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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:2. Abteilung
Rechtsgebiet:Strafrecht
Entscheiddatum:02.03.2022
Fallnummer:4M 21 70
LGVE:2022 II Nr. 1
Gesetzesartikel:Art. 1 StGB; Art. 6 Abs. 2 EpG, Art. 40 EpG, Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG; Art. 3b Abs. 1 aCovid-19-Verordnung besondere Lage.
Leitsatz:Aufgrund der systematischen, historischen und teleologischen Auslegung von Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG ergibt sich, dass sowohl Massnahmen kantonaler Behörden (Art. 40 Abs. 2 EpG) als auch solche des Bundesrats (Art. 6 Abs. 2 i.V.m. Art. 40 Abs. 2 EpG) unter den Begriff "Massnahmen gegenüber der Bevölkerung" fallen. Gemäss Art. 40 Abs. 2 lit. b EpG kann es sich bei einer solchen Massnahme auch um eine Gesichtsmaskentragepflicht handeln (E. 4.4.1.-4.4.1.5.).

Widerhandlungen gegen Massnahmen des Bundesrats gegenüber der Bevölkerung gemäss Art. 40 Abs. 2 i.V.m. Art. 6 Abs. 2 lit. b EpG sind nach Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG strafbar. Die Strafnorm von Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG hält vor dem Legalitätsprinzip (Art. 1 StGB) stand (E. 4.4.3.).

Rechtskraft:Dieser Entscheid ist noch nicht rechtskräftig.
Entscheid:Sachverhalt:

Am 12. November 2020, 14.59 Uhr, trug der Beschuldigte im Bahnhof Luzern, Gleis 10/11, keine Gesichtsmaske. Stattdessen hatte er, als er den Bahnhof durchquerte, die Jacke über Mund und Nase gezogen.

Aus den Erwägungen:

4.4. Strafbarkeit von Widerhandlungen gegen Massnahmen des Bundes
Die hier massgebende Strafbestimmung von Art. 83 Abs. 1 lit. j des Bundesgesetzes über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten (Epidemiengesetz, EpG; SR 818.101) verweist auf Art. 40 EpG, der für sich genommen einzig Massnahmen gegenüber der Bevölkerung beinhaltet, die von der zuständigen kantonalen Behörde angeordnet wurden. Deshalb ist zu prüfen, ob diese Bestimmung in Berücksichtigung des Legalitätsprinzips gemäss Art. 1 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs (StGB; SR 311.0) und der Auslegungsinstrumente auch auf Massnahmen des Bundesrats (Art. 6 Abs. 2 lit. b i.V.m. Art. 40 Abs. 2 EpG) angewendet werden kann.

Es ist vorab darauf hinzuweisen, dass dies sowohl vom Bundesgericht als auch in der Literatur bejaht wird (BGer-Urteil 1B_359/2021 vom 5.10.2021 E. 5.2.; vgl. BGer-Urteil 1B_416/2021 vom 27.10.2021 E. 4.2.3.; vgl. Wohlers/Heneghan/Peters, Strafrecht in Zeiten der Pandemie: Der Einsatz strafrechtlichen Zwangs zur Bekämpfung normwidrigen Verhaltens in "ausserordentlichen" Lagen, Zürich/Basel/Genf 2021, S. 85). Das Kantonsgericht schliesst sich dieser Auffassung aus den nachstehend dargelegten Gründen an.

4.4.1. Gesetzesauslegung
Eine Strafe oder Massnahme darf nur wegen einer Tat verhängt werden, die das Gesetz ausdrücklich unter Strafe stellt (Art. 1 StGB). Das Legalitätsprinzip ("nulla poena sine lege") ist ebenfalls in Art. 7 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK; SR 0.101) ausdrücklich verankert. Es ergibt sich auch aus Art. 5 Abs. 1, Art. 9 und Art. 164 Abs. 1 lit. c der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (BV; SR 101). Der Grundsatz ist verletzt, wenn jemand wegen eines Verhaltens strafrechtlich verfolgt wird, das im Gesetz überhaupt nicht als strafbar bezeichnet wird; wenn das Gericht ein Verhalten unter eine Strafnorm subsumiert, unter welche es auch bei weitestgehender Auslegung der Bestimmung nach den massgebenden Grundsätzen nicht subsumiert werden kann; oder wenn jemand in Anwendung einer Strafbestimmung verfolgt wird, die rechtlich keinen Bestand hat (BGE 138 IV 13 E. 4.1 m.H.).

Um eine vom Einzelfall gelöste Auslegung des Gesetzes sicherzustellen, werden die Rechtsanwender zu Auslegungsinstrumenten von allgemeiner Gültigkeit verpflichtet. Deren Katalog ist im Strafrecht grundsätzlich derselbe wie in anderen Rechtsgebieten. Herkömmlicherweise werden als solche anerkannt: Die grammatikalische Methode, die nach dem Wortsinn fragt, die systematische Methode, welche die Norm in Relation zu anderen Bestimmungen, ja zur Rechtsordnung insgesamt betrachtet, die historische Methode, die sich an die Gründe für die Schaffung der Norm hält, und die teleologische Methode, die sich am Zweck der Norm orientiert (Popp/Berkemeier, Basler Komm., 4. Aufl. 2019, Art. 1 StGB N 40; BGE 143 I 272 E 2.2.3 und 128 IV 272 E. 2 je m.H.).

4.4.1.1. Grammatikalische Auslegung
Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der Bestimmung. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, so muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente, namentlich des Zwecks, des Sinns und der dem Text zu Grunde liegenden Wertungen. Wichtig ist ebenfalls der Sinn, der einer Norm im Kontext zukommt. Vom klaren, d.h. eindeutigen und unmissverständlichen Wortlaut darf nur ausnahmsweise abgewichen werden, wenn triftige Gründe dafür vorliegen, dass der Wortlaut nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem Grund und Zweck oder aus dem Zusammenhang mit andern Vorschriften ergeben. Dabei befolgt das Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es namentlich ab, die einzelnen Auslegungselemente einer hierarchischen Prioritätsordnung zu unterstellen (BGE 139 II 173 E. 2.1, 139 III 201 E. 2.5.1, 139 V 95 E. 2.2, 139 V 358 E. 3.1, 138 III 694 E. 2.4). Bei der Auslegung neuerer Bestimmungen kommt den Gesetzesmaterialien eine besondere Stellung zu, weil veränderte Umstände oder ein gewandeltes Rechtsverständnis eine andere Lösung weniger nahelegen (BGE 133 V 9 E. 3.1, BGE 131 III 189 E. 2.6).

