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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:2. Abteilung
Rechtsgebiet:Familienrecht
Entscheiddatum:24.01.2023
Fallnummer:3C 22 8
LGVE:2023 II Nr. 2
Gesetzesartikel:Art. 158 ZPO, Art. 107 Abs. 1 lit. c ZPO, Art. 107 Abs. 1 lit. f ZPO.
Leitsatz:Das selbständige Verfahren um vorsorgliche Beweisführung im Hinblick auf ein allfälliges Abänderungsverfahren ist als familienrechtliche Streitigkeit im Sinne von Art. 107 Abs. 1 lit. c ZPO zu qualifizieren, weshalb die Verfahrenskosten nach Ermessen zu verteilen sind.
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:Aus den Erwägungen:

3.5.
3.5.1.
Das Bundesgericht erwog in BGE 140 III 30, im Normalfall gebe es im Verfahren der vorsorglichen Beweisführung keine unterliegende Partei. Die vorsorgliche Beweisführung erfolge im Hinblick auf ein eventuelles Hauptverfahren, in dem erst entschieden werde, welche Partei in der Auseinandersetzung über einen behaupteten materiellen Anspruch unterliege. Das Unterliegerprinzip nach Art. 106 ZPO könne somit für die Kostenverteilung nicht herangezogen werden. Deshalb seien die Prozesskosten in Anwendung von Art. 107 Abs. 1 lit. f ZPO nach Ermessen zu verlegen. Die gesuchsgegnerische Partei habe es nicht in der Hand ein Verfahren um vorsorgliche Beweisführung zu vermeiden, indem sie das Gesuch "anerkenne" bzw. darauf verzichte dessen Abweisung zu beantragen. Selbst ein Abweisungsantrag sei für die Durchführung des Verfahrens nicht ausschlaggebend. Das Gericht habe stets von Amtes wegen zu prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für eine vorsorgliche Beweisführung nach Art. 158 ZPO erfüllt seien, d.h. im Fall, dass sich das Gesuch auf Art. 158 Abs. 1 lit. b ZPO stütze, ob eine Gefährdung der Beweismittel oder ein schutzwürdiges Interesse im Sinn dieser Bestimmung glaubhaft gemacht sei. Würden die Voraussetzungen bejaht, seien in einem zweiten Schritt die beantragten Beweise zu erheben. Dabei diene das Verfahren der vorsorglichen Beweisführung in jedem Fall den Interessen derjenigen Partei, die darum ersuche. Jene Partei habe auf diesem Weg die Möglichkeit, einen gefährdeten Beweis zu sichern oder ihre Prozesschancen abzuklären. Es erscheine daher billig, diese Partei auch dann die Kosten – vorbehältlich einer anderen Verteilung im Hauptprozess – tragen zu lassen, wenn die Gegenpartei zu Unrecht die Abweisung des Gesuchs beantragt habe (BGE 140 III 30 E. 3.4 und 3.5).

3.5.2.
Das Bundesgericht geht davon aus, dass im Verfahren um vorsorgliche Beweisführung keine Partei unterliegen könne und die Verfahrenskosten in Anwendung von Art. 107 Abs. 1 lit. f ZPO immer vom Gesuchsteller allein zu tragen seien, soweit der Gesuchsgegner sich "im angezeigten Umfang" zur Wehr setze. Das Verfahren um vorsorgliche Beweisführung diene stets dem Interesse der gesuchstellenden Partei (BGE 140 III 30 E. 3.5). Der bundesgerichtlichen Rechtsprechung liegt in der Hauptsache eine Streitigkeit aus Werkvertrag zugrunde, die naturgemäss auf entgegengesetzten Interessen der Parteien basiert (vgl. Sachverhalt des BGer-Urteils 4D_54/2013 vom 6.1.2014, nicht publiziert in: BGE 140 III 30). Anders als im klassischen Zivilprozess präsentiert sich die Interessenlage in familienrechtlichen Verfahren regelmässig anders. So sind in familienrechtlichen Verfahren häufig die Belange von Kindern zu regeln, die selbst nicht als materielle Prozessparteien auftreten. Für ihr Wohl sind beide Elternteile verantwortlich, auch wenn ihre Rechte in der Regel von einem Elternteil im eigenen Namen geltend gemacht werden (sog. Prozessstandschaft). Die Interessen der Kinder sind in den familienrechtlichen Verfahren ihrer Eltern zudem stets von Amtes wegen in die Entscheidung miteinzubeziehen (Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], BBl 2006 7221 ff., S. 7366 f.; BGer-Urteil 5A_104/2009 vom 19.3.2009 E. 2.2.). Für Kinderbelange gilt denn auch einerseits die strenge Untersuchungsmaxime, die – weitergehend als die sogenannte soziale Untersuchungsmaxime (vgl. Art. 247 Abs. 2 ZPO) – ein aktives richterliches Erforschen des Sachverhalts einfordert (Art. 296 Abs. 1 ZPO; BGE 128 III 411 E. 3.2.1 S. 412) und anderseits die Offizialmaxime, wonach die richterliche Rechtsgestaltung nicht an Parteianträge gebunden ist (Art. 296 Abs. 3 ZPO). Nicht zuletzt aufgrund dieser komplexen Interessenlage kennt die Zivilprozessordnung für familienrechtliche Verfahren eine eigene Billigkeitsnorm, wonach das Gericht in diesen Verfahren von den Verteilungsgrundsätzen gemäss Art. 106 ZPO abweichen und die Prozesskosten nach Ermessen verteilen kann (Art. 107 Abs. 1 lit. c ZPO). Im Anwendungsbereich von Art. 107 ZPO steht es im Ermessen des Gerichts, ob es von den allgemeinen Verteilgrundsätzen nach Art. 106 ZPO abweichen will, welche von mehreren einschlägigen Bestimmungen es wählt und wie es die Kosten schliesslich verteilt (vgl. BGE 139 III 358 E. 3 mit Hinweisen). Art. 107 Abs. 1 lit. f ZPO bildet lediglich einen Auffangtatbestand (BGE 139 III 33 E. 4.2 mit Verweis auf die Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], BBl 2006 7221 ff., S. 7297 f.).

3.5.3.
Als familienrechtliche Verfahren gelten neben den Verfahren zwischen Verwandten (z.B. die Vaterschaftsklage nach Art. 261 ZGB) auch solche zwischen nicht verwandten Personen (z.B. die Klage der unverheirateten Mutter gegen den Vater ihres Kindes nach Art. 295 ZGB). Es fallen grundsätzlich alle eherechtlichen Verfahren des 6. und 7. Titels der Zivilprozessordnung unter die Bestimmung (Sterchi, Berner Komm., Bern 2012, Art. 107 ZPO N 11 und 12; Sutter-Somm/Seiler, Handkommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, Zürich 2021, Art. 107 ZPO N 8; Tappy, Commentaire romand Code de procédure civile [Hrsg. Bohnet/Haldy/Jeandin/Schweizer/Tappy], Bâle 2019, Art. 107 ZPO N 21). Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um vermögensrechtliche oder nicht vermögensrechtliche Streitigkeiten handelt (Gasser/Rickli, Kurzkommentar Schweizerische Zivilprozessordnung, 2. Aufl. 2014, Art. 107 ZPO N 2). Auch bei den Abänderungsverfahren nach Art. 129 ZGB und Art. 286 ZGB handelt es sich um familienrechtliche Verfahren (vgl. Art. 284 ZPO; Sterchi, a.a.O., Art. 107 ZPO N 11). Bedarf eine Partei Angaben über die wirtschaftliche Situation der anderen Partei, um einen allfälligen Abänderungsanspruch zu prüfen, so kann sie sich auf prozessuale Editions- und Auskunftspflichten stützen, eine unbezifferte Forderungsklage erheben und die Bezifferung nach Abschluss des Beweisverfahrens vornehmen (vgl. Art. 85 ZPO). Soweit es ihr möglich ist, kann sie auch ein beziffertes Rechtsbegehren stellen und die Edition von Unterlagen zu Beweiszwecken beantragen. Will die Partei aber vorerst nur die Prozesschancen abklären, wird sie ihr Editionsbegehren regelmässig im Rahmen eines Verfahrens um vorsorgliche Beweisführung stellen. Weder unverheiratete noch geschiedene Parteien können sich dabei auf den materiell-rechtlichen Auskunftsanspruch nach Art. 170 ZGB berufen. Insofern werden für sämtliche vorgenannten Rechtsbehelfe rechtsgenügende Behauptungen vorausgesetzt, welche Tatsachen durch die zu edierenden Urkunden bewiesen werden sollen (vgl. Maier, Rechtsbehelfe zur Informationsbeschaffung im Ehegüterrecht bei strittigen Scheidungen, in: ZZZ 51/2020, S. 193 ff.).

3.5.4.
Stellt eine Partei zur Sicherung eines gefährdeten Beweismittels oder zur Abklärung ihrer Prozesschancen ein Gesuch um vorsorgliche Beweisführung, um im Hinblick auf ein allfälliges Abänderungsverfahren an die Unterlagen zum Einkommen der Gegenpartei zu gelangen, muss nach dem Gesagten ein familienrechtliches Verfahren vorliegen. Die gesuchstellende Partei macht ihr Auskunftsbegehren zwar in einem selbständigen Verfahren um vorsorgliche Beweisführung geltend, der zugrundeliegende Hauptsachenanspruch ist jedoch derselbe wie in einem Abänderungsverfahren. Beiden Verfahren liegt ein familiärer Konflikt zugrunde, dessen Besonderheiten es rechtfertigen, die Kosten nach Ermessen zu verteilen. Dem Verfahren um vorsorgliche Beweisführung kommt lediglich eine Hilfsfunktion in Bezug auf das allfällige Abänderungsverfahren zu. Das Gericht hat anhand des familienrechtlichen Hauptanspruchs zu prüfen, ob eine Gefährdung der Beweismittel oder ein schutzwürdiges Interesse glaubhaft gemacht ist. Wenngleich zwischen unverheirateten oder geschiedenen Parteien kein materiellrechtlicher Auskunftsanspruch im Sinne von Art. 170 ZGB (mehr) besteht, hat der Abänderungsanspruch seine Grundlage im materiellen Zivilrecht (Art. 129 ZGB, Art. 286 ZGB) und – soweit es um die Beurteilung von Unterhaltsansprüchen Minderjähriger geht – hat das Gericht den Sachverhalt von Amtes wegen zu erforschen (Art. 284 Abs. 3 i.V.m. Art. 296 Abs. 1 ZPO). Da für ein Verfahren um vorsorgliche Beweisführung kein Anspruch auf unentgeltliche Prozessführung besteht (BGE 141 I 241 E. 4) und nach- oder ausserehelich auch kein Prozesskostenvorschuss verlangt werden kann (vgl. BGE 142 III 36 E. 2), soll ein allfälliger Abänderungsanspruch Minderjähriger nicht im Vornherein daran scheitern, dass die gesuchstellende Partei stets die Verfahrenskosten der vorsorglichen Beweisführung zu tragen hat (vgl. Art. 29a der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft [BV; SR 101], Art. 6 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten [EMRK; SR 0.101]). Es widerspräche zudem der Prozessökonomie, wenn eine Partei stets ein Abänderungsverfahren einleiten müsste, um ihre Prozesschancen zu klären und eine Verteilung der Verfahrenskosten nach Ermessen zu erreichen. Aus den genannten Gründen ist auch das selbständige Verfahren um vorsorgliche Beweisführung im Hinblick auf ein allfälliges Abänderungsverfahren als familienrechtliche Streitigkeit im Sinne von Art. 107 Abs. 1 lit. c ZPO zu qualifizieren, so dass es dem Gericht freisteht, die Prozesskosten nach Ermessen zu verteilen.