Instanz: | Kantonsgericht |
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Abteilung: | 2. Abteilung |
Rechtsgebiet: | Strafvollzug |
Entscheiddatum: | 24.10.2023 |
Fallnummer: | 4H 23 20 |
LGVE: | 2023 II Nr. 9 |
Gesetzesartikel: | Art. 79a StGB; Ziff. 1.3 lit. A der Richtlinie der Konkordatskonferenz des Strafvollzugskonkordats Nordwest- und Innerschweiz betreffend die besonderen Vollzugsformen. |
Leitsatz: | Der Strafvollzug in Form der gemeinnützigen Arbeit nach Art. 79a StGB steht auch Personen ohne Aufenthaltsrecht in der Schweiz offen, sofern diese sich in absehbarer Zukunft voraussichtlich weiterhin in der Schweiz aufhalten werden. |
Rechtskraft: | Dieser Entscheid ist noch nicht rechtskräftig. |
Entscheid: | Aus den Erwägungen: 3.3 Umstritten ist nach dem Gesagten, ob beim Beschwerdeführer eine Rückfallgefahr vorliegt, welche die gemeinnützige Arbeit ausschliesst, und ob das fehlende Aufenthaltsrecht des Beschwerdeführers in der Schweiz die gemeinnützige Arbeit hindert. Die übrigen zeitlichen und persönlichen Voraussetzungen für den Strafvollzug in Form von gemeinnütziger Arbeit sind mit Blick auf Gesetz und Akten zu Recht nicht strittig und erfüllt. 3.3.1. 3.3.1.1. Gemäss Art. 79a Abs. 1 des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB; SR 311.0) ist der Strafvollzug in Form der gemeinnützigen Arbeit nur dann zulässig, wenn nicht zu erwarten ist, dass der Verurteilte weitere Straftaten begeht. Diese Voraussetzung gilt auch für die übrigen besonderen Vollzugsformen wie das Arbeits- und Wohnexternat, die Halbgefangenschaft und die elektronische Überwachung (Art. 77a Abs. 1, Art. 77b Abs. 1 lit. a und Art. 79b Abs. 2 lit. a StGB). Die Gefahr weiterer Delinquenz muss gemäss Rechtsprechung und Lehre wesentliche Rechtsgüter betreffen (BGer-Urteil 2C_361/2014 vom 22.10.2015 E. 4.3; Heimgartner, in: StGB/JStG Kommentar [Donatsch et al..], 21. Aufl. 2021, Art. 79b N 6; Husmann, in: StGB Annotierter Kommentar [Hrsg. Graf], Bern 2020, Art. 79b StGB N 11; Koller, Basler Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 77b StGB N 9). Dem ist zuzustimmen, ansonsten die gemeinnützige Arbeit weitgehend obsolet würde. Die gemeinnützige Arbeit kommt insbesondere bei unbedingt ausgesprochenen Freiheitsstrafe von bis zu sechs Monaten oder unbedingten Geldstrafen in Frage. Damit solche Strafen unbedingt ausgesprochen werden können, bedarf es gemäss Art. 42 Abs. 1 StGB einer negativen Legalprognose. Würde daher jede Art von zu erwartenden neuen und bloss geringfügigen Straftaten den Vollzug in Form von gemeinnütziger Arbeit ausschliessen, fiele die gemeinnützige Arbeit in der Mehrheit aller Fälle von vornherein ausser Betracht. 3.3.1.2. Der Beschwerdeführer weist unter Mitberücksichtigung des Strafbefehls vom 19. April 2022 vier Vorstrafen auf. Sie alle betreffen Widerhandlungen gegen das Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (AIG; SR 142.20). Neben einer Übertretung gegen Art. 120 Abs. 1 AIG wurde der Beschwerdeführer der rechtswidrigen Ein- und Ausreise nach Art. 115 Abs. 1 lit. a und Art. 115 Abs. 2 AIG sowie je zweimal des rechtswidrigen Aufenthalts in der Schweiz nach Art. 115 Abs. 1 lit. b AIG und der Missachtung der Eingrenzung nach Art. 119 Abs. 1 AIG verurteilt (…). Mit diesen Delikten hat der Beschwerdeführer keine wesentlichen Rechtsgüter verletzt. Es gibt auch keine Indizien, dass vom Beschwerdeführer in Zukunft eine Verletzung wesentlicher Rechtsgüter zu erwarten wäre. Entsprechend liegt beim Beschwerdeführer keine Rückfallgefahr im (bundes-)gesetzlichen Sinn vor, die den Ausschluss der gemeinnützigen Arbeit rechtfertigen würde. Zu prüfen bleibt, wie es sich mit dem fehlenden Aufenthaltsrecht des Beschwerdeführers verhält. 