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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:2. Abteilung
Rechtsgebiet:Familienrecht
Entscheiddatum:26.01.2021
Fallnummer:3B 19 55
LGVE:2021 II Nr. 4
Gesetzesartikel:Art. 296 Abs. 3 ZPO; Art. 122 Abs. 2 ZPO.
Leitsatz:Fehlt es an einem rechtsgenüglich erhobenen Antrag auf Anordnung der alternierenden Obhut, kann eine solche auch nicht unter dem Titel der Offizialmaxime im Sinne von Art. 296 Abs. 3 ZPO angeordnet werden.
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
BGer-Urteil 5A_165/2021 vom 8.3.2021
Entscheid:Der Beklagte und die Klägerin 2 sind die unverheirateten, getrennt lebenden Eltern der Klägerin 1.

Aus den Erwägungen:

5.
Der Beklagte beantragte vor Bezirksgericht am 25. September 2017 zunächst eine Ausweitung seiner Betreuungszeiten gegenüber dem Entscheid der KESB vom 22. März 2016 und im Verlauf des Verfahrens am 29. April 2019 eine geteilte Obhut ab Eintritt der Klägerin 1 in den Kindergarten im Sommer 2021. Die Klägerinnen beantragten die Bestätigung der alleinigen Obhut der Klägerin 2. Die Vorinstanz hat in der Folge in ihrem Urteil der Klägerin 2 die alleinige Obhut zugeteilt.

Anlässlich seiner Berufung vom 30. September 2019 hat der Beklagte keinen Antrag auf geteilte bzw. alternierende Obhut gestellt. Solches beantragte er erstmals mit seiner Eingabe vom 26. August 2020. Wie (…) ausgeführt, gilt im vorliegenden Verfahren die Offizialmaxime. Nach Art. 296 Abs. 3 der Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO; SR 272) entscheidet das Gericht bei Kinderbelangen in familienrechtlichen Angelegenheiten ohne Bindung an die Parteianträge. Die Offizialmaxime gilt in diesen Angelegenheiten auch vor der kantonalen Rechtsmittelinstanz. Ob ein Rechtsmittel ergriffen werden soll und in welchem Umfang, steht allerdings in der Disposition der Parteien, unabhängig davon, ob sie über das streitige Recht verfügen können oder nicht. Die Einleitung des Rechtsmittelverfahrens setzt damit auch unter der Geltung der Offizialmaxime voraus, dass eine Partei ein form- und fristgerechtes Rechtsschutzersuchen an die Rechtsmittelinstanz richtet. Während somit die formellen Voraussetzungen der Berufungsschrift die (gültige) Einleitung des Berufungsverfahrens betreffen, geht es bei der Offizialmaxime darum, dass das Gericht in der Folge nicht an die (tatsächlich gestellten) Parteianträge gebunden ist und von diesen abweichen kann (vgl. BGer-Urteil 5A_926/2019 vom 30.6.2020 E. 4.4.2).
Nachdem der Beklagte die alleinige Obhutszuteilung der Klägerin 1 an die Klägerin 2 nicht angefochten hat, wäre er grundsätzlich nicht berechtigt, im Rahmen des laufenden Verfahrens die alternierende Obhut zu beantragen. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass das Gesetz den Begriff der Obhut zwar verschiedentlich verwendet, indessen fehlt es an einer klaren Definition. Insbesondere sind die Begriffe der Obhutszuteilung, der Betreuungsanteile sowie des Besuchsrechts nicht klar abgrenzbar (vgl. dazu auch: BGer-Urteil 5A_418/2019 vom 29.8.2019 E. 3.5.2). Von daher könnte man den Antrag des Beklagten auch als Klageänderung im Sinne von Art. 227 ZPO betrachten. Im Berufungsverfahren ist eine Klageänderung nur unter den Voraussetzungen von Art. 317 Abs. 2 lit. a und b ZPO möglich (neue Tatsachen und Beweismittel). Der Beklagte unterlässt es, solche neue Tatsachen zu benennen und solche sind auch nicht ersichtlich. Die Klageänderung ist daher unzulässig und somit grundsätzlich nicht zu berücksichtigen. Somit fehlt es an einem rechtsgenüglich erhobenen Antrag auf Anordnung der alternierenden Obhut, weshalb auch im Sinne der oben geschilderten Rechtsprechung zur Offizialmaxime eine solche nicht angeordnet werden kann. Im Sinne einer Eventualbegründung ist festzustellen, dass die Anordnung einer alternierenden Obhut vorliegend dem Kindeswohl widersprechen würde. Zwar ist davon auszugehen, dass beide Eltern erziehungsfähig sind und die geografische Distanz der beiden Wohnorte mindestens heute nicht gegen eine geteilte Obhut sprechen. Jedoch ist mit der Vorinstanz einig zu gehen, dass die für eine solche Regelung notwendige Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit zwischen den Eltern der Klägerin 1 fehlen. Das zeigt das vorliegende Verfahren vor Kantonsgericht in eindrücklicher Weise. Die Eltern haben es somit auch seit dem Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens im Sommer 2019 nicht geschafft, ihr hochkonfliktöses Verhalten bezüglich der Kinderbelange abzulegen. Entgegen der Ansicht des Beklagten ist das nicht allein die Schuld der Klägerin 2, welche ihn provoziere und immer darauf abgezielt habe, den Konflikt zwischen ihnen zu schüren. Immerhin war das Kantonsgericht mehrmals gezwungen, auch den Beklagten schriftlich darauf hinzuweisen, dass das erstinstanzlich angeordnete Besuchsrecht gelte und er sich daran zu halten habe, insbesondere nicht eigenwillig ausgefallene Betreuungstage zu kompensieren bzw. die Klägerin 1 über Tage nicht an die Klägerin 2 herauszugeben. In einer solchen Situation gibt es für die Regelung einer alternierenden Obhut keinen Platz, selbst wenn der Beklagte in seiner Berufung den Antrag auf alternierende Obhut unter Nennung neuer Tatsachen und Beweismittel gestellt hätte.
10.
Vorliegend haben die Klägerinnen ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gestellt, unter Beigabe von Z als unentgeltlicher Rechtsbeistand. Dass die Klägerin 1 über keine finanziellen Mittel verfügt, ist offensichtlich. Zu beachten ist jedoch, dass nach Art. 276 des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs (ZGB; SR 210) die elterliche Unterhaltspflicht grundsätzlich auch die Übernahme von Prozesskosten des Kindes umfasst, da die familienrechtliche Unterstützungspflicht der staatlichen Pflicht zur Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege vorgeht (vgl. Jozic/Boesch, Die unentgeltliche Rechtspflege im Zivilprozess, 4. Aufl. 2012, Ziff. 2.2; Maier, FamPra.ch 2014, S. 639). In diesem Sinne ist ein Kind nur insoweit mittelllos, als es auch seine beiden Elternteile sind (Bühler, Berner Komm., 2012, Art. 117 ZPO N 47). Damit hat das Gericht bei der Prüfung des Anspruchs der unentgeltlichen Rechtspflege grundsätzlich auch die finanziellen Verhältnisse der Eltern zu prüfen. Wie aus der vorliegenden Berechnung der Unterhaltsbeiträge bzw. der Feststellung der finanziellen Situation der Klägerin 2 und des Beklagten hervorgeht, ist die Klägerin 2 bedürftig im Sinne von Art. 117 Abs. 1 lit. a ZPO, der Beklagte hingegen nicht. Wie aus folgender Erwägung ersichtlich, wird dem Beklagten im Berufungsverfahren die Bezahlung der Anwaltskosten der Klägerinnen auferlegt. Anhaltspunkte dafür, dass der Beklagte diese Kosten nicht bezahlen kann, gibt es keine. Andererseits ist vorliegend zu berücksichtigen, dass die Überwälzung des erfolgreichen Inkassorisikos auf den klägerischen Rechtsvertreter stossend wäre, zumal er seinerseits für die Klägerinnen ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gestellt hat. Von daher ist den Klägerinnen die unentgeltliche Rechtspflege in dem Sinne zu erteilen, als Z als unentgeltlicher Beistand eingesetzt wird. Sollte die Parteientschädigung nicht einbringlich sein, kann der klägerische Parteivertreter ein Gesuch nach Art. 122 Abs. 2 ZPO einreichen.