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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:2. Abteilung
Rechtsgebiet:Strafrecht
Entscheiddatum:19.10.2021
Fallnummer:4N 21 2
LGVE:2022 II Nr. 4
Gesetzesartikel:Art. 63b Abs. 4 Satz 2 StGB, Art. 43 Abs. 1 StGB.
Leitsatz:Nach Beendigung der ambulanten Massnahme gilt es zu vermeiden, eingetretene Therapieerfolge durch einen allenfalls kontraproduktiven Vollzug der Strafe zunichte zu machen. Der mit einer Freiheitsstrafe zwischen zwei und drei Jahren belegte Straftäter ist im Nachverfahren nicht schlechter zu stellen als im ursprünglichen Strafprozess. Demnach ist festzuhalten, dass Art. 63b Abs. 4 Satz 2 StGB bei gegebenen Voraussetzungen sowohl den bedingten Vollzug nach Art. 42 StGB als auch den teilbedingten Vollzug nach Art. 43 StGB zulässt.
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist noch nicht rechtskräftig.
Dieser Entscheid wurde vom Bundesgericht mit Urteil 6B_245/2022 vom 21. Juni 2022 aufgehoben, wobei das Bundesgericht die hier behandelte Rechtsfrage offen gelassen hat.
Entscheid:
Aus den Erwägungen:


3.3.5.1
In Lehre und Rechtsprechung ist umstritten, ob von Art. 63b Abs. 4 Satz 2 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs (StGB; SR 311.0) auch der teilbedingte Strafvollzug mitumfasst ist, ob die an sich nach Art. 63b Abs. 2 StGB zu vollziehende Strafe also auch nur teilweise aufgeschoben werden kann, wenn die Voraussetzungen des Art. 43 Abs. 1 StGB erfüllt sind. Das Bundesgericht hat diese Frage in einem Urteil aus dem Jahr 2012 offen gelassen (BGer-Urteil 6B_206/2012 vom 5.7.2012 E. 3.3), wohingegen diese Möglichkeit nach Ansicht des Obergerichts Zürich mit Verweis auf den Wortlaut ausgeschlossen sein soll (Beschluss UG070011 der III. Strafkammer des Obergerichts Zürich vom 2.7.2009 E. 5c). Während sich Stefan Trechsel und Barbara Pauen Borer gestützt auf den Gesetzeswortlaut dem Standpunkt des Zürcher Obergericht anschliessen (Trechsel/Pauen Borer, Praxiskomm. StGB, 4. Aufl. 2021, N 5 zu Art. 63b StGB), spricht sich Marianne Heer im Zusammenhang mit der gleichgelagerten Frage bei der stationären therapeutischen Massnahme (vgl. Art. 62c Abs. 2 Satz 2 StGB) für die Option des teilbedingten Vollzugs einer zugunsten der Massnahme aufgeschobenen Freiheitsstrafe aus (Heer, Basler Komm., 4. Aufl. 2019, N 35a zu Art. 62c StGB; offen gelassen in Bezug auf die ambulante Massnahme, vgl. Heer, a.a.O., N 8 zu Art. 63b StGB). Die Frage ist anhand einer Auslegung der massgeblichen Bestimmung zu beantworten.

Ausgangspunkt der Gesetzesauslegung ist der Gesetzestext (grammatikalisches Element). Ist der Wortlaut der Bestimmung klar, d.h. eindeutig und unmissverständlich, darf davon nur abgewichen werden, wenn ein triftiger Grund für die Annahme besteht, der Wortlaut ziele am "wahren Sinn" der Regelung vorbei. Anlass für eine solche Annahme können die Entstehungsgeschichte der Bestimmung (historisches Element), ihr Zweck (teleologisches Element) oder der Zusammenhang mit andern Vorschriften (systematischesElement) geben. Nur für den Fall, dass der Wortlaut der Bestimmung unklar bzw. nicht restlos klar ist und verschiedene Interpretationen möglich bleiben, muss nach der wahren Tragweite der Bestimmung gesucht werden. Dabei sind alle anerkannten Auslegungselemente zu berücksichtigen. Auch eine solche Auslegung findet ihre Grenzen aber am klaren Wortlaut und Sinn einer Gesetzesbestimmung, indem der eindeutige Wortsinn nicht zugunsten einer solchen Interpretation beiseitegeschoben werden darf (BGE 143 I 272 E 2.2.3, 128 IV 272 E. 2 je m.H.).