3.3.2. 3.3.2.1. Die Rechtsprechung des Bundesgerichts schloss unter altem Recht, als die gemeinnützige Arbeit als eigenständige Hauptstrafe vorgesehen war, Personen ohne Aufenthaltsrecht in der Schweiz von der gemeinnützigen Arbeit aus. Es argumentierte, Sinn der Arbeitsstrafe sei die Wiedergutmachung zugunsten der lokalen Gemeinschaft sowie die Erhaltung des sozialen Netzes des Verurteilten. Dort, wo ein Verbleib des Ausländers von vornherein ausgeschlossen sei, lasse sich dies nicht erreichen. Bestehe demnach bereits im Urteilszeitpunkt kein Anwesenheitsrecht oder stehe fest, dass über seinen ausländerrechtlichen Status endgültig entschieden worden sei und er die Schweiz verlassen müsse, habe die gemeinnützige Arbeit nach der Rechtsprechung als unzweckmässige Sanktion auszuscheiden (BGE 134 IV 97 E. 6.3.3.4; BGer-Urteil 6B_118/2017 vom 14.7.2017 E. 4.2.2 mit weiteren Verweisen). Unter dem neuen Recht, in dem die gemeinnützige Arbeit als Vollzugsform für Freiheitsstrafen von bis zu sechs Monaten, Geldstrafen und Bussen vorgesehen ist, hatte das Bundesgericht die Frage soweit ersichtlich noch nicht zu beantworten (vgl. allerdings BGer-Urteil 1P.526/2006 vom 16.10.2006 E. 3.3, wo die gemeinnützige Arbeit kantonalrechtlich als Vollzugsform vorgesehen war). Die Lehre und die kantonale Rechtsprechung gehen davon aus, dass die bisherige bundesgerichtliche Rechtsprechung weiterhin gilt (Brägger, Basler Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 79a StGB N 22 und 27; Heimgartner, a.a.O., Art. 79a StGB N 2; Wohlers, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch Handkommentar [Hrsg. Wohlers/Godenzi/Schlegel], 4. Aufl. 2020, Art. 79a StGB N 2; Urteil Appellationsgericht Basel-Stadt BES.2020.200 vom 18.1.2021 E. 2.2.3). Teile der Lehre haben die Rechtsprechung des Bundesgerichts kritisiert. Wiprächtiger bringt vor, es leuchte nicht recht ein, weshalb Ausländer gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung vor ihrer Ausweisung nicht noch einen Tatwiedergutmachungsbeitrag zugunsten der lokalen Gemeinschaft sollen leisten können (Wiprächtiger, Welche qualitativen Verbesserungen hat die Revision bei den Sanktionen und beim Vollzug gebracht? - Der neue Allgemeine Teil des Strafgesetzbuches in der Praxis - eine Zwischenbilanz, in AJP 2009 S. 1506; derselbe, Die Sanktionen des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches - taugliche Instrumente? Geldstrafe, gemeinnützige Arbeit, Freiheitsstrafe, bedingte und teilbedingte Strafen, Strafzumessung - Die Sicht des Bundesgerichts, in: ZStrR 2008 S. 385). Grasdorf-Meyer/Ott/Vetterli argumentieren, eine Wiedergutmachung zugunsten der Gesellschaft sei auch dann sinnvoll, wenn keine Aussicht auf Verbleib bestehe, zumal der Aufenthalt in Haftanstalten den Steuerzahler teuer zu stehen komme. Bei Personen, deren Aus- und Wegweisung sich aufgrund schwieriger Verhältnisse im Heimatland oder der Unmöglichkeit der Papierbeschaffung verzögere, sei es sinnvoll, eine gemeinnützige Arbeit zu bewilligen. Sie seien nicht fluchtgefährdet und hätten in der Regel ausser Verurteilungen infolge des rechtswidrigen Aufenthalts auch keine Vorstrafen, weshalb die Voraussetzungen von Art. 79a StGB als erfüllt betrachtet werden könnten (Grasdorf-Meyer/Ott/Vetterli, Geflüchtete Menschen im Schweizer Recht, Bern 2021, N 1404). Das Bundesgericht ist von seiner Rechtsprechung, wonach Personen ohne Aufenthaltsbewilligung von der gemeinnützigen Arbeit generell ausgeschlossen sind, in einem Urteil aus dem Jahr 2017 abgewichen. Das Urteil betraf einen Fall, in dem gewichtige Anhaltspunkte dafür bestanden, dass die betroffene Person die Schweiz aus objektiven Gründen nicht verlassen konnte. Das Bundesgericht erwog, die Unmöglichkeit des Vollzugs von gemeinnütziger Arbeit im Sinne von Art. 41 Abs. 1 StGB dürfe nicht leichthin bejaht werden, wenn sich die ausländische Person seit längerer Zeit in der Schweiz aufhalte, keine Fluchtgefahr vorliege sowie begründete Aussicht bestehe, dass sie bspw. mangels Ausreisemöglichkeit auch künftig noch hier verweilen werde. Das Bundesgericht hob in der Folge das vorinstanzliche Urteil, welches dem Beschwerdeführer die gemeinnützige Arbeit verwehrte, auf und wies die Vorinstanz an, zu prüfen, ob die Ausreise des Beschwerdeführers möglich sei (BGer-Urteil 6B_118/2017 vom 14.7.2017 E. 4.3.2). 3.3.2.2. Vorab ist festzuhalten, dass der Wortlaut von Art. 79a StGB Personen ohne Aufenthaltsbewilligung nicht von gemeinnütziger Arbeit ausschliesst und sich aus den Gesetzesmaterialien zu Art. 79a StGB kein genereller Ausschluss herleiten lässt (Botschaft zur Änderung des Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes [Änderungen des Sanktionenrechts], in: BBl 2012 S. 4738 und 4747 f.). Die mit der gemeinnützigen Arbeit verfolgten gesetzgeberischen Ziele, einer verurteilten Person die Aufrechterhaltung ihres sozialen Netzes zu ermöglichen und die Wiedergutmachung zugunsten der Gemeinschaft, vermögen ebenfalls keinen generellen Ausschluss von Personen ohne Aufenthaltsbewilligung zu rechtfertigen. Hält sich eine ausländische Person seit längerem in der Schweiz auf und ist trotz rechtskräftiger Wegweisung zu erwarten, dass diese Person sich auch in absehbarer Zukunft in der Schweiz aufhalten wird, trägt die mit der gemeinnützigen Arbeit verbundene Vermeidung von kurzen Freiheitsstrafen dazu bei, ihr soziales Netz aufrechtzuerhalten. Zudem leistet jede Person ungeachtet ihrer Nationalität und ihres Aufenthaltsstatus mit der gemeinnützigen Arbeit eine Wiedergutmachung zugunsten der Gemeinschaft. Entsprechend ist es nicht angezeigt, Personen ohne Aufenthaltsberechtigung in der Schweiz generell von der gemeinnützigen Arbeit auszuschliessen. Auch diesen Personen ist zumindest dann gemeinnützige Arbeit zu gewähren, wenn zu erwarten ist, dass sie sich in absehbarer Zukunft weiterhin in der Schweiz aufhalten und sie die übrigen Voraussetzungen für gemeinnützige Arbeit erfüllen. Ob der zukünftige Aufenthalt in der Schweiz seinen Grund darin hat, dass der ausländischen Person die Ausreise objektiv unmöglich ist, oder ob die Wegweisung zufolge Mitwirkungsverweigerung der ausländischen Person nicht vollzogen werden kann, ist dabei unerheblich. Entscheidend ist, dass der mit der gemeinnützigen Arbeit verfolgte Zweck in beiden Fällen erreicht werden kann und es somit keinen Grund gibt, die gemeinnützige Arbeit zu verweigern. Der Ausschluss von Personen ohne Aufenthaltsbewilligung von der gemeinnützigen Arbeit würde in diesen Fällen mangels sachlichen Grunds für eine Differenzierung gegenüber Personen mit Aufenthaltsbewilligung gegen das Rechtsgleichheitsgebot von Art. 8 Abs. 1 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (BV; SR 101) verstossen. Dass die Richtlinie der Konkordatskonferenz des Strafvollzugskonkordats Nordwest- und Innerschweiz betreffend die besonderen Vollzugsformen (SSED [systematische Sammlung der Erlasse und Dokumente] 12.0; nachfolgend Richtlinie betreffend die besonderen Vollzugsformen) die gemeinnützige Arbeit bei Personen, die über kein Aufenthaltsrecht in der Schweiz verfügen, generell ausschliesst, ist unerheblich. Das Bundesgericht hat in BGE 145 IV 10 (= Pra 2019 Nr. 89) entschieden, dass das Bundesrecht die Voraussetzungen für die Bewilligung der besonderen Vollzugsform der Halbgefangenschaft abschliessend regelt und die Kantone daher ein Aufenthaltsrecht in der Schweiz nicht als zusätzliche Voraussetzung statuieren dürfen. Im Urteil wird unter Verweis auf die Materialien (AB 2014 S. 642 Votum Engler) auch ausgeführt, der Bundesgesetzgeber habe die anderen alternativen Vollzugsform wie Electronic Monitoring und gemeinnützige Arbeit einheitlich regeln wollen (E. 2.3). Daraus ist zu schliessen, dass der Grundsatz, wonach die Kantone keine weitergehenden Voraussetzungen als das Bundesrecht statuieren dürfen, auch für die gemeinnützige Arbeit gilt. Folglich verstossen kantonale oder interkantonale Normen, die weitergehende Voraussetzungen statuieren, gegen den in Art. 49 Abs. 1 BV verankerten Vorrang des Bundesrechts (vgl. zum Verhältnis zwischen Bundesrecht und interkantonalem Konkordatsrecht auch BGE 143 V 451). Zusammengefasst ist somit festzuhalten, dass der Strafvollzug in Form der gemeinnützigen Arbeit nach Art. 79a StGB auch Personen ohne Aufenthaltsrecht in der Schweiz offensteht, sofern diese sich in absehbarer Zukunft voraussichtlich weiterhin in der Schweiz aufhalten werden. Soweit die Richtlinie betreffend die besonderen Vollzugsformen dies anders umschreibt, ist sie bundesrechtswidrig und unbeachtlich. 3.3.2.3. Der aus dem Irak stammende Beschwerdeführer reiste im Mai 2018 in die Schweiz ein. Das Staatssekretariat für Migration lehnte sein Asylgesuch mit Entscheid vom 27. Juli 2018 ab und verpflichtete den Beschwerdeführer, bis 21. September 2018 die Schweiz zu verlassen (…). Der Beschwerdeführer weigert sich seither, freiwillig in den Irak zurückzukehren und verweigerte seine Mitwirkung bei der Beschaffung von Reisepapieren (…). Gemäss den Angaben des Amts für Migration kann die Wegweisung deswegen nicht vollzogen werden. Es sei ohne Mitwirkung des Beschwerdeführers von Seiten der Schweizerischen Behörden nicht möglich, Reisepapiere, respektive ein Laissez-Passer, für den Wegweisungsvollzug zu erhalten (…). Bei dieser Ausgangslage ist davon auszugehen, dass sich der Beschwerdeführer auch in absehbarer Zukunft noch in der Schweiz aufhalten wird. Der Umstand, dass er in der Schweiz über kein Aufenthaltsrecht verfügt, vermag daher die Verweigerung der gemeinnützigen Arbeit nicht zu rechtfertigen. 3.3.3. Zusammengefasst zeigen die vorstehenden Erwägungen, dass der Beschwerdeführer sämtliche zeitlichen und persönlichen Voraussetzungen für den Strafvollzug in Form der gemeinnützigen Arbeit erfüllt. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen. Die Restanz von 80 Tagessätzen Geldstrafe aus dem Strafbefehl der Staatsanwaltschaft X._______ vom 19. April 2022 wird in Form der gemeinnützigen Arbeit vollzogen. Es sind gemäss gesetzlichem Umwandlungssatz von vier Stunden pro Tagessatz Geldstrafe 320 Stunden gemeinnützige Arbeit zu leisten (vgl. Art. 79a Abs. 4 StGB). Der Vollzugs- und Bewährungsdienst wird angewiesen, die notwendigen Vorkehrungen zum Vollzug der gemeinnützigen Arbeit zu treffen. |