Die Vorinstanz führt in ihrem Urteil aus, dass Art. 40 EpG, auf den Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG in Klammern verweise, vorsehe, dass die zuständigen kantonalen Behörden Massnahmen anordnen würden, um die Verbreitung übertragbarer Krankheiten in der Bevölkerung oder in bestimmten Personengruppen zu verhindern. Nach seinem Wortlaut stelle Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG somit lediglich Widerhandlungen gegen gestützt auf Art. 40 EpG beschlossene Massnahmen der Kantone unter Strafe. Eine analoge Anwendung dieser Strafbestimmung auf Massnahmen des Bundes, die sich zum Tatzeitpunkt auf Art. 6 Abs. 2 EpG gestützt hätten, lasse sich mit dem Wortlaut nicht vereinbaren und widerspreche dem strafrechtlichen Legalitätsprinzip.

Die Staatsanwaltschaft bringt in ihrer Berufungserklärung vor, dass sich Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG vom Wortlaut her in genereller Weise auf Massnahmen gegenüber der Bevölkerung beziehe und es an einer expliziten Einschränkung auf lediglich durch die Kantone erlassene Massnahmen fehle. Hätte der Verweisung diese einschränkende Bedeutung zukommen sollen, hätte dies im Wortlaut dieser Strafbestimmung ohne Weiteres dadurch klargestellt werden können, indem dieser auf "Massnahmen der Kantone gegenüber der Bevölkerung" hätte formuliert werden können.

Die Verteidigung bestreitet die Ausführungen der Staatsanwaltschaft und wendet in ihrer Berufungsantwort ein, dass die Auffassung der Berufungsklägerin nicht haltbar sei. In Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG habe der Gesetzgeber ausdrücklich Art. 40 EpG erwähnt. Art. 6 Abs. 2 EpG werde nicht aufgeführt. Nach dem klaren Wortlaut seien nach Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG nur Widerhandlungen gegen gestützt auf Art. 40 EpG von den Kantonen beschlossene Massnahmen unter Strafe gestellt.

Gemäss Art. 83 lit. j EpG wird mit Busse bestraft, wer sich vorsätzlich Massnahmen gegenüber der Bevölkerung widersetzt (Art. 40). Es erfolgt lediglich ein ausdrücklicher Verweis auf Art. 40 EpG und es werden keine weiteren Bestimmungen erwähnt, die das strafbare Verhalten näher umschreiben. Gemäss Art. 40 Abs. 1 EpG ordnen die zuständigen kantonalen Behörden Massnahmen an, um die Verbreitung übertragbarer Krankheiten in der Bevölkerung oder in bestimmten Personengruppen zu verhindern. Sie koordinieren ihre Massnahmen untereinander. Sie können insbesondere folgende Massnahmen treffen: Veranstaltungen verbieten oder einschränken; Schulen, andere öffentliche Institutionen und private Unternehmen schliessen oder Vorschriften zum Betrieb verfügen; das Betreten und Verlassen bestimmter Gebäude und Gebiete sowie bestimmte Aktivitäten an definierten Orten verbieten oder einschränken (Art. 40 Abs. 2 lit. a-c EpG). Somit bestimmt Art. 40 Abs. 1 EpG die Zuständigkeit kantonaler Behörden für die Anordnung von Massnahmen gegenüber der Bevölkerung und Art. 40 Abs. 2 lit. a - c EpG legen den Inhalt möglicher Massnahmen fest. Die Gesichtsmaskentragepflicht stellt eine Massnahme im Sinne von Art. 40 Abs. 2 lit. b EpG dar. Zu den Kompetenzen des Bundes äussert sich Art. 40 EpG hingegen nicht, sondern diese werden für den Fall einer besonderen Lage im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EpG in Art. 6 Abs. 2 EpG aufgeführt. In Art. 6 Abs. 2 lit. b EpG wird festgehalten, dass der Bundesrat nach Anhörung der Kantone Massnahmen gegenüber der Bevölkerung anordnen darf. Es wird also derselbe Begriff wie in Art. 40 Abs. 1 EpG verwendet. Demnach ist zu erkennen, dass im Falle einer besonderen Lage auch der Bundesrat Massnahmen gegenüber der Bevölkerung anordnen darf. Auf Art. 6 Abs. 2 EpG wird in Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG jedoch nicht verwiesen. Demnach ist der Wortlaut der Bestimmung in diesem Sinn nicht klar, d.h. nicht eindeutig und unmissverständlich. Es bleibt vielmehr zu klären, ob nur Massnahmen kantonaler Behörden oder auch Massnahmen gegenüber der Bevölkerung im Allgemeinen, d.h. auch solche des Bundesrats, darunterfallen und entsprechende Widerhandlungen dagegen strafbar sind. Deshalb ist Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG anhand der weiteren Auslegungsinstrumente auszulegen.

4.4.1.2. Systematische Auslegung
Die systematische Auslegung erfolgt unter Berücksichtigung des Zusammenhangs einer Bestimmung mit anderen Gesetzesvorschriften (vgl. BGE 145 III 133 E. 6). Auslegungsbedürftige Begriffe sind im Kontext der Rechtsvorschrift, des Gesetzes, des Rechtsgebiets sowie letztlich der gesamten Rechtsordnung zu lesen. Namentlich Regeln innerhalb desselben Erlasses können insoweit wichtige Hinweise für den tatsächlichen Normsinn liefern (BGE 129 IV 322 E. 2.2.4, 129 IV 71 E. 1.4; Graf, in: Annotierter StGB Kommentar [Hrsg. Graf], Bern 2020, Art. 1 N 9).

Die Vorinstanz führt in ihrem Urteil aus, dass auch im Kontext nicht genügend klar daraus hervorgehe, dass unter Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG auch vom Bund angeordnete Massnahmen zu verstehen seien. Diese Problematik habe der Bundesrat in der Folge erkannt und am 27. Januar 2021 mit Wirkung ab 1. Februar 2021 die Covid-19-Verordnung besondere Lage mit einer Strafbestimmung ergänzt (Erläuterungen des Bundesamtes für Gesundheit zur Verordnung vom 19.6.2020 über Massnahmen in der besonderen Lage zur Bekämpfung der COVID-19-Epidemie [Covid-19-Verordnung besondere Lage; SR 818.101.26] Version vom 27.1.2021 [inkl. Änderungen vom 27.1.2021, die am 1.2.2021 in Kraft treten] S. 30 f.; https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/ausbrueche-epidemien-pandemien/aktuelle-ausbrueche-epidemien/novel-cov/massnahmen-des-bundes.html, Abschnitt Erläuterungen, Unterabschnitt bisherige Fassungen der Erläuterungen [ZIP, 50 MB, 16.02.2022], Nr. 57a; zuletzt besucht am 2.3.2022).

Die Staatsanwaltschaft bringt in der Berufungserklärung vor, dass das EpG in der besonderen Lage sowohl dem Bundesrat (Art. 6 Abs. 2) als auch den Kantonen, soweit nicht der Bund zuständig sei (Art. 75), ermögliche, Massnahmen gegenüber der Bevölkerung zu erlassen. Was mit Massnahmen gegenüber der Bevölkerung gemeint sei, sei im EpG nur in Art. 40 EpG näher umschrieben. Diese Bestimmung gehöre zum 5. Kapitel des EpG mit der Überschrift "Bekämpfung". Bereits diese Überschrift sowie die unter diesem Kapitel angeführten Massnahmen würden dafürsprechen, dass es sich auch bei Art. 40 EpG im Wesentlichen um eine Bestimmung handle, welche die Massnahmen gegenüber der Bevölkerung näher umschreiben solle, was in Art. 40 Abs. 2 EpG näher umgesetzt werde. Daran ändere nichts, dass Art. 40 Abs. 1 EpG bestimme, dass die zuständigen kantonalen Behörden Massnahmen gegenüber der Bevölkerung und bestimmten Personengruppen anzuordnen hätten. Die Zuständigkeit der Kantone für Massnahmen gegenüber der Bevölkerung ergebe sich im Grunde gar nicht aus dieser Bestimmung. Diese leite sich vielmehr aus Art. 75 EpG ab im Zusammenspiel mit den Bestimmungen, welche die Zuständigkeit des Bundes regeln würden. Die Erwähnung der zuständigen kantonalen Behörden in Art. 40 Abs. 1 EpG stelle daher lediglich eine Klarstellung dar, dass diese im Bereich der Massnahmen gegenüber der Bevölkerung zuständig seien nach Massgabe von Art. 75 EpG und dass es sich dabei nicht um eine alleinige Bundeskompetenz handle. Bereits diese systematische Auslegung des EpG ergebe somit, dass mit der Verweisung auf Art. 40 in Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG lediglich darauf hingewiesen werde, dass in Art. 40 EpG näher umschrieben sei, was unter solchen Massnahmen inhaltlich überhaupt zu verstehen sei, sowie dass die Verweisung entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht einschränkend bedeute, dass von der Strafbestimmung von Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG nur die von den zuständigen kantonalen Behörden erlassenen Massnahmen erfasst sein sollen.

Die Verteidigung bestreitet die Ausführungen der Staatsanwaltschaft und wendet in ihrer Berufungsantwort ein, dass Art. 75 EpG den Vollzug regle. Die Kantone setzten dieses Gesetz um, soweit nicht der Bund zuständig sei. Gemäss Art. 40 Abs. 1 EpG würden die zuständigen kantonalen Behörden ausdrücklich ermächtigt Massnahmen anzuordnen. In Art. 40 Abs. 2 EpG würden die Massnahmen ausgeführt, welche die Kantone insbesondere treffen könnten. In Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG würden entsprechend und folgerichtig Widerhandlungen gegen Massnahmen, welche sich auf Art. 40 EpG stützen, unter Strafe gestellt.

In Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG wird einzig auf Art. 40 EpG verwiesen, worin die Zuständigkeit der kantonalen Behörden zur Anordnung von Massnahmen, um die Verbreitung übertragbarer Krankheiten in der Bevölkerung oder in bestimmten Personengruppen zu verhindern, bestimmt wird (siehe E. 4.4.1.1 hiervor). Art. 40 EpG ist im 5. Kapitel (Bekämpfung), 2. Abschnitt (Massnahmen gegenüber der Bevölkerung und bestimmten Personengruppen) eingeordnet. Dabei handelt es sich um die einzige Bestimmung in diesem Abschnitt. Gemäss Art. 6 Abs. 2 lit. b EpG kann auch der Bundesrat im Falle einer besonderen Lage nach Anhörung der Kantone Massnahmen gegenüber der Bevölkerung anordnen. Genauere Angaben zum Inhalt dieser Massnahmen enthält Art. 6 Abs. 2 EpG jedoch nicht. Da der Begriff "Massnahmen gegenüber der Bevölkerung" im EpG ausschliesslich in Art. 40 Abs. 2 lit. a - c erläutert wird, ergibt sich, dass damit dieselben Massnahmen gemeint sind. Deshalb kann aus systematischer Sicht davon ausgegangen werden, dass der Bundesrat im Falle einer besonderen Lage ebenfalls Massnahmen im Sinne von Art. 40 Abs. 2 lit. a - c EpG anordnen darf. Dies deutet darauf hin, dass auch Massnahmen des Bundesrats als Massnahmen gegenüber der Bevölkerung im Sinne von Art. 40 EpG zu verstehen und Widerhandlungen dagegen nach Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG strafbar sind.

4.4.1.3. Historische Auslegung
Die historische Auslegung bezweckt, mithilfe der Entstehungsgeschichte der Norm den Willen des historischen Gesetzgebers zu ermitteln (BGE 131 II 361 E. 4.2). Die Gesetzesmaterialien sind zwar nicht unmittelbar entscheidend, dienen aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu erkennen. Bei der Auslegung neuerer Bestimmungen kommt den Materialien eine besondere Stellung zu, weil veränderte Umstände oder ein gewandeltes Rechtsverständnis eine andere Lösung weniger nahelegen (BGE 140 III 206 E. 3.5.4).

