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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:3. Abteilung
Rechtsgebiet:Erwerbsersatzordnung
Entscheiddatum:14.04.2022
Fallnummer:5V 21 401
LGVE:2022 III Nr. 1
Gesetzesartikel:Art. 16i EOG, Art. 16k Abs. 2 EOG
Leitsatz:Auch bei einer Mehrlingsgeburt besteht nur Anspruch auf eine Vaterschaftsentschädigung (E. 3).
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:
A.
Der 1983 geborene A.________ wurde am 31. März 2021 Vater der Zwillinge B.________ und C.________. Am 21. April 2021 meldete sich A.________ zum Bezug der Vaterschaftsentschädigung für seine Tochter B.________ bei der Ausgleichskasse Luzern (nachfolgend Ausgleichskasse) an und machte geltend, den Vaterschaftsurlaub vom 1. bis zum 17. April 2021 bezogen zu haben. Die Ausgleichskasse bewilligte daraufhin am 10. Juni 2021 die Vaterschaftsentschädigung und rechnete diese entsprechend ab.

Am 31. Juli 2021 meldete sich A.________ zum Bezug der Vaterschaftsentschädigung für seinen Sohn C.________ an und machte geltend, den Vaterschaftsurlaub vom 5. bis zum 16. Juli 2021 bezogen zu haben. Mit Verfügung vom 9. September 2021 lehnte die Ausgleichskasse den Antrag mit der Begründung ab, gemäss den gesetzlichen Grundlagen bestehe der Anspruch auf Vaterschaftsentschädigung bei Mehrlingsgeburten nur einmal. Die dagegen erhobene Einsprache vom 15. September 2021 wies die Ausgleichskasse mit Entscheid vom 11. Oktober 2021 ab.

B.
Hiergegen erhob A.________ Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragte sinngemäss, ihm sei die Vaterschaftsentschädigung für die Geburt von C.________ zuzusprechen.

Die Ausgleichskasse schloss vernehmlassend auf Abweisung der Beschwerde.
Aus den Erwägungen

2.
2.1
Der Anspruch auf Vaterschaftsentschädigung setzt gemäss Art. 16i Abs. 1 des Bundesgesetzes über den Erwerbsersatz für Dienstleistende und bei Mutterschaft (EOG; SR 834.1) voraus, dass der Mann im Zeitpunkt der Geburt des Kindes der rechtliche Vater ist oder dies innerhalb der folgenden sechs Monate wird (lit. a); während der neun Monate unmittelbar vor der Geburt des Kindes im Sinn des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG; SR 831.10) obligatorisch versichert war (lit. b); in dieser Zeit mindestens fünf Monate lang eine Erwerbstätigkeit ausgeübt hat (lit. c); und im Zeitpunkt der Geburt des Kindes Arbeitnehmer im Sinn von Art. 10 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1; lit. d Ziff. 1) oder Selbständigerwerbender im Sinn von Art. 12 ATSG ist (lit. d Ziff. 2) oder im Betrieb der Ehefrau mitarbeitet und einen Barlohn bezieht (lit. d Ziff. 3). Diese Anspruchsvoraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein (vgl. Rz.1036 des Kreisschreibens über die Mutter- und Vaterschaftsentschädigung [nachfolgend KS MVSE; Stand 30.10.2020]; vgl. auch Art. 16i Abs. 2 und 3 EOG für abweichende Lebenssituationen).

2.2
Der Vater hat Anspruch auf höchstens 14 Taggelder (Art. 16k Abs. 2 EOG). Für den Bezug der Vaterschaftsentschädigung gilt eine Rahmenfrist von sechs Monaten (Art. 16j Abs. 1 EOG). Die Rahmenfrist und der Anspruch beginnen am Tag der Geburt des Kindes (Art. 16j Abs. 2 EOG). Der Anspruch endet unter anderem nach Ablauf der Rahmenfrist (Art. 16j Abs. 3 lit. a EOG). Der Anspruch auf Entschädigung entsteht, wenn das Kind lebensfähig geboren wird (Art. 23 Abs. 1 der Erwerbsersatzverordnung vom 24.11.2004 [EOV; SR 834.11]).

