Drucken

Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:3. Abteilung
Rechtsgebiet:Invalidenversicherung
Entscheiddatum:30.10.2023
Fallnummer:5V 22 26
LGVE:2024 III Nr. 4
Gesetzesartikel:Art. 3 Abs. 1 ATSG, Art. 8 Abs. 1 ATSG; Art. 4 Abs. 1 IVG
Leitsatz:Die Myalgische Enzphalomyelitis resp. das Chronic Fatigue Syndrom (ME/CFS; ICD-10 G93.3, ICD-11 8E49) stellt eine Krankheit im Sinn der Invalidenversicherung dar (E. 8.1). Beweisrechtlich ist eine Prüfung der Standardindikatoren vorzunehmen, wie bei einer psychischen Erkrankung, da derzeit noch keine objektivierbaren Marker für diese Erkrankung erhoben werden können (E. 9.2).
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:
Sachverhalt

A.
Der 1986 geborene A.________ ist ausgebildeter Kaufmann. Ab 1. Juni 2007 arbeitete er vollzeitlich bei der B.________, als ICT System Spezialist. Von 2012 bis 2016 absolvierte er zudem berufsbegleitend ein IT-Studium an der C.________ und schloss dieses erfolgreich ab. Ende 2018 machte er eine grippeähnliche Erkrankung durch und klagte danach zunehmend über starke Erschöpfung, die ihn bei der Arbeit beeinträchtigte. Ein erster Versuch die Arbeit wieder aufzunehmen, scheiterte. Auf Aufforderung der Krankentaggeldversicherung P.________ meldete er sich am 21. Mai 2019 bei der IV Luzern (IV-Stelle) zur Früherfassung an. Nachdem der Versicherte die Arbeit wieder zu 50 % aufgenommen hatte und von einer Steigerung der Arbeitsfähigkeit ausging, schloss die IV-Stelle die Früherfassung am 11. Juni 2019 ab und erachtete eine Anmeldung bei der Invalidenversicherung nicht als angezeigt. Nach einem Rückfall im August 2019 und anschliessenden weiteren gescheiterten Arbeitsversuchen meldete sich A.________ am 25. Februar 2020 (Postaufgabe) bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an.

Die IV-Stelle nahm medizinische und erwerbliche Abklärungen vor. Sie zog insbesondere die Unterlagen der Krankentaggeldversicherung bei. Mit Vorbescheid vom 26. Februar 2021 stellte sie die Ablehnung von Rentenleistungen in Aussicht. Daraufhin verwies der Versicherte in seiner Einsprache auf ein bevorstehendes versicherungsmedizinisches Gutachten der Krankentaggeldversicherung. Nach Eingang des bidisziplinären psychiatrisch-infektiologischen Gutachtens des Universitätsspital N.________ verfügte die IV-Stelle am 15. Dezember 2021 die Ablehnung des Rentengesuchs wie angekündigt.

B.
Dagegen erhob A.________ Beschwerde und verlangte die Aufhebung der angefochtenen Verfügung sowie die Zusprache einer ganzen Rente der Invalidenversicherung ab dem 1. August 2020. In prozessualer Hinsicht beantragte er, es seien eventuell Rückfragen an die Gutachterin zu tätigen und ein Gerichtsgutachten zu seiner gesundheitlichen Beeinträchtigung und der Arbeitsfähigkeit einzuholen.

Im Rahmen der Vernehmlassung beantragte die IV-Stelle die Rückweisung der Sache zur weiteren Abklärung, insbesondere zur Durchführung einer polydisziplinären Begutachtung (inkl. neuropsychologischer Testung). Mit Replik lehnte der Versicherte eine Rückweisung an die IV-Stelle ab. In ihrer Duplik hielt die IV-Stelle an ihrem Begehren fest. In einer weiteren Eingabe hielt der Versicherte seinerseits an seinen Anträgen fest. Gleichzeitig reichte sein Rechtsvertreter eine Kostennote ein.
Aus den Erwägungen:


1.
Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19.6.2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535).

Für Rentenbezügerinnen und -bezüger, deren Rentenanspruch vor Inkrafttreten dieser Änderung entstanden ist, bleibt das bis 31. Dezember 2021 in Kraft gestandene Recht anwendbar.

Die angefochtene Verfügung datiert vom 15. Dezember 2021 und streitig ist ein Rentenanspruch ab 1. August 2020, weshalb im Folgenden auf das das alte Recht verwiesen wird.

2.
Invalidität ist die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit (Art. 8 Abs. 1 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG; SR 830.1]). Sie kann Folge von Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall sein (Art. 4 Abs. 1 IVG). Erwerbsunfähigkeit ist der durch Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit verursachte und nach zumutbarer Behandlung und Eingliederung verbleibende ganze oder teilweise Verlust der Erwerbsmöglichkeiten auf dem in Betracht kommenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt (Art. 7 Abs. 1 ATSG). Für die Beurteilung des Vorliegens einer Erwerbsunfähigkeit sind ausschliesslich die Folgen der gesundheitlichen Beeinträchtigung zu berücksichtigen. Eine Erwerbsunfähigkeit liegt zudem nur vor, wenn sie aus objektiver Sicht nicht überwindbar ist (Art. 7 Abs. 2 ATSG).

3.
3.1.
Anspruch auf eine Rente haben gemäss Art. 28 Abs. 1 IVG Versicherte, die:
a. ihre Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, nicht durch zumutbare Eingliederungsmassnahmen wieder herstellen, erhalten oder verbessern können;
b. während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens 40 % arbeitsunfähig (Art. 6 ATSG) gewesen sind; und
c. nach Ablauf dieses Jahres zu mindestens 40 % invalid (Art. 8 ATSG) sind.

Die seit dem 1. Januar 2004 massgeblichen Rentenabstufungen geben bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 40 % Anspruch auf eine Viertelsrente, bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 50 % Anspruch auf eine halbe Rente, bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 60 % Anspruch auf eine Dreiviertelsrente und bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 70 % Anspruch auf eine ganze Rente (Art. 28 Abs. 2 IVG).

3.2.
Um den Invaliditätsgrad bemessen zu können, ist die Verwaltung (und im Beschwerdefall das Gericht) auf Unterlagen angewiesen, die ärztliche und gegebenenfalls auch andere Fachleute zur Verfügung zu stellen haben. Aufgabe des Arztes oder der Ärztin ist es, den Gesundheitszustand zu beurteilen und dazu Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten die versicherte Person arbeitsunfähig ist. Im Weiteren sind die ärztlichen Auskünfte eine wichtige Grundlage für die Beurteilung der Frage, welche Arbeitsleistungen der versicherten Person noch zugemutet werden können (BGE 125 V 256 E. 4 mit Hinweisen).

Hinsichtlich des Beweiswerts eines ärztlichen Gutachtens oder eines ärztlichen Berichts ist entscheidend, ob die betreffenden Angaben für die Beantwortung der gestellten Fragen umfassend sind, auf den erforderlichen allseitigen Untersuchungen beruhen und die geklagten Beschwerden berücksichtigen. Weiter ist ausschlaggebend, ob das Gutachten oder der Bericht in Kenntnis der Vorakten abgegeben worden und eine Auseinandersetzung mit diesen erfolgt ist, in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge und in der Beurteilung der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen begründet sind (BGE 134 V 231 E. 5.1 mit Hinweis).

3.3.
Sowohl das Verwaltungsverfahren wie auch der kantonale Sozialversicherungsprozess sind vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht (vgl. Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG). Demnach haben Verwaltung und Sozialversicherungsgericht den rechtserheblichen Sachverhalt von Amtes wegen festzustellen. Diese Untersuchungspflicht dauert so lange an, bis über die für die Beurteilung des streitigen Anspruchs erforderlichen Tatsachen hinreichend Klarheit besteht (BGer-Urteil 9C_296/2018 vom 14.2.2019 E. 4).

Das Gericht hat alle Beweismittel objektiv zu prüfen, unabhängig davon, von wem sie stammen, und danach zu entscheiden, ob sie eine zuverlässige Beurteilung des strittigen Leistungsanspruchs gestatten. Insbesondere darf es beim Vorliegen einander widersprechender medizinischer Berichte den Prozess nicht erledigen, ohne das gesamte Beweismaterial zu würdigen und die Gründe anzugeben, warum es auf die eine und nicht auf die andere medizinische These abstellt (BGE 122 V 157 E. 1c mit Hinweisen; BGer-Urteil 9C_813/2009 vom 11.12.2009 E. 2.1).

4.
Streitig ist, ob der Versicherte ab 1. August 2020 Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung hat.

Der Beschwerdeführer macht geltend, es liege ein beweiskräftiges Gutachten der Krankentaggeldversicherung vor, darauf sei abzustellen.

Die IV-Stelle hält dagegen, der Gesundheitszustand sei nicht vollständig abgeklärt und beantragt die Rückweisung der Sache zur Durchführung einer polydisziplinären Begutachtung mit einer neuropsychologischen Testung und anschliessender Neubeurteilung durch sie.

5.
5.1.
Seit einem viralen Infekt im Dezember 2018 leidet der Beschwerdeführer an starker Erschöpfung, Gliederschmerzen und einschiessender Parästhesien. Anlässlich des Erstgesprächs im Rahmen der Frühintervention schilderte er, seit August 2019 sei er zu 100 % arbeitsunfähig. Arbeitsversuche seien leider nicht erfolgreich gewesen. Er werde extrem schnell müde. Der grosse "Hammer" käme aber dann häufig erst am nächsten Tag. Nach ca. 15 Minuten Arbeit könne er sich nur noch sehr schlecht konzentrieren. Er könne sich dann kaum mehr etwas merken. Am nächsten Tag habe er dann eine komplette Erschöpfung. Er könne dann kaum mehr TV schauen oder Radio hören. Er döse dann etwas vor sich hin, versuche nicht einzuschlafen.

Dem Beschwerdeführer wurde seit dem 12. August 2019 eine durchgehende vollumfängliche Arbeitsunfähigkeit attestiert. Er versuchte zwar immer wieder zu arbeiten, musste sich jedoch von seinen behandelnden Ärzten stets umgehend wieder krankschreiben lassen.

Nach zahlreichen Abklärungen (Allgemeine