Die Vorinstanz erwägt, dass auch die Botschaft zum Epidemiengesetz keinerlei Hinweis auf eine Strafbewehrung der vom Bund angeordneten Massnahmen enthalte (Botschaft zur Revision des Bundesgesetzes über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen vom 3.12.2010, in: BBl 2011 311, 365 und 422). Erschwerend komme hinzu, dass das Bundesamt für Gesundheit (nachfolgend BAG) in den zum Tatzeitpunkt aktuellen Erläuterungen zur Covid-19-Verordnung besondere Lage festgehalten habe, es werde für Privatpersonen angesichts der im Zentrum stehenden Eigenverantwortung und mit Blick auf das Verhältnismässigkeitsprinzip auf eine spezifische Strafbestimmung verzichtet (Erläuterungen des BAG zur Verordnung vom 19.6.2020 über Massnahmen in der besonderen Lage zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie [Covid-19-Verordnung besondere Lage; SR 818.101.26], Version vom 30.10.2020; S. 20; https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/ausbrueche-epidemien-pandemien/aktuelle-ausbrueche-epidemien/novel-cov/massnahmen-des-bundes.html; Abschnitt Erläuterungen, Unterabschnitt bisherige Fassungen der Erläuterungen [ZIP, 46 MB, 08.10.2021], Nr. 44a; zuletzt besucht am 2.3.2022). Im nächsten Satz habe das BAG zwar darauf hingewiesen, dass Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG anwendbar bleibe; jedoch bleibe unklar, was das BAG damit gemeint habe. Mit dieser Formulierung könnten irgendwelche kantonale Massnahmen gegenüber Privatpersonen gemeint sein.

Die Staatsanwaltschaft bringt in der Berufungserklärung vor, dass entgegen der Auffassung der Vorinstanz auch die Materialien gegen eine einschränkende Bedeutung der Verweisung auf Art. 40 in Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG sprächen. So weise die Botschaft darauf hin, dass sich der Handlungsspielraum des Bundesrats für die Anordnung von Massnahmen nach Art. 6 Abs. 2 EpG auf die in den Art. 31 - 38 sowie 40 E-EpG in der Botschaft festgelegten Massnahmen beschränke (Botschaft, BBl 2011 311, 364-365). Gerade die Formulierung in der Botschaft, dass der Handlungsspielraum des Bundesrats auf die in Art. 40 EpG festgelegten Massnahmen beschränkt sein solle, spreche dafür, dass es sich bei Art. 40 EpG im Kern um eine Konkretisierungsbestimmung handle, was unter Massnahmen gegenüber der Bevölkerung zu verstehen sei. Die von der Vorinstanz erwähnten Erläuterungen des BAG würden ebenfalls und entgegen der Ansicht der Vorinstanz für die Strafbewehrtheit von Massnahmen des Bundesrats sprechen. Die Erläuterungen des Bundesrats seien auch nicht unklar. Vielmehr werde ausdrücklich festgehalten, dass durch den Verzicht auf eine spezifische Strafbestimmung in der Covid-19-Verordnung die Strafbestimmung von Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG ausdrücklich anwendbar bleibe (Erläuterungen BAG Nr. 44a, a.a.O., S. 25 [recte S. 20]). Auf S. 3 und 7 werde zudem jeweils explizit auf die Strafbarkeit gestützt auf Art. 83 Abs. 1 lit. j verwiesen. Auch in den folgenden Versionen sei diese Haltung stets bestätigt worden, so nach wie vor in der aktuellsten Version vom 30. Juni 2021 auf S. 26.

Die Verteidigung bestreitet die Ausführungen und wendet ein, Art. 1 StGB verlange, dass es für die Strafbarkeit eine ausführliche gesetzliche Bestimmung benötige. Vorliegend sei lediglich auf Art. 40 EpG verwiesen worden. Eine allfällige Lücke könne nicht mit Hinweis auf die Materialien gefüllt werden und zu einer neuen Strafnorm führen. Dies würde den elementaren Grundsatz "Keine Strafe ohne Gesetz" verletzen. Die Erläuterungen des BAG seien nicht geeignet, ein strafbares Verhalten zu umschreiben. Das strafbare Verhalten müsse aus einer gesetzlichen Grundlage hervorgehen.

Zu Art. 40 wird in der Botschaft zum EpG Folgendes festgehalten (Botschaft, BBl 2011 311, 392):

Artikel 40 enthält verschiedene Massnahmen, die eine Verminderung enger Kontakte zwischen Personen bezwecken oder eine Exposition in einer bestimmten Umgebung verhindern sollen. Ziel ist es, die Wahrscheinlichkeit zu senken, dass Individuen einem Erreger ausgesetzt und dadurch möglicherweise infiziert werden. Nach Absatz 2 können die zuständigen kantonalen Behörden Veranstaltungen verbieten oder einschränken (Bst. a), Schulen oder andere öffentliche Anstalten und private Unternehmen schliessen oder gegenüber diesen besondere Vorschriften zum Betrieb (z. B. Hygienemassnahmen) verfügen (Bst. b) oder das Betreten oder Verlassen bestimmter Gebäude oder Gebiete und bestimmte Aktivitäten an definierten Orten, wie das Baden verbieten oder einschränken (Bst. c). Das revidierte Gesetz enthält im Gegensatz zum geltenden EpG eine Regelung, welche es den zuständigen Behörden ermöglicht, das Betreten oder Verlassen bestimmter Gebiete zeitweise einzuschränken. Diese Ergänzung ist notwendig, weil sich gerade im Zusammenhang mit der Bekämpfung der häufig tödlich verlaufenden Lungenkrankheit SARS gezeigt hat, dass mit der Absperrung bestimmter Quartiere oder Häusergruppen (z.B. in Hongkong) die Weiterverbreitung der Krankheit signifikant eingeschränkt werden konnte. Die Absperrung ganzer Ortschaften soll aber nur in Ausnahmesituationen möglich sein.