2.3
Gemäss Rz.1042 KS MVSE entsteht der Anspruch auf Vaterschafts- (sowie auch auf Mutterschafts-)entschädigung bei einer Mehrlingsgeburt am Tag des erstgeborenen Kindes. Eine Vermehrfachung des Anspruchs auf Vaterschafts- (sowie auch Mutterschafts-)entschädigung bei Mehrlingsgeburt ist im erwähnten Kreisschreiben somit nicht vorgesehen. Beim erwähnten Kreisschreiben handelt es sich um eine Verwaltungsweisung. Verwaltungsweisungen richten sich an die Durchführungsstellen und sind für das Kantonsgericht nicht verbindlich. Dieses soll sie bei seiner Entscheidung aber berücksichtigen, sofern sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen. Das Gericht weicht also nicht ohne triftigen Grund von Verwaltungsweisungen ab, wenn diese eine überzeugende Konkretisierung der rechtlichen Vorgaben darstellen. Insofern wird dem Bestreben der Verwaltung, durch interne Weisungen eine rechtsgleiche Gesetzesanwendung zu gewährleisten, Rechnung getragen (BGE 146 V 224 E. 4.4.2). Das Gericht weicht jedoch insoweit von Weisungen ab, als sie nicht gesetzmässig sind bzw. in Ermangelung gesetzlicher Vorschriften mit den allgemeinen Grundsätzen des Bundesrechts nicht im Einklang stehen (BGE 132 V 121 E. 4.4).

2.4
Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der Bestimmung. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, so muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente (grammatikalisches, historisches, systematisches und teleologisches Element [vgl. SVR 2005 ALV Nr. 6 E. 3.3]). Abzustellen ist dabei namentlich auf die Entstehungsgeschichte der Norm und ihren Zweck, auf die dem Text zu Grunde liegenden Wertungen sowie auf die Bedeutung, die der Norm im Kontext mit anderen Bestimmungen zukommt. Die Gesetzesmaterialien sind zwar nicht unmittelbar entscheidend, dienen aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu erkennen. Das Bundesgericht hat sich bei der Auslegung von Erlassen stets von einem Methodenpluralismus leiten lassen und nur dann allein auf das grammatikalische Element abgestellt, wenn sich daraus zweifelsfrei die sachlich richtige Lösung ergab (BGE 147 V 55 E. 5.1; 145 V 2 E. 4.1).

3.
3.1
Während die Verwaltung das KS MVSE als für sie verbindlich erachtet, vertritt der Beschwerdeführer den Standpunkt, es existiere keine gesetzliche Grundlage, trotz Mehrlingsgeburt die Vaterschaftsentschädigung bloss einmal und nicht für jedes Kind einzeln auszuzahlen.

3.2
3.2.1
Die Frage, ob eine Mehrlingsgeburt den Anspruch auf Vaterschaftsentschädigung entsprechend vermehrfacht, ist im Gesetz sowie in der entsprechenden Verordnung nicht klar geregelt (vgl. 16i ff. EOG und Art. 23 ff. EOV). Die gesetzliche Bestimmung von Art. 16i Abs. 1 lit. a EOG ist im Singular abgefasst ("im Zeitpunkt der Geburt des Kindes"). Fraglich ist, ob dem Gesetzgeber auch im Fall der Mehrlingsschwangerschaft bloss ein einziger, die Schwangerschaft abschliessender Geburtsvorgang vorgeschwebt hat, womit gleichzeitig bloss ein Anspruch auf die Vaterschaftsentschädigung (wie auch auf die Mutterschaftsentschädigung) entstünde. Denn der Wortlaut "im Zeitpunkt der Geburt des Kindes" schliesst nicht aus, dass für jedes einzelne Kind ein entsprechender Anspruch entstehen kann, ist doch die hierfür notwendige Voraussetzung, dass die Geburt bereits dann vollendet ist, wenn das Kind ganz aus dem Körper der Mutter ausgetreten ist (vgl. Beretta, Basler Komm., 6. Aufl. 2018, Art. 31 ZGB N 3 Rz. 3), bei Mehrlingsgeburten mehrfach erfüllt. Es ist deshalb auszulegen, ob mit dem Ausdruck "Geburt des Kindes" in Art. 16i Abs.1 lit. a EOG auch bei einer Mehrlingsgeburt bloss ein einziges Geburtsereignis gemeint ist.

