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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Erstinstanzliche Gerichte
Abteilung:Bezirksgerichte Luzern
Rechtsgebiet:Strafprozessrecht
Entscheiddatum:13.04.2022
Fallnummer:2Q1 21 89
LGVE:2022 V Nr. 1
Gesetzesartikel:Art. 352 Abs. 1 StPO, Art. 356 Abs. 2 StPO, Art. 356 Abs. 5 StPO.
Leitsatz:Wird ein Strafbefehl erlassen, obwohl eindeutig weder ein Geständnis noch ein anderweitig ausreichend geklärter Sachverhalt vorliegt, ist dieser i.S.v. Art. 356 Abs. 2 StPO ungültig. Der Strafbefehl ist nach Art. 356 Abs. 5 StPO aufzuheben und der Fall zur Durchführung eines neuen Vorverfahrens an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen.
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:Sachverhalt (zusammengefasst)

Die Staatsanwaltschaft erliess gegen die Beschuldigte einen Strafbefehl u.a. wegen Veruntreuung. Dagegen erhob die Beschuldigte Einsprache. Die Staatsanwaltschaft überwies den Strafbefehl dem Bezirksgericht zur Durchführung des Hauptverfahrens.

Aus den Erwägungen.

2.3
Die vorangehenden Ausführungen zeigen, dass der Sachverhalt betreffend den Vorwurf der mehrfachen Veruntreuung durch die Beschuldigte eindeutig weder eingestanden noch anderweitig ausreichend geklärt ist. (…)

2.4
Zu prüfen bleibt, ob das eindeutige Fehlen eines Geständnisses bzw. eines anderweitig ausreichend geklärten Sachverhalts den Strafbefehl i.S.v. Art. 356 Abs. 2 StPO ungültig macht und dazu führt, dass ihn das Gericht i.S.v. Art. 356 Abs. 5 StPO aufzuheben und den Fall zur Durchführung eines neuen Vorverfahrens an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen hat. Die Rechtsprechung des Bundesgerichts dazu ist uneinheitlich. In den Bundesgerichtsurteilen 6B_432/2016 sowie 6B_434/2016, beide vom 27.3.2017, führte das Bundesgericht aus, es sei eine Frage der Beweiswürdigung und primäre Aufgabe des urteilenden Gerichts, zu prüfen, ob der Sachverhalt hinreichend erstellt sei. Eine Rückweisung des Strafbefehls an die Staatsanwaltschaft, weil der Sachverhalt nicht hinreichend geklärt sein solle, komme anders als bei Mängeln formaler Natur nicht in Frage (E. 1.2). Davon abweichend hielt das Bundesgericht im Urteil 6B_848/2013 vom 3.4.2014 fest, ein ungültiger Strafbefehl liege beispielsweise vor, wenn eindeutig weder ein Geständnis noch ein anderweitig ausreichend geklärter Sachverhalt im Sinne von Art. 352 Abs. 1 StPO vorliege (E. 1.3.2). Im Urteil 6B_910/2017 vom 29.12.2017 bestätigte es diese Ansicht. Ungültig sei ein Strafbefehl nicht nur bei formellen, sondern auch bei inhaltlichen Mängeln, namentlich wenn kein im Sinne von Art. 352 Abs. 1 StPO ausreichend geklärter Sachverhalt vorliege (E. 2.4). Auch die Lehre vertritt mehrheitlich die Auffassung, ein Strafbefehl sei ungültig und aufzuheben, wenn der Sachverhalt eindeutig weder eingestanden noch anderweitig ausreichend geklärt sei (Schmid/Jositsch, Schweizerische Strafprozessordnung Praxiskommentar, 2018, N 7 zu Art. 356 StPO; Schwarzenegger, Schulthess Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2020, N 12d zu Art. 352 StPO und N 2 zu Art. 356 StPO; wohl a.M. Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, 2020, N 1961). Dieser Ansicht ist zu folgen.

Es entspricht dem Willen des Gesetzgebers, dass die Staatsanwaltschaft nur unter den in Art. 352 Abs. 1 StPO statuierten Voraussetzungen einen Strafbefehl erlassen darf. Unter anderem muss die beschuldigte Person den Sachverhalt im Vorverfahren entweder eingestanden haben oder dieser anderweitig ausreichend geklärt sein. Die Prüfung der in Art. 352 Abs. 1 StPO statuierten Voraussetzungen für den Erlass eines Strafbefehls hat der Gesetzgeber in Art. 356 Abs. 2 StPO dem Gericht übertragen. Entsprechend muss das Gericht einen Strafbefehl, gegen den Einsprache erhoben wurde, zumindest dann aufheben können, wenn das Fehlen eines Geständnisses bzw. eines ausreichend geklärten Sachverhalts eindeutig ist. Selbst eine direkte Anklage kann das Gericht nach Art. 329 Abs. 2 StPO zur Erhebung unverzichtbarer Beweise - Beweise deren Fehlen die materielle Beurteilung der Sache verhindern - zurückweisen (vgl. BGE 141 IV 39 E. 1.6.2; Urteil BGer 1B_304/2011 = Pra 101 [2012] Nr. 54 E. 3.2.2). Müsste das Gericht bei Einsprache gegen einen Strafbefehl auch über die blosse Beweisergänzung hinausgehende Beweisabnahmen vornehmen, würde das Vorverfahren in das erstinstanzliche Hauptverfahren verlagert und das Gericht in die Rolle der untersuchenden Behörde gedrängt. Dies lässt sich mit dem Gewaltenteilungsprinzip nicht vereinbaren.

Vor diesem Hintergrund ist ein Strafbefehl, der erlassen wird, obwohl eindeutig weder ein Geständnis noch ein anderweitig ausreichend geklärter Sachverhalt vorliegt, i.S.v. Art. 356 Abs. 2 StPO ungültig und i.S.v. Art. 356 Abs. 5 StPO aufzuheben und der Fall zur Durchführung eines neuen Vorverfahrens an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen.