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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:2. Abteilung
Rechtsgebiet:Scheidung
Entscheiddatum:31.01.2023
Fallnummer:3B 22 49
LGVE:2023 II Nr. 4
Gesetzesartikel:Art. 114 ZGB, Art. 115 ZGB, Art. 2 Abs. 2 ZGB; Art. 77 Abs. 1 Ziff. 3 OR; Art. 292 Abs. 1 ZPO.
Leitsatz:Die zweijährige Trennungsfrist gemäss Art. 114 ZGB berechnet sich nach Art. 77 Abs. 1 Ziff. 3 OR (E. 3.4). Bei divergierenden Interessen der Partei-en am Gerichtsstand ist die bewusst verfrüht eingereichte Scheidungsklage als rechtsmissbräuchlich zu qualifizieren, weshalb das Scheidungsverfahren nicht nach den Bestimmungen über die Scheidung auf gemeinsames Begehren weitergeführt werden kann, wenn andernorts eine rechtzeitig eingereichte Scheidungsklage hängig ist (E. 4).
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:Aus den Erwägungen:

3.4. Trennungsfrist
3.4.1.
Gemäss Art. 114 des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs (ZGB; SR 210) kann ein Ehegatte die Scheidung verlangen, wenn die Ehegatten bei Eintritt der Rechtshängigkeit der Klage oder bei Wechsel zur Scheidung auf Klage mindestens zwei Jahre getrennt gelebt haben. Die Frist beginnt mit der Aufnahme des tatsächlichen Getrenntlebens, was bedeutet, dass die Eheleute nicht mehr in einer umfassenden, körperlichen, geistig-seelischen und wirtschaftlichen Gemeinschaft verbunden sind (BGer-Urteil 5A_242/2015 vom 17.6.2015 E. 3.1; Althaus/Huber, Basler Komm., 7. Aufl. 2022, Art. 114 ZGB N 7). Das Scheidungsgericht hat den Trennungszeitpunkt unabhängig zu prüfen und ist nicht an den im summarischen Verfahren ergangenen Eheschutzentscheid gebunden (BGer-Urteil 5P.463/2005 vom 20.3.2006 E. 3.3; Althaus/Huber, a.a.O., Art. 114 ZGB N 6 mit Hinweisen). Die Dauer des Getrenntlebens muss bei Einreichung der Scheidungsklage oder bei Wechsel zur Scheidung auf Klage mindestens zwei Jahre betragen. Die Frist ist zwingend. Im Fall der Scheidungsklage ist der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit massgebend, d.h. bei Eingaben per Post der Poststempel (Art. 62 i.V.m. Art. 143 Abs. 1 der Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO; SR 272]).

Fraglich ist, wie die zweijährige Trennungsfrist zu berechnen ist. Sämtliche einschlägigen Kommentare, die sich zur Berechnung der Trennungsfrist äussern, stellen für die Fristberechnung auf Art. 77 Abs. 1 Ziff. 3 des Obligationenrechts (OR; SR 220) ab (Althaus/Huber, Basler Komm., 7. Aufl. 2022, Art. 114 ZGB N 7; Fankhauser, FamKomm. Scheidung, 4. Aufl. 2022, Art. 114 ZGB N 23; Bohnet, CPra Matrimonial, Neuchâtel 2015, Art. 114 ZGB N 13; Vetterli/Cantieni, in: Kurzkommentar Schweizerisches Zivilgesetzbuch [Hrsg. Büchler/Jakob], 2. Aufl. 2018, Art. 114 ZGB N 4; Sandoz, in: Commentaire romand Code civil I [Hrsg. Pichonnaz/Foëx], Bâle 2010, Art. 114 ZGB N 9). Berechnet sich die Trennungsfrist nach den Bestimmungen des Obligationenrechts, so endet die zweijährige Frist am Tag des zweiten Jahres, der dieselbe Zahl trägt wie der Tag des Getrenntlebens (Art. 77 Abs. 1 Ziff. 3 OR i.V.m. Art. 77 Abs. 2 OR; Schroeter, Basler Komm., 7. Aufl. 2020, Art. 77 OR N 5; Schraner, Zürcher Komm., 3. Aufl. 2000, Art. 77 OR N 19). Die Fristberechnung erfolgt nach Kalendertagen, d.h. nach Zeiträumen zwischen Mitternacht und Mitternacht (sog. Zivilkomputation; BGE 144 III 152 E. 4.4.2). Faktisch führt dies dazu, dass der erste Tag der Frist nicht mitgezählt wird (Weber, Berner Komm., 2. Aufl. 2005, Art. 77 OR N 25). Es werden nur ganze Tage berücksichtigt. Fristauslösender Tag ist somit der Tag des Getrenntlebens (dies a quo), wobei die Frist am folgenden Tag um 00.00 Uhr zu laufen beginnt und an jenem Tag um 24.00 Uhr endet, der zwei Jahre später dieselbe Zahl trägt wie der Tag des Getrenntlebens (dies ad quem). Am folgenden Tag kann um 00.01 Uhr die Scheidungsklage nach Art. 114 ZGB eingereicht werden. Leben die Ehegatten seit dem 1. Januar 2021 getrennt, so endet die zweijährige Trennungsfrist am 1. Januar 2023, 24.00 Uhr. Ab dem 2. Januar 2023, 00.01 Uhr, kann die Scheidungsklage nach Art. 114 ZGB eingereicht werden (Fankhauser, a.a.O., Art. 114 ZGB N 23; Bohnet, a.a.O., Art. 114 ZGB N 13).

Die gegenteilige Auffassung geht davon aus, dass die Frist bereits mit dem Tag des fristauslösenden Ereignisses zu laufen beginnt und die Zweijahresfrist daher nicht am Tag des letzten Jahres, der die gleiche Zahl trägt wie der Tag des fristauslösenden Ereignisses, sondern am Tag davor endet (dies a quo computatur). Nach dieser Auffassung beginnt die zweijährige Trennungsfrist also am Tag des Getrenntlebens und endet um 24.00 Uhr des Tages vor jenem Tag, der zwei Jahre später dieselbe Zahl trägt wie der Tag des Getrenntlebens. Am Tag, der zwei Jahre später dieselbe Zahl trägt wie der Tag des Getrenntlebens, kann die Scheidungsklage nach Art. 114 ZGB um 00.01 Uhr eingereicht werden. Leben die Ehegatten seit dem 1. Januar 2021 getrennt, so endet die zweijährige Trennungsfrist am 31. Dezember 2022, 24.00 Uhr. Ab dem 1. Januar 2023, 00.01 Uhr, kann die Scheidungsklage nach Art. 114 ZGB eingereicht werden. Implizit geht diese Auffassung davon aus, dass die Parteien ansonsten tatsächlich mehr als zwei Jahre getrennt gelebt haben (Beschluss der I. Zivilkammer des Obergerichtes des Kantons Zürich LC040081 vom 12. April 2005; Maier, Aktuelles zu Eheschutzmassnahmen, Scheidungsgründen und Kinderbelangen anhand der Praxis der erst- und zweitinstanzlichen Gerichte des Kantons Zürich, in: AJP 2008 S. 72 ff, S. 81).

3.4.2.
Art. 114 ZGB setzt für die Einreichung der Scheidungsklage voraus, dass die Ehegatten mindestens zwei Jahre getrennt gelebt haben. Der Wortlaut der Bestimmung gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage, wie die Trennungsfrist zu berechnen ist. Klar ist, dass die zweijährige Trennungsfrist im Zeitpunkt der Rechtshängigkeit abgelaufen sein muss, wenn der Scheidungsprozess durch Klage eingeleitet wird. Die Frist von Art. 114 ZGB begründet die unwiderlegbare Vermutung, dass die Ehe gescheitert und ein Scheidungsanspruch zu bejahen ist (Hausheer/Geiser/Aebi-Müller, Das Familienrecht des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, 7. Aufl. 2022, § 10 Rz. 474). Systematisch finden gemäss Art. 7 ZGB die allgemeinen Bestimmungen des Obligationenrechtes über die Entstehung, Erfüllung und Aufhebung der Verträge auch Anwendung auf zivilrechtliche Verhältnisse. Das Obligationenrecht existiert nicht eigenständig neben dem Zivilgesetzbuch, sondern die beiden Erlasse bilden eine sachliche und materielle Einheit. Das Obligationenrecht stellt lediglich einen integrierenden Bestandteil der Privatrechtskodifikation, nämlich den fünften Teil des Zivilgesetzbuches, dar (Schmid-Tschirren, Berner Komm., Bern 2012, Art. 7 ZGB N 28). Das Bundesgericht hat sowohl für die Fristenberechnung bei der Vaterschaftsklage (aArt. 308 ZGB, heute Art. 263 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB) als auch für die Fristenberechnung beim Bauhandwerkerpfandrecht nach aArt. 839 ZGB auf das Obligationenrecht abgestellt (BGE 42 II 331 E. 1, 53 II 216 E. 2). Insofern spricht die Gesetzessystematik für eine Anwendung von Art. 77 Abs. 1 Ziff. 3 OR für die Berechnung der Trennungsfrist. Das dieser Bestimmung zugrundeliegende Konstrukt der Zivilkomputation hat seinen Ursprung im römischen Recht und findet sich beispielsweise auch im deutschen Recht wieder (Grothe, Münchener Kommentar zum BGB, 9. Aufl. 2021, § 187 BGB N 1). Die Fristberechnung erfolgt nach Kalendertagen, d.h. nach Zeiträumen von Mitternacht und Mitternacht. Jede Frist beginnt mit dem Anfang und endet mit dem Ablauf eines Kalendertages. Wird die Frist durch ein Ereignis ausgelöst, so wird der erste Tag nicht mitgerechnet und erst ab dem darauffolgenden Tag gezählt (Weber, Berner Komm., 2. Aufl. 2005, Art. 77 OR N 8 und 25). Die Berechnungsweise nach Art. 77 Abs. 1 Ziff. 3 OR stellt damit sicher, dass dem Leistenden zur Erfüllung einer Verbindlichkeit respektive zur Vornahme einer Rechtshandlung ein ganzer Monat bzw. ein ganzer Zeitraum von mehreren Monaten zur Verfügung steht. Da ihm nur ein Bruchteil des Tages des fristauslösenden Zeitpunkts verbleibt, wird dieser Tag zu seinem Schutz nicht mitgezählt (BGE 144 III 152 E. 4.4.2). Beginnt die Frist bereits am Tag des fristauslösenden Ereignisses, steht insbesondere zur Vornahme einer Rechtshandlung allenfalls kein ganzer Monat bzw. kein ganzer Zeitraum von mehreren Monaten zur Verfügung. Mit anderen Worten: Leben die Ehegatten seit dem 1. Januar 2021, 12.00 Uhr, getrennt und läuft die zweijährige Trennungsfrist bereits am 31. Dezember 2022, 24.00 Uhr, ab, so haben die Ehegatten einen halben Tag weniger als zwei Jahre getrennt gelebt, wenn die Scheidungsklage am 1. Januar 2023, 00.01 Uhr, eingereicht wird. Läuft die Frist hingegen erst am 1. Januar 2023, um 24.00 Uhr, ab, haben die Ehegatten einen halben Tag mehr als zwei Jahre getrennt gelebt, wenn die Scheidungsklage am 2. Januar 2023, 00.01 Uhr, eingereicht wird. Aufgrund der Gesetzessystematik und zum Schutz des scheidungsunwilligen Ehegatten ist der letztgenannten Auffassung der Vorzug zu geben. Schliesslich bezweckt die Trennungsfrist als weitgehende Formalisierung des Zerrüttungsbeweises gerade den Schutz der scheidungsunwilligen Partei (Botschaft über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches [Personenstand, Eheschliessung, Scheidung, Kindesrecht, Verwandtenunterstützungspflicht, Heimstätten, Vormundschaft und Ehevermittlung] vom 15.11.1995, BBl 1996 I 1, 90; Althaus/Huber, a.a.O., Art. 114 ZGB N 7; im Ergebnis gleich: Obergericht des Kantons Aargau, in: CAN 2022 Nr. 23 S. 97, vgl. BGer-Urteil 5A_158/2021 vom 19.5.2021 E. 3.3.1).

3.4.3.
Das Bezirksgericht Lugano hat mit Eheschutzentscheid vom 24. November 2020 festgestellt, dass die Parteien seit dem 4. April 2020 getrennt leben. Der Trennungszeitpunkt ist unbestritten. Soweit sich der Kläger auf die übersetzte Eingabe der Beklagten vom 29. Dezember 2021 beruft und geltend macht, die Parteien seien bereits seit Mitte 2019 getrennt, ist darauf hinzuweisen, dass er sich im damaligen Scheidungsverfahren vor dem Bezirksgericht Lugano auf die Nichteinhaltung der zweijährigen Trennungsfrist berufen hat. Andernfalls hätte das Scheidungsverfahren vor dem Bezirksgericht Lugano damals nicht zurückgezogen werden müssen und es wäre nunmehr nicht über die Frage der Einhaltung der Trennungsfrist zu entscheiden. Angesichts dessen gelingt es dem Kläger nicht, das Gericht von einem früheren Trennungsdatum zu überzeugen, zumal er auch keine anderen Beweise als die Eingabe der Beklagten vorlegt. Der Zeitpunkt des Getrenntlebens wird daher mit der Vorinstanz auf den 4. April 2020 festgelegt. Die Trennungsfrist begann am 5. April 2020, um 00.00 Uhr, und endete am 4. April 2022, um 24.00 Uhr. Die am 4. April 2022, um 00.02 Uhr, beim Bezirksgericht Luzern eingereichte Scheidungsklage erfolgte vor Ablauf der zweijährigen Trennungsfrist. Die Klage ist demnach grundsätzlich abzuweisen (Hausheer/Geiser/Aebi-Müller, a.a.O., § 10 Rz. 475). Bei diesem Ergebnis ist nicht erkennbar, inwiefern die Vorinstanz durch ihre Begründung das rechtliche Gehör des Klägers verletzt haben soll. Die Vorinstanz hat die wesentlichen Überlegungen für ihr Urteil genannt (BGE 133 I 270 E. 3.1, 129 I 232 E. 3.2, 126 I 97 E. 2b mit Hinweisen).

Gemäss Art. 292 Abs. 1 ZPO ist das Scheidungsverfahren nach den Vorschriften über die Scheidung auf gemeinsames Begehren fortzusetzen, wenn die Ehegatten bei Eintritt der Rechtshängigkeit der Scheidungsklage noch nicht seit mindestens zwei Jahren getrennt gelebt haben (lit. a) und beide mit der Scheidung einverstanden sind (lit. b). Dies ist nachfolgend zu prüfen.

4. Wechsel zur Scheidung auf gemeinsames Begehren
4.1.
Wird die zweijährige Trennungsfrist nicht eingehalten, so wird das Verfahren gemäss Art. 114 ZGB nach den Vorschriften über die Scheidung auf gemeinsames Begehren fortgesetzt, wenn über den Scheidungspunkt Einigkeit besteht. Sinn und Zweck von Art. 292 Abs. 1 ZPO ist, dass nicht mehr über die Voraussetzungen von Art. 114 oder von Art. 115 ZGB gestritten werden soll, sobald über den Scheidungspunkt materielle Einigkeit besteht. Das Bundesgericht hat entschieden, dass der Scheidungswille auch dann dokumentiert ist, wenn der beklagte Ehegatte an einem anderen Gerichtsstand selbst auf Scheidung geklagt hat, unabhängig davon, ob er die Zustimmung formell verweigert (BGE 139 III 482 E. 3; BGE 137 III 421 = Pra 2012 Nr. 18 E. 5.3). Folglich wird das Scheidungsverfahren grundsätzlich an dem mit der ersten Scheidungsklage begründeten Gerichtsstand durchgeführt (Bähler, Basler Komm., 3. Aufl. 2017, Art. 292 ZPO N 3). Vorbehalten bleiben Umstände, die das verfrühte Einreichen einer Scheidungsklage rechtsmissbräuchlich erscheinen lassen. Dazu gehören namentlich divergierende Interessen mit Bezug auf die spezifischen Gerichtsstände (Vertrautheit mit den Verhältnissen; rechtliche Auswirkungen auf die Nebenfolgen der Scheidung; Belegenheit von güterrechtsrelevanten Vermögensgegenständen; Teilung sozialversicherungsrechtlicher Ansprüche; weite Anreise zum Gericht; sprachliche Verständigungsschwierigkeiten mit dem Gericht und/oder dem lokalen Anwalt; etc.). Solche Interessenskonflikte sind zwar insbesondere im internationalen Verhältnis massgeblich, können aber auch im Binnenverhältnis auftreten (BGE 139 III 482 E. 3; Bohnet, in: SZZP/RSPC 2/2014, S. 148 ff.).

4.2. und 4.3
(Ausführungen der Vorinstanz und der Parteien)

4.4.
Unbestritten hat die Beklagte bereits am 29. Dezember 2021 beim Bezirksgericht Lugano eine Scheidungsklage eingereicht. Damit ist der Scheidungswille dokumentiert, auch wenn die Beklagte formell die Zustimmung zur Scheidung verweigert. Sie kann sich angesichts ihrer früheren Scheidungsklage nicht darauf berufen, sie habe bis zum 4. April 2022 keinen Scheidungswillen gehabt, wenngleich sie die damalige Klage zurückgezogen hat. Die Scheidungsklage wäre daher grundsätzlich im Verfahren nach Art. 111 ZGB weiterzuführen. Die Beklagte hat jedoch am 5. April 2022 beim Bezirksgericht Lugano erneut eine Scheidungsklage eingereicht. Wesentlich ist, dass diese Scheidungsklage der Beklagten im Gegensatz zur Scheidungsklage des Klägers erst nach Ablauf der zweijährigen Dauer des Getrenntlebens eingereicht worden ist. Nachdem das Eheschutzverfahren im Jahr 2020 zwischen den Parteien in Lugano durchgeführt worden war, leitete der Kläger im Dezember 2021 das Abänderungsverfahren in Luzern ein. Da die Beklagte die Scheidungsklage in Lugano am 29. Dezember 2021 eingereicht und Anfang Jahr wieder zurückgezogen hatte, durfte und musste der Kläger davon ausgehen, dass die Beklagte nach Ablauf der Trennungsfrist unverzüglich die Scheidungsklage in Lugano einreichen würde, um ein weiteres Verfahren in Luzern zu vermeiden. Bekanntlich reichte der Kläger seine Scheidungsklage am 4. April 2022, um 00.02 Uhr, in Luzern ein.

Würde die verfrüht eingereichte Scheidungsklage zu einer Scheidung auf gemeinsames Begehren umgewandelt, wäre der Gerichtsstand fixiert, obwohl gleichzeitig ein rechtzeitig eingeleitetes Scheidungsverfahren nach Art. 114 ZGB an einem anderen Gerichtsstand besteht. Dies kann jedenfalls dann nicht Sinn und Zweck von Art. 292 Abs. 1 ZPO sein, wenn die Parteien an den von ihnen gewählten Gerichtsständen erhebliche divergierende Interessen haben und eine Partei die Scheidungsklage bewusst verfrüht einreicht, um den Gerichtsstand zu fixieren. Wie die Vorinstanz zutreffend festgestellt hat und vom Kläger nicht bestritten wird, ist die Muttersprache der Beklagten Italienisch. Sie ist in A. (Kanton Tessin) geboren und ihr Heimatort ist B. (Kanton Tessin). Sie lebt bis heute in der ihr zur Nutzung zugewiesenen und sich im Miteigentum der Ehegatten befindlichen ehelichen Wohnung in C. (Kanton Tessin). Für das Abänderungsverfahren des Eheschutzentscheids sowie für das vorliegende Scheidungsverfahren musste sie sich eine deutschsprachige Vertretung organisieren, nachdem sie im Eheschutzverfahren in Lugano sowie im Ende 2021 eingeleiteten Scheidungsverfahren von einem italienischsprachigen Anwalt vertreten worden war. Sodann beträgt die Reisezeit von Lugano nach Luzern und umgekehrt notorisch mindestens 2 Stunden. Es ist erwiesen, dass die Beklagte aufgrund ihrer Vertrautheit mit den örtlichen Verhältnissen, der Belegenheit der sich im Miteigentum der Parteien befindlichen ehelichen Wohnung, der Anreise von C. nach Luzern und ihrer italienischen Muttersprache ein erhebliches Interesse am Gerichtsstandort Lugano hat. Dem Kläger ist zwar zuzustimmen, dass er ähnlich gelagerte Interessen am Gerichtsstandort Luzern aufweist, doch hat er seine Scheidungsklage nach Art. 114 ZGB verfrüht eingereicht. Insofern liegen nicht gleiche Sachverhalte vor. Er macht selbst geltend, er habe in guten Treuen davon ausgehen dürfen, dass seine Scheidungsklage vom 4. April 2022 beim Gericht in Luzern habe eingereicht werden können, da die Beklagte mit der im Jahr 2021 verfrüht eingereichten Scheidungsklage am Bezirksgericht Lugano klar ihren Scheidungswillen zum Ausdruck gebracht habe. Es ist daher davon auszugehen, dass der Kläger die Scheidungsklage bewusst am 4. April 2022 einreichte, um sich einerseits auf den Ablauf der zweijährigen Trennungsfrist zu berufen und eventualiter den Gerichtsstand Luzern durch Anwendung von Art. 292 Abs. 1 ZPO zu fixieren. Die verfrühte Einreichung der Scheidungsklage in Luzern erscheint vor diesem Hintergrund und angesichts der divergierenden Interessen am Gerichtsstand als missbräuchlich (Art. 2 Abs. 2 ZGB). Das Scheidungsverfahren in Luzern kann nach dem Gesagten nicht nach den Bestimmungen über die Scheidung auf gemeinsames Begehren weitergeführt werden.