Art. 6 Abs. 2 EpG wird wie folgt erläutert (Botschaft, BBl 2011 311, 364):

Der Bundesrat kann die in Absatz 2 aufgeführten Massnahmen anordnen. Dazu gehören Massnahmen gegenüber einzelnen Personen und gegenüber der Bevölkerung (Bst. a und b). Dabei beschränkt sich der Handlungsspielraum des Bundesrates auf die in den Artikeln 31 - 38 sowie 40 E-EpG festgelegten Massnahmen. Der Bundesrat kann als weitere Massnahme Ärztinnen und Ärzte und weitere Gesundheitsfachpersonen (Pflegefachpersonen, Hebammen und medizinisches Hilfspersonal) verpflichten, bei der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten mitzuwirken (Bst. c). Beim Vollzug muss insbesondere darauf geachtet werden, dass die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung nicht beeinträchtigt wird und dass die Bedürfnisse von Grenzkantonen berücksichtigt werden (Grenzgänger/innen).

Zu Art. 83 EpG enthält die Botschaft keine weiterführenden Anmerkungen (vgl. Botschaft, BBl 2011 311, 422).

Die Erläuterungen des BAG zu der zum Tatzeitpunkt geltenden Fassung der Covid-19-Verordnung besondere Lage halten hinsichtlich der Anpassung der Strafbestimmungen Folgendes fest (Erläuterungen BAG Nr. 44a., a.a.O., S. 20):

Auf eine spezifische Strafbestimmung bezüglich Verhaltensweisen von Privatpersonen, die sich nicht an die Regeln dieser Verordnung halten, wird angesichts der im Zentrum stehenden Eigenverantwortung und mit Blick auf das Verhältnismässigkeitsprinzip verzichtet. Anwendbar bleibt damit der Straftatbestand auf Gesetzesstufe, konkret Artikel 83 Absatz 1 Buchstabe j (Wiederhandlungen gegen Massnahmen der Bevölkerung); Ordnungsbussen können keine erteilt werden, es gelangt vielmehr das Strafverfahren der Strafprozessordnung zur Anwendung.

Den Erläuterungen des BAG zur Anpassung der Covid-19-Verordnung besondere Lage vom 27. Januar 2021 lässt sich hinsichtlich der Strafbestimmung zum Nichttragen der Gesichtsmaske Folgendes entnehmen (Erläuterungen BAG Nr. 57a, a.a.O., S. 30 f.):

Widerhandlungen gegen Massnahmen gegenüber der Bevölkerung (im Sinne von Art. 40 Epidemiengesetz, EpG; SR 818.101) sind bereits nach Artikel 83 Absatz 1 Buchstabe j EpG als Übertretungsstraftatbestände strafbewehrt. Nach ihrem Wortlaut verweist diese Bestimmung aber einzig auf Massnahmen der Kantone, während sich die Kompetenz des Bundes zur Anordnung solcher Massnahmen aus Artikel 6 Absatz 3 EpG (besondere Lage) ergibt. Aufgrund der entsprechenden Darlegungen in der Botschaft (BBl 2011 365) ist davon auszugehen, dass damit auch seitens des Bundes im Rahmen der besonderen Lage angeordnete Massnahmen (vgl. hierzu die Covid-19-Verordnung besondere Lage) strafbewehrt sind. Dagegen kann jedoch angeführt werden, dass eine explizite Regelung der Straftatbestände auf Verordnungsebene aus Gründen der Rechtsklarheit wünschenswert ist. Eine Klarstellung in der Verordnung erscheint somit sinnvoll, selbst wenn sich durch Auslegung ergibt, dass auch Widerhandlungen der vom Bund angeordneten Massnahmen nach Artikel 83 Absatz 1 Buchstabe j in Verbindung mit den Artikeln 40 und 6 EpG strafbar sind. Die ausdrückliche Regelung trägt damit auch dem Grundsatz Rechnung, wonach Straftatbestände gemäss Artikel 1 Strafgesetzbuch (StGB; SR 311.0) klar auszuformulieren sind.

Bst. f: Mit dieser Norm wird klargestellt, dass das Nichttragen einer Gesichtsmaske in Fahrzeugen des öffentlichen Verkehrs (Art. 3a) und in dessen Warte- und Zugangsbereichen sowie in den Innenräumen und Aussenbereichen von öffentlich zugänglichen Einrichtungen und Betrieben (Art. 3b Abs. 1) unter Strafe steht. Der zulässige Höchstbetrag einer Busse (10'000 Franken nach Art. 106 Abs. 1 StGB) wird jedoch durch Aufnahme dieses Straftatbestandes im Anhang zur Ordnungsbussenverordnung faktisch auf den dort vorgesehenen Bussenbetrag von 100 Franken reduziert (Pos. 16003). Im Gegenzug werden aber auch bloss fahrlässig begangene Verstösse gegen die Maskentragpflicht unter Strafe gestellt. Nicht unter Strafe gestellt werden Verstösse gegen die Maskentragpflicht im öffentlichen Raum (vgl. Art. 1 Abs. 1 Bst. b OBG).

Anhand der Botschaft ist festzustellen, dass der Gesetzgeber in Art. 6 Abs. 2 lit. b EpG beabsichtigte, dem Bundesrat im Falle einer besonderen Lage die Kompetenz zur Anordnung von Massnahmen im Sinne von Art. 40 Abs. 2 EpG zu gewähren. Dementsprechend soll auch der Bundesrat besondere Vorschriften zum Betrieb von Schulen, anderen öffentlichen Institutionen und privaten Unternehmen (z. B. Hygienemassnahmen) im Sinne von Art. 40 Abs. 2 lit. b EpG verfügen dürfen, worunter insbesondere auch eine Gesichtsmaskentragepflicht fällt. Dadurch wird klar, dass im Falle einer besonderen Lage unter Massnahmen gegenüber der Bevölkerung im Sinne Art. 40 Abs. 2 EpG auch Massnahmen des Bundesrats zu verstehen sind. Dementsprechend können auch Widerhandlungen gegen Massnahmen des Bundesrats unter Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG subsumiert werden. Dass sich die Botschaft nicht detailliert zu Art. 83 EpG äussert, ändert daran nichts, da es sich dabei ohnehin um eine Blankettstrafnorm handelt, aus welcher allein noch nicht hervorgeht, welches Verhalten strafbar ist (siehe E. 4.4.2. hiernach).