3.2.2
Da es sich bei Art. 16i ff. EOG um neue Bestimmungen handelt (vgl. AS 2020 4689), die noch auf wenig veränderte Umstände und ein kaum gewandeltes Rechtsverständnis treffen, kommt den Materialien besondere Bedeutung zu (BGE 140 V 449 E. 4.2). Aus den Vorarbeiten zum Entwurf zu einer Änderung des EOG betreffend die Vaterschaftsentschädigung (vgl. Art.16i ff. E-EOG; BBl 2019 3423 ff.), welcher, abgesehen von einer rein redaktionellen Änderung, am 1. Januar 2021 unverändert in Kraft getreten ist, ergibt sich der diesbezügliche Wille des Gesetzgebers zur Vaterschaftsentschädigung. "Wie bei der Mutterschaftsentschädigung entsteht bei einer Mehrlingsgeburt nur eine Entschädigung" (Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerats zur parlamentarischen Initiative: Indirekter Gegenentwurf zur Vaterschaftsurlaubs-Initiative; BBl 2019 3414). Die Auslegung des historischen Elements führt somit zum Ergebnis, dass es der Gesetzgeber zwar nicht als notwendig erachtete, den Sonderfall der Mehrlingsgeburt in Art.16i ff. EOG explizit zu regeln, er nichtsdestotrotz keine entsprechende Vermehrfachung der Anspruchsberechtigung beabsichtigte.

3.2.3
Analog verhält es sich in der gesetzlichen Normierung der Mutterschaftsentschädigung (vgl. Art. 16b ff. EOG), welche den Sonderfall der Mehrlingsgeburt ebenfalls nicht klar regelt. Nichtsdestotrotz ist es heute unumstritten, dass eine Mehrlingsgeburt zu keiner entsprechenden Vermehrfachung der Mutterschaftsentschädigung führt (so auch in BBl 2019 3414). Demnach gibt es auch nach systematischen Gesichtspunkten keinen Anlass anzunehmen, dass für die Vaterschaftsentschädigung eine davon abweichende Regelung gelten sollte.

3.2.4
Die Vaterschaftsentschädigung bzw. der Vaterschaftsurlaub im Sinn von Art. 329g des Obligationenrechts (OR; SR 220) hat sodann den Sinn und Zweck der Förderung familienfreundlicher Arbeitsbedingungen. So können Mutter- und Vaterschaftsurlaub zu einer partnerschaftlichen Rollenteilung in der Familie beitragen, indem sie den Eltern unmittelbar nach der Geburt des Kindes die Möglichkeit eröffnen, sich intensiv an dessen Betreuung und Erziehung zu beteiligen. Die Mutter- wie auch Vaterschaftsentschädigung ermöglichen es hierbei den Eltern, ihre familiären Aufgaben wahrzunehmen, ohne dass sie gezwungen wären, ihre Erwerbstätigkeit zugunsten der Familie aufzugeben (vgl. BBl 2019 3407 f.). Die in durch Rz.1042 KS MVSE getroffene Regelung widerspricht somit auch nicht dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung. Dieser wird vielmehr auch dann erreicht, wenn bei einer Mehrlingsgeburt nur eine Vaterschaftsentschädigung ausgezahlt wird.

3.3
Aus diesen Gründen und unter Würdigung aller Umstände, sieht das Kantonsgericht vorliegend keinen triftigen Grund, von der Verwaltungsweisung in Rz. 1042 KS MVSE abzuweichen, da sie eine überzeugende Konkretisierung der rechtlichen Vorgaben darstellt und überdies dem Willen des Gesetzgebers entspricht. Zudem ist nach dem Gesagten kein Verstoss der allgemeinen Grundsätze des Bundesrechts ersichtlich.

3.4
Demensprechend gewährt das Gesetz bei einer Mehrlingsgeburt Anspruch auf nur eine Vaterschaftsentschädigung im Sinn von Art. 16i EOG. Die Beantwortung der Frage, ob eine Vermehrfachung der Vaterschaftsentschädigung bei einer Mehrlingsgeburt bzw. zumindest ein Mehrlingszuschlag auf die Vaterschafts- (bzw. auch Mutterschafts-)entschädigung – wie teilweise in den Ländern der EU bereits länger üblich (vgl. schon BBl 1997 IV 1002 ff. mit Hinweisen) – grundsätzlich wünschenswert wäre, ist aufgrund des Prinzips der Gewaltenteilung nicht in der Kompetenz des Kantonsgerichts, vielmehr ist dies Sache des Gesetzgebers.

4.
Die Beschwerde gegen den Entscheid vom 11. Oktober 2021 erweist sich nach dem Gesagten als unbegründet und ist somit abzuweisen.