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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:3. Abteilung
Rechtsgebiet:Krankenversicherung
Entscheiddatum:21.08.2020
Fallnummer:5V 19 339
LGVE:2021 III Nr. 5
Gesetzesartikel:Art. 49 ATSG, Art. 58 ATSG; Art. 25a Abs. 5 KVG, Art. 47 KVG; § 6 Abs. 1 BPG, § 7 Abs. 1 BPG, § 8 Abs. 1 BPG, § 16 Satz 2 BPG, § 17 Abs. 3 BPG.
Leitsatz:Die Verfahrensregeln des ATSG sind grundsätzlich nicht zugeschnitten auf Streitigkeiten betreffend Restkostenfinanzierung zwischen Leistungserbringern und Versicherungsträgern. Aufgrund des expliziten Verweises in § 17 Abs. 3 BPG fällt die Prüfung der Beschwerde gegen den Einspracheentscheid des Gemeinwesens (welchem gemäss § 16 Satz 2 BPG im Zusammenhang mit der Restkostenfinanzierung die Stellung eines Versicherungsträgers zukommt) gleichwohl in die sachliche Zuständigkeit des Kantonsgerichts (E. 1.2 f.). Zu begrüssen wäre indessen die Schaffung eines gesonderten Überprüfungs- oder Schlichtungsverfahrens analog der Regelung von Art. 47 KVG (E.1.4).
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:Das Pflegeheim A, Luzern, erbringt im Bereich der Langzeitpflege Leistungen der stationären Grundversorgung und der stationären Spezialversorgung (Pflegeheimliste für den Kanton Luzern, gültig ab 1.7.2017). Der Stadt Luzern obliegt die Restfinanzierung der ungedeckten Pflegekosten im Sinn von § 6 ff. des Betreuungs- und Pflegegesetzes (BPG; SRL Nr. 867) i.V.m. Art. 25a Abs. 5 des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG; SR 832.10).

Die Parteien verhandelten über den massgebenden Vollkostentarif für das Jahr 2019, ohne zu einer Einigung zu gelangen. Am 28. Januar 2019 unterzeichneten sie eine provisorische Leistungsvereinbarung. Auf entsprechenden Antrag des Pflegeheims A setzte die Stadt Luzern mit Verfügung vom 15. Mai 2019 den Vollkostentarif für das Jahr 2019 auf Fr. 1.30 pro Pflegeminute fest, was sie mit Einspracheentscheid vom 11. September 2019 bestätigte.

Dagegen liess das Pflegeheim A Beschwerde erheben. Beantragt wurde unter anderem die Aufhebung des angefochtenen Entscheids und die Festsetzung des Vollkostentarifs 2019 auf Fr. 1.33 pro Pflegeminute. Das Kantonsgericht tauschte sich vorab mit den Parteien und dem kantonalen Gesundheits- und Sozialdepartement (GSD) betreffend sachliche Zuständigkeit aus. Am 20. Januar 2020 setzte es den ordentlichen Schriftenwechsel fort.

Die Stadt Luzern schloss in ihrer Vernehmlassung auf Abweisung der Beschwerde. In den weiteren Schriftenwechseln hielten die Parteien an ihren Anträgen fest.

Aus den Erwägungen:

1.
1.1
Beim vorliegenden Verfahren handelt es sich um eine Streitigkeit zwischen einem Leistungserbringer und der restfinanzierungspflichtigen öffentlichen Hand (Art. 25a Abs. 5 KVG). Die gestützt auf Art. 25a Abs. 5 KVG ergangenen Bestimmungen über die Restfinanzierung von Pflegekosten und das anwendbare Verfahren finden sich im kantonalen BPG. Zuständig für die Restfinanzierung sind die Gemeinden am Wohnsitz der anspruchsberechtigten Person (§ 6 Abs. 1 BPG), wobei die Höhe des zu übernehmenden Restfinanzierungsbeitrags mit den Leistungserbringern vertraglich festgelegt wird (§ 7 Abs. 1 BPG).

1.2
Grundsätzlich richtet sich gemäss § 17 Abs. 3 BPG das Recht zur Einsprache und zur Beschwerde gegen Entscheide der Gemeinden im Zusammenhang mit dem Restfinanzierungsbeitrag an die ambulante Krankenpflege bzw. an die Krankenpflege im Pflegeheim und mit dem Beitrag an die Akut- und Übergangspflege nach den Bestimmungen des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1). Ob diese Bestimmung indessen auch Anwendung findet auf Streitigkeiten zwischen dem (Vertrags-)Leistungserbringer und der restfinanzierungspflichtigen Gemeinde, scheint nicht vollends geklärt. Denn der Gemeinde kommt im Zusammenhang mit der Restfinanzierung der Pflegekosten die Stellung eines Versicherungsträgers zu (§ 16 Satz 2 BPG). Auf das Verhältnis zwischen Leistungserbringern und Versicherungsträgern scheinen die Bestimmungen des ATSG aber gerade nicht zugeschnitten (vgl. im Zusammenhang mit einer Tarifstreitigkeit zwischen Leistungserbringerin und Kanton auch BGE 140 V 58 E. 5.4). Es mutet denn auch seltsam an, dass das Gesetz eine subsidiäre Tarifregelung vorsieht für den Fall, dass der Versicherungsträger mit dem Leistungserbringer keine vertragliche Einigung erzielt (§ 8 Abs. 1 BPG), dem Versicherungsträger aber gleichwohl die Kompetenz zukommen sollte, hierüber hoheitlich zu verfügen (in analoger Anwendung von Art. 49 ATSG).

1.3
Allerdings ist das Bundesgericht bei Streitigkeiten betreffend Restkostenfinanzierung (und ungeachtet BGE 140 V 58 E. 5.4) bereits verschiedentlich von der Anwendbarkeit des ATSG ausgegangen; dies jedenfalls dann, wenn der kantonale Gesetzgeber keine abweichende Regelung getroffen hat (BGE 138 V 377 E. 5.4.2 [Beschwerdeführerin war hier jedoch die versicherte Person und nicht der Leistungserbringer], 142 V 94 E. 1.2; BGer-Urteil 9C_305/2017 vom 20.2.2018 E. 1.1.2.1 f.). Angesichts dessen, dass mit § 17 Abs. 3 BPG sogar eine ausdrückliche entsprechende Regelung besteht, ist das Kantonsgericht in der vorliegenden Streitsache trotz der erwähnten Unklarheiten als sachlich zuständige Beschwerdeinstanz zu bezeichnen. Die örtliche Zuständigkeit ergibt sich aus Art. 58 ATSG. Auf die Beschwerde ist demnach einzutreten.

1.4
Nichtsdestotrotz sei an dieser Stelle auf Folgendes hingewiesen: Es wäre durchaus zu begrüssen, wenn der kantonale Gesetzgeber für Streitigkeiten zwischen Leistungserbringern und Gemeinden im Zusammenhang mit der Restfinanzierung von Pflegekosten ein gesondertes Überprüfungs- oder Schlichtungsverfahren vorsähe. Namentlich für den Fall, dass eine Vereinbarung über den Restfinanzierungsbeitrag im Sinn von § 7 BPG nicht zustande kommt, würde sich dabei die Schaffung eines Tariffestsetzungsverfahrens durch den Regierungsrat analog der Regelung von Art. 47 KVG (mit anschliessender Weiterzugsmöglichkeit des Entscheids ans Kantonsgericht) anbieten. Dies würde sowohl dem besonderen Streitgegenstand als auch der Stellung der Parteien besser Rechnung tragen.