Gemäss den Erläuterungen des BAG sei angesichts der im Zentrum stehenden Eigenverantwortung und mit Blick auf das Verhältnismässigkeitsprinzip vorerst auf eine spezifische Strafbestimmung bezüglich Verhaltensweisen von Privatpersonen verzichtet worden. Gleichwohl bleibe der Straftatbestand auf Gesetzesstufe, konkret Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG, weiterhin anwendbar. Darüber hinaus vertritt das BAG zwar die Ansicht, dass gemäss Art. 83 Abs. 1 lit. j i.V.m. Art. 40 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 2 EpG auch seitens des Bundes im Rahmen der besonderen Lage angeordnete Massnahmen strafbewehrt seien. Gleichzeitig hält es aber auch fest, dass eine explizite Regelung der Straftatbestände auf Verordnungsebene aus Gründen der Rechtsklarheit wünschenswert sei und dem Legalitätsprinzip damit Rechnung getragen werden könne. Demnach ist zu erkennen, dass seitens BAG nicht bezweifelt wurde, dass Art. 83 Abs. 1 lit. j i.V.m. Art. 40 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 2 EpG eine ausreichende gesetzliche Grundlage für eine Bestrafung darstellt. Die Einführung der Strafbestimmung in der Covid-19-Verordnung besondere Lage (Art. 13 lit. f) diente vielmehr bloss der Klarstellung.

4.4.1.4. Teleologische Auslegung
Selbst ein klarer Wortlaut bedarf der Auslegung, wenn er vernünftigerweise nicht der wirkliche Sinn des Gesetzes sein kann. Massgebend ist nicht der Buchstabe des Gesetzes, sondern dessen Sinn, der sich namentlich aus den dem Gesetz zu Grunde liegenden Wertungen ergibt, im Wortlaut jedoch unvollkommen ausgedrückt sein kann. Sinngemässe Auslegung kann auch zu Lasten des Beschuldigten vom Wortlaut abweichen. Im Rahmen solcher Gesetzesauslegung ist auch der Analogieschluss erlaubt; denn er dient dann lediglich als Mittel sinngemässer Auslegung. Das Legalitätsprinzip bzw. das Analogieverbot als dessen Teilgehalt verbietet bloss, über den dem Gesetz bei richtiger Auslegung zukommenden Sinn hinauszugehen, also neue Straftatbestände zu schaffen oder bestehende derart zu erweitern, dass die Auslegung durch den Sinn des Gesetzes nicht mehr gedeckt wird. Die Abgrenzung zwischen zulässiger Auslegung einer Strafbestimmung zu Ungunsten des Beschuldigten und unzulässiger Schaffung neuer Straftatbestände durch Analogieschlüsse ist allerdings schwierig. Das Bestreben, ein strafwürdiges Verhalten tatsächlich auch zu bestrafen, darf nicht mit dem Sinn und Zweck einer Strafnorm vermengt bzw. gleichgesetzt werden. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass sich die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten unter einen Straftatbestand fällt, eben gerade dann stellt, wenn es als strafwürdig erscheint (BGE 127 IV 198 E. 3b m.H.). Der Zweck wird bei Elementen des einzelnen Deliktstatbestandes häufig aus dem Rechtsgut abgeleitet (Popp/Berkemeier, a.a.O., Art. 1 StGB N 41; BGE 118 Ib 547 E. 4d = Pra 1993 Nr. 150).

Die Staatsanwaltschaft bringt in der Berufungserklärung vor, dass der Bund bzw. der Bundesrat erst dann kompetent für die Anordnung von Massnahmen gegenüber der Bevölkerung sei, wenn eine besondere Lage vorliege, die epidemiologische Lage also bedeutend gravierender sei, als wenn die alleinige Zuständigkeit noch bei den Kantonen liege. In einer besonderen Lage würden die wesentlichen und wichtigen Massnahmen zudem durch den Bundesrat getroffen, damit diese schweizweit gelten würden. Ein repressives Instrumentarium zur Durchsetzung der vom Bundesrat in einer besonderen Lage getroffenen Massnahmen gegenüber der Bevölkerung sei daher von deutlich grösserer Bedeutung als die zur Durchsetzung von den zuständigen kantonalen Behörden erlassenen Massnahmen, welche in einer besonderen Lage allenfalls die Massnahmen des Bundesrats lediglich ergänzen würden oder ohne Vorliegen einer besonderen Lage in einer weniger gravierenden, epidemiologischen Lage in alleiniger Zuständigkeit der Kantone angeordnet worden seien. Somit spreche auch diese teleologische Auslegung dafür, dass die vom Bundesrat gestützt auf Art. 6 Abs. 2 EpG getroffenen Massnahmen gegenüber der Bevölkerung von Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG erfasst seien.

Die Verteidigung bestreitet die Ausführungen der Staatsanwaltschaft und wendet ein, dass der Gesetzgeber in Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG ausdrücklich auf die Erwähnung auf Art. 6 EpG verzichtet habe. Somit könne auch eine teleologische Auslegung nicht zu einer neuen Strafnorm führen.

Das EpG bezweckt, den Ausbruch und die Verbreitung übertragbarer Krankheiten zu verhüten und zu bekämpfen (Art. 2 Abs. 1 EpG). Mit den Massnahmen nach diesem Gesetz sollen übertragbare Krankheiten überwacht und Grundlagenwissen über ihre Verbreitung und Entwicklung bereitgestellt werden; Gefahren des Ausbruchs und der Verbreitung übertragbarer Krankheiten frühzeitig erkannt, beurteilt und vermieden werden; die einzelne Person, bestimmte Personengruppen und Institutionen veranlasst werden, zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beizutragen; die organisatorischen, fachlichen und finanziellen Voraussetzungen für die Erkennung, Überwachung, Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten geschaffen werden; der Zugang zu Einrichtungen und Mitteln für den Schutz vor Übertragungen gesichert werden; die Auswirkungen von übertragbaren Krankheiten auf die Gesellschaft und die betroffenen Personen reduziert werden (Art. 2 Abs. 2 lit. a-f EpG). Mit diesem Zweckartikel soll dargelegt werden, dass das revidierte Gesetz den beiden öffentlichen Interessen Sicherheit und Gesundheit gleichermassen dient (Botschaft, BBl 2011 311, 330). Das Gesetz schafft eine gesetzliche Grundlage für zwei sich ergänzende, anerkannte Zwecke der Krankheitsbekämpfung: Es vereinigt Elemente zum Schutz der öffentlichen Gesundheit vor Gesundheitsgefährdungen (gesundheitspolizeiliche Massnahmen) mit Elementen der Prävention und der Gesundheitsförderung (präventive und gesundheitsfördernde Massnahmen). Beide dieser in der Verfassung in Art. 118 Abs. 2 lit. b BV anerkannten Aspekte der Krankheitsbekämpfung sollen im Gesetz zur Geltung kommen (Botschaft, BBl 2011 311, 357).

