkeit der von ihnen begangenen Straftat auswirkte.

Dieses Ergebnis entspricht vereinzelt bereits der Rechtsprechung kantonaler Gerichte (Urteil des Obergerichts Schaffhausen OGE 50/2019/24 vom 26.5.2020 E. 6) sowie dem überwiegenden Teil der deutschen Strafrechtslehre zur analogen Regelung in der Bundesrepublik Deutschland. Dort geht die herrschende Meinung zwar davon aus, dass eine therapeutische Massnahme nach § 63 StGB eine rechtswidrige Anlasstat voraussetze. Bei Vorliegen eines Irrtums, bei dem die Rechtswidrigkeit der Tat entfallen könnte, ist gemäss der herrschenden Meinung indes zwischen allgemeinen und krankheitsbedingten Fehlvorstellungen zu unterscheiden (u.a. Schöch, Leipziger Kommentar, 12. Aufl. 2016, § 63 StGB N 44). Eine allgemeine Fehlvorstellung ist nicht auf den krankhaften Geisteszustand zurückzuführen, sondern hätte auch einem "gesunden" Täter unterlaufen können. Allgemeine Fehlvorstellungen dürfen danach – auch bei einem Schuldunfähigen – nicht zur Unterbringung führen, es sei denn, die Tat bildet auch in der vom Täter irrtümlich angenommenen konkreten Gestalt immer noch eine taugliche Grundlage zur Unterbringung (Kaspar, in: Satzger/Schluckbier/Widmaier [Hrsg.], StGB Kommentar, 4. Aufl. 2019, § 63 StGB N 14; Schöch, a.a.O., § 63 N 45). Krankheitsbedingte Fehlvorstellungen, d.h. Vorstellungen, die nur durch den abnormen geistigen und seelischen Zustand des Täters bedingt sind, schliessen die Unterbringung hingegen nicht aus (Schöch, a.a.O., § 63 N 46; Kaspar, a.a.O.; Van Gemmern, Münchener Kommentar, 4. Aufl. 2020, § 63 StGB N 14). Ein defektbedingter Irrtum ist für die Massregelordnung somit irrelevant bzw. unbeachtlich (Eschelbach, in: Matt/Renzikowski [Hrsg.], StGB, 2. Aufl. 2020, § 63 StGB N 21; Van Gemmern, a.a.O.). Nach überwiegender Meinung ist diese Ansicht durch den Schutzzweck des § 63 StGB gerechtfertigt. Die Anordnung von therapeutischen Massnahmen dient primär dem Schutz der Öffentlichkeit und nicht der Bestrafung des Täters. Deshalb sollen besonders gefährliche Täter vom Anwendungsbereich der Vorschrift gerade nicht ausgenommen werden. Denn würde man krankheitsbedingte Irrtümer aufgrund von Wahnvorstellungen zum Anlass nehmen, die Massregel nicht anzuordnen, so würde sie gerade auf objektiv besonders gefährliche Personen nicht angewendet (Eschelbach, a.a.O.).

Anders zu entscheiden hiesse, Täter, deren psychische Störung so tiefgreifend ist, dass sie neben der Schuld auch die Rechtswidrigkeit der von ihm begangenen Tat entfallen lassen, von Anwendungsbereich strafrechtlicher Massnahmen auszuschliessen. Damit würde gerade jenen Personen eine therapeutische oder sichernde Massnahme versagt, bei denen diese am dringendsten angezeigt wäre, fehlt ihnen doch aufgrund ihrer psychischen Störung die Erkenntnis über die Gefährlichkeit ihres Tuns. Ausserstrafrechtliche Vorkehren vermöchten eine solche Lücke nicht zu schliessen. Namentlich die Fürsorgerische Unterbringung nach Art. 426 ZGB ist dazu nicht geeignet. Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichts kann diese zivilrechtliche Massnahme keine Anwendung finden, wenn sie sich allein auf die vom Betroffenen ausgehende Fremdgefährdung stützt. Aus der Fremdgefährdung lässt sich überdies nicht ohne weiteres auf eine die Fürsorgerische Unterbringung rechtfertigende Selbstgefährdung schliessen (BGE 145 III 441 E. 8.3 f., 138 III 593 E. 3).

Dass Kantonsgericht verkennt nicht, dass in Fällen wie dem vorliegenden – verzichtet man auf das Erfordernis der Rechtswidrigkeit der Anlasstat – eine strafrechtliche Sanktion Anwendung findet, ohne dass der Täter tatbestandliches Unrecht begangen hätte (vgl. Stratenwerth, a.a.O., § 8 N 19 ff). In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass bei zumindest teilweise schuldfähigen Tätern die stationäre therapeutische Massnahme, die nach der Konzeption des Strafgesetzbuchs jedenfalls zum Teil an die Stelle der Strafe tritt (vgl. Art. 57 Abs. 2 und 3 StGB), auch Strafzwecke im engeren Sinn ersetzt. Bei gänzlich schuldunfähigen Tätern fällt dieser Aspekt der Massnahme mangels Vorwerfbarkeit jedoch ausser Betracht. Der Verzicht auf das Erfordernis der Rechtswidrigkeit in jenen Fällen, in denen sich dessen Fehlen aus dem Schuldausschlussgrund ergibt, ist unter diesem Gesichtspunkt deshalb vertretbar. Ausserdem ist darauf hinzuweisen, dass dem Erfordernis einer zumindest tatbestandsmässigen Anlasstat weiterhin die Funktion einer Eintrittsschwelle in das Strafrecht zukommt. Auch ist nach wie vor vorausgesetzt, dass die Anlasstat gerade Ausdruck der besonderen, sich aus der psychischen Störung ergebenden Sozialgefährlichkeit des Täters ist.

3.4.2.5.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass dem Wortlaut von Art. 19 Abs. 3 StGB nicht entnommen werden kann, ob für die Anordnung therapeutischer und sichernder Massnahmen bei schuldunfähigen Personen stets eine tatbestandswidrige und rechtswidrige Anlasstat vorliegen muss. Die Auslegung der Norm hat ergeben, dass jedenfalls dann bei der Anlasstat auf die Voraussetzung der Rechtswidrigkeit verzichtet werden kann, wenn deren Ausschluss gerade Folge der psychischen Störung ist, die auch die Schuldunfähigkeit des Täters zur Folge hat.

3.4.3.
Vorliegend kann demnach offenbleiben, ob der Beschuldigte – wie die Verteidigung geltend macht – die Tat in Putativnotwehr begangen hat. Die zur Annahme eines solchen Rechtfertigungsgrunds angeführten Wahrnehmungen des Beschuldigten waren unzweifelhaft Ausdruck seiner im Tatzeitpunkt vorliegenden schweren psychischen Störung, die zu seiner Schuldunfähigkeit führten. Die Anordnung einer Massnahme gestützt auf Art. 19 Abs. 3 StGB bleibt nach dem Gesagten somit möglich.

Zum gleichen Ergebnis gelangte – wenn auch unter dem Titel der Rechtswidrigkeit bzw. Notwehr – das Obergericht Schaffhausen (OGE 50/2019/24 vom 26.5.2020), wonach sich der Beschuldigte nicht auf Art. 13 StGB berufen könne, wenn es sich um einen wahnhaft bedingten Irrtum handle, der gerade im schuldausschliessenden psychischen Zustand des Beschuldigten begründet sei (a.a.O. E. 6.7; siehe ferner Thommen/Habermeyer/Graf, Tatenlose Massnahmen?, sui generis 2020, Rz. 37 f.).