Zu Recht wird in Lehre und Rechtsprechung darauf hingewiesen, dass Art. 63b Abs. 4 Satz 2 StGB neben der hier nicht einschlägigen Möglichkeit der bedingten Entlassung einzig auf jene des bedingten Strafvollzugs verweist, den teilbedingten Strafvollzug demnach nicht explizit erwähnt. Ob es sich dabei indes um ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzgebers handelt oder ob eine Gesetzeslücke vorliegt, ergibt sich aus dem Wortlaut alleine nicht. Der Begriff des bedingten Strafvollzugs könnte nämlich durchaus als Überbegriff der gesetzlich vorgesehenen Varianten des voll- und teilbedingten Strafvollzugs verstanden werden. Der Gesetzeswortlaut ist für sich genommen demnach nicht eindeutig, weshalb er anhand der übrigen Auslegungselemente zu interpretieren ist.

Die Gesetzesmaterialien bieten keinen Aufschluss über die hier zu klärende Frage (Botschaft zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches [Allgemeine Bestimmungen, Einführung und Anwendung des Gesetzes] und des Militärstrafgesetzes sowie zu einem Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht vom 21.9.1998, BBl 1999, S. 1979 ff., S. 2087 und 2093). Die Gesetzessystematik gibt keinen Anlass, an der Anwendbarkeit von Art. 43 StGB auch im Rahmen von Art. 63b Abs. 4 StGB zu zweifeln. Sowohl Art. 42 als auch Art. 43 StGB machen die Möglichkeit des (teil-)bedingten Vollzugs in erster Linie an der Legalprognose des Täters oder der Täterin fest. In objektiver Hinsicht unterscheiden sich die Voraussetzungen des vollbedingten und teilbedingten Vollzugs einzig hinsichtlich der Höhe der ausgesprochenen Strafe: Während ersterer bei einer Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren anwendbar ist, bezieht sich letzterer auf eine Freiheitsstrafe zwischen einem und drei Jahren. Im Entwurf des Bundesrats zur Änderung des allgemeinen Teils des StGB vom 21. September 1998, in welchem die Möglichkeit des Aufschubs der Freiheitsstrafe nach Art. 63b Abs. 4 StGB erstmals vorgesehen war, wurden der voll- und der teilbedingte Strafvollzug denn auch noch in einem einzigen Artikel unter der Überschrift "bedingte Freiheitsstrafe" geregelt. Entscheidend für die Möglichkeit des teilbedingten Strafvollzugs im Rahmen von Art. 63b Abs. 4 StGB spricht schliesslich das teleologische Auslegungselement. Bei originärer Anordnung einer Freiheitsstrafe steht jeder beschuldigten Person, die die subjektiven Voraussetzungen des bedingten Strafvollzugs erfüllt, abhängig von der Strafhöhe die Möglichkeit des voll- oder teilbedingten Strafvollzugs zu. Gründe dafür, weshalb die verurteilte Person nach Beendigung einer Massnahme bei gegebenen Voraussetzungen nur der vollbedingte, nicht aber mehr der teilbedingte Strafvollzug möglich sein soll, sind nicht ersichtlich. Dies gilt namentlich im überschneidenden Anwendungsbereich von Art. 42 und 43 StGB von einem bis zwei Jahren Freiheitsstrafe. Das Bundesgericht hat den teilbedingten Vollzug hier als Ausnahmefall des vollbedingten Vollzugs bezeichnet (BGE 134 IV 1 E. 5.5.2), was deutlich macht, wie eng diese Vollzugsmöglichkeiten verknüpft sind. Die Möglichkeit des teilbedingten Strafvollzugs dient im Wesentlichen wie jene des vollbedingten Strafvollzugs der Spezialprävention, mithin der Verhinderung weiterer Straftaten der beschuldigten Person (Schneider/Garré, Basler Komm., 4. Aufl. 2019, N 14 zu Art. 43 StGB m.H.). Nach Beendigung der ambulanten Massnahme hat dieser Strafzweck nichts an seiner Bedeutung verloren, im Gegenteil: zusätzlich gilt es zu vermeiden, eingetretene Therapieerfolge durch einen allenfalls kontraproduktiven Vollzug der Strafe zunichte zu machen (Heer, a.a.O, N 8 zu Art. 63b StGB). Diese Ausgangslage spricht dafür, den mit einer Freiheitsstrafe zwischen zwei und drei Jahren belegten Straftäter im Nachverfahren nicht schlechter zu stellen als im ursprünglichen Strafprozess. Nach Beendigung der ambulanten Massnahme muss es demnach auch möglich sein, in Anwendung von Art. 63b Abs. 4 und Art. 43 Abs. 1 StGB lediglich einen Teil der Freiheitsstrafe aufzuschieben.

Als Ergebnis ist festzuhalten, dass Art. 63b Abs. 4 Satz 2 StGB bei gegebenen Voraussetzungen sowohl den bedingten Vollzug nach Art. 42 StGB als auch den teilbedingten Vollzug nach Art. 43 StGB zulässt.