Die Rechtsgüter, welche durch das EpG geschützt werden sollen, sind einerseits die öffentliche Gesundheit und andererseits die öffentliche Sicherheit. Demnach bezwecken auch die Strafbestimmungen des EpG, insbesondere Art. 83 Abs. 1 lit. j, den Schutz der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit und die Einhaltung der Massnahmen gegenüber der Bevölkerung im Sinne von Art. 40 EpG. Da der Bundesrat im Gegensatz zu den kantonalen Behörden erst im Falle einer besonderen Lage im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EpG, d.h. wenn die epidemiologische Situation besonders besorgniserregend ist und Vorkehrungen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit umso notwendiger sind, entsprechende Massnahmen anordnen darf, erweist sich die Missachtung solcher Massnahmen als umso gravierender und folglich auch strafwürdiger. Es ist der Staatsanwaltschaft deshalb zuzustimmen, dass Widerhandlungen gegen Massnahmen des Bundesrats gegenüber der Bevölkerung erst recht strafwürdig sind, wenn dies bereits für das Widersetzen gegen Massnahmen der zuständigen kantonalen Behörden gilt (vgl. Popp/Berkemeier, a.a.O., Art. 1 StGB N 41).

4.4.1.5. Ergebnis
Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Wortlaut von Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG weder eindeutig noch unmissverständlich ist. Aufgrund der systematischen, historischen und teleologischen Auslegung der Bestimmung ergibt sich aber, dass sowohl Massnahmen kantonaler Behörden (Art. 40 Abs. 2 EpG) als auch – im Falle einer besonderen Lage – solche des Bundesrats (Art. 6 Abs. 2 i.V.m. Art. 40 Abs. 2 EpG) unter den Begriff "Massnahmen gegenüber der Bevölkerung" fallen. Gemäss Art. 40 Abs. 2 lit. b EpG kann es sich bei einer solchen Massnahme auch um eine Gesichtsmaskentragepflicht handeln.

4.4.2. Bestimmtheitsgebot
Das Bestimmtheitsgebot ("nulla poena sine lege certa") als weiterer Teilgehalt des Legalitätsprinzips, welches auch im Nebenstrafrecht gilt, verlangt eine hinreichend genaue Umschreibung der Straftatbestände. Das Gesetz muss so präzise formuliert sein, dass der Bürger sein Verhalten danach richten und die Folgen eines bestimmten Verhaltens mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewissheit erkennen kann (BGE 145 IV 329 E. 2.2, 138 IV 13 E. 4.1 je m.H.). Das Bundesgericht erachtet eine Blankettstrafnorm, aus welcher allein noch nicht hervorgeht, welches Verhalten strafbar ist, für ausreichend, sofern diese auf eine zweite, sogenannte blankettausfüllende Norm verweist, die mit der Strafnorm zusammen zu lesen und auszulegen ist. Die Strafbestimmung ist so zu lesen, als stünde in ihr der Text der Ausfüllungsnorm. Durch eine solche Gesetzestechnik werden die Straftatbestände nicht unbestimmt (vgl. BGer-Urteile 6B_866/2016 vom 9.3.2017 E. 5.2, 6B_385/2008 vom 2.7.2008 E. 3.3.2, 6B_967/2015 vom 22.4.2016 E. 2.3).

Art. 83 Abs. 1 EpG stellt eine Blankettstrafnorm dar, denn aus ihr allein geht noch nicht genau hervor, welches Verhalten strafbar ist. Dafür sind die Bestimmungen, auf welche in Art. 83 EpG lit. a - n einzeln verwiesen wird, heranzuziehen. Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG verweist auf Art. 40 EpG. Folglich stellt Art. 40 EpG eine blankettausfüllende Norm dar, die mit der Strafnorm zusammen zu lesen und auszulegen ist. In Art. 40 Abs. 2 lit. a - c EpG wird festgehalten, welche Massnahmen die zuständigen kantonalen Behörden gegenüber der Bevölkerung und bestimmten Personengruppen anordnen dürfen. Über die Kompetenzen des Bundesrats äussert sich Art. 40 EpG nicht, sondern diese werden für den Fall einer besonderen Lage in Art. 6 Abs. 2 lit. b EpG aufgeführt. Die konkreten Massnahmen hat der Bundesrat in der aCovid-19-Verordnung besondere Lage beschlossen, so auch die Gesichtsmaskentragepflicht für Personen in öffentlich zugänglichen Bereichen von Einrichtungen und Betrieben und in Zugangsbereichen des öffentlichen Verkehrs (Art. 3b Abs. 1 aCovid-19-Verordnung besondere Lage). Dementsprechend bedarf es vorliegend zusätzlicher blankettausfüllender Normen, nämlich Art. 6 Abs. 2 lit. b EpG und Art. 3b Abs. 1 aCovid-19-Verordnung besondere Lage, um die Strafbarkeit des Widersetzens gegen eine durch den Bundesrat angeordnete Gesichtsmaskentragepflicht zum Tatzeitpunkt begründen zu können.

Die Begründung der Strafbarkeit des Nichttragens der Gesichtsmaske nach Art. 3b Abs. 1 a-Covid-19-Verordnung besondere Lage mittels Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG, welcher auf Art. 40 EpG verweist, und Art. 6 Abs. 2 lit. b EpG, welcher dem Bundesrat im Falle einer besonderen Lage die Kompetenz zur Anordnung von Massnahmen im Sinne von Art. 40 Abs. 2 EpG gibt, ist durchaus komplex. Dennoch können bzw. konnten Bürgerinnen und Bürger anhand dieser Bestimmungen die Folgen ihres Verhaltens mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewissheit erkennen. Hinzu kommt, dass der Bundesrat und das BAG seit Beginn der Covid-19-Pandemie stets breitenwirksam über die geltenden Massnahmen informiert haben (exemplarisch: https://bag-coronavirus.ch/, zuletzt besucht am 2.3.2022). Deshalb war der breiten Bevölkerung die Gesichtsmaskentragepflicht am 12. November 2020 ohne Zweifel bekannt. Dies hat auch für den Beschuldigten zu gelten, zumal aufgrund seines Verhaltens und seiner Aussagen festgestellt werden kann, dass er zum Tatzeitpunkt keine Gesichtsmaske getragen hat, obwohl er um eine entsprechende Pflicht wusste (siehe E. 4.5.2. hiernach). Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass im Strassenverkehrsrecht die Strafbarkeit oftmals mittels blankettausfüllenden Normen des Strassenverkehrsgesetzes (SVG; SR 741.01), der Verkehrsregelnverordnung (VRV; SR 741.11) und weiterer Erlassen begründet werden muss, so bspw. das Fahren in fahrunfähigem Zustand wegen Cannabiskonsums in Berücksichtigung der dafür massgeblichen Blutgrenzwerte (Art. 91 Abs. 2 lit. b SVG i.V.m. Art. 31 Abs. 2 SVG; Art. 2 Abs. 2 lit. a VRV und Art. 34 lit. a der Verordnung des ASTRA zur Strassenverkehrskontrollverordnung [VSKV-ASTRA, SR 741.013.1]). Das Bundesgericht erkennt darin keinen Verstoss gegen das strafrechtliche Legalitätsprinzip (BGE 147 I 439 E. 3.4). Dies hat auch für den vorliegenden Fall zu gelten.

Folglich ist festzustellen, dass eine Verurteilung wegen Nichttragens der Gesichtsmaske in einem Bahnhof in Anwendung von Art. 83 Abs. 1 lit. j i.V.m. Art. 40 Abs. 2 lit. b und Art. 3b Abs. 1 aCovid-19-Verordnung besondere Lage keine Verletzung des Bestimmtheitsgebots darstellt.

4.4.3. Ergebnis
Zusammenfassend ist zu erkennen, dass auch Widerhandlungen gegen Massnahmen des Bundesrats gegenüber der Bevölkerung gemäss Art. 40 Abs. 2 i.V.m. Art. 6 Abs. 2 lit. b EpG nach Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG strafbar sind. Darunter fällt auch das Nichttragen der Gesichtsmaske in einem Bahnhof (Art. 3b Abs. 1 aCovid-19-Verordnung besondere Lage). Die Strafnorm von Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG hält vor dem Legalitätsprinzip (Art. 1 StGB) stand.

4.5. Subsumtion
4.5.1. Objektiver Tatbestand
Am 12. November 2020, 14.59 Uhr, trug der Beschuldigte im Bahnhof Luzern, Gleis 10/11, keine Gesichtsmaske. Stattdessen hatte er, als er den Bahnhof durchquerte, die Jacke über Mund und Nase gezogen.

Gemäss Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG wird mit Busse bestraft, wer vorsätzlich Massnahmen gegenüber der Bevölkerung widersetzt (Art. 40 [EpG]). Jede Person muss in öffentlich zugänglichen Innenräumen und Aussenbereichen von Einrichtungen und Betrieben, einschliesslich Märkten, sowie in Wartebereichen von Bahn, Bus, Tram und Seilbahnen und in Bahnhöfen, Flughäfen und anderen Zugangsbereichen des öffentlichen Verkehrs eine Gesichtsmaske tragen (Art. 3b Abs. 1 aCovid-19-Verordnung besondere Lage). Bestimmte Personen sind von dieser Pflicht ausgenommen (Art. 3b Abs. 2 aCovid-19-Verordnung besondere Lage [Stand am 2.11.2020]). Die Gesichtsmaskentragepflicht stellt eine Massnahme gegenüber der Bevölkerung im Sinne von Art. 40 Abs. 2 lit. b i.V.m. Art. 6 Abs. 2 lit. b EpG dar (siehe E. 4.4. ff. hiervor).

Der Beschuldigte trug, während er das Bahnhofsgebäude in Luzern durchquerte keine Gesichtsmaske. Damit hat er gegen die damals geltende Gesichtsmaskentragepflicht verstossen. Namentlich die von ihm über das Gesicht gezogene Jacke stellt keine Gesichtsmaske im Sinne des Gesetzes dar (vgl. https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/ausbrueche-epidemien-pandemien/aktuelle-ausbrueche-epidemien/novel-cov/masken.html, zuletzt besucht am 2.3.2022). Ein Ausnahmegrund gemäss Art. 3b Abs. 2 aCovid-19-Verordnung besondere Lage liegt nicht vor. Somit erfüllt der Beschuldigte den objektiven Tatbestand von Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG i.V.m. Art. 3b Abs. 1 aCovid-19-Verordnung besondere Lage.

4.5.2. Subjektiver Tatbestand
Bestimmt es das Gesetz nicht ausdrücklich anders, so ist nur strafbar, wer ein Verbrechen oder Vergehen vorsätzlich begeht (Art. 12 Abs. 1 StGB). Vorsätzlich begeht ein Verbrechen oder Vergehen, wer die Tat mit Wissen und Willen ausführt. Vorsätzlich handelt bereits, wer die Verwirklichung der Tat für möglich hält und in Kauf nimmt (Art. 12 Abs. 2 StGB). Strafbar ist sowohl das vorsätzliche als auch das fahrlässige Widersetzen gegen Massnahmen gegenüber der Bevölkerung (Art. 83 Abs. 1 und 2 EpG).

Da der Beschuldigte beim Durchqueren des Bahnhofs die Jacke über Mund und Nase zog anstatt eine Gesichtsmaske zu tragen, wird erkennbar, dass ihm die Gesichtsmaskentragepflicht bekannt war. Er wusste also, dass er dagegen verstösst und nahm dies zumindest in Kauf. Somit hat der Beschuldigte mit Vorsatz gehandelt und er erfüllt den subjektiven Tatbestand von Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG.

4.5.3. Ergebnis
Der Beschuldigte ist des Nichttragens der Gesichtsmaske in einem Bahnhof nach Art. 83 Abs. 1 lit. j i.V.m. Art. 3b Abs. 1 aCovid-19-Verordnung besondere Lage schuldig zu sprechen. Es sind keine Rechtfertigungs- oder Schuldausschlussgründe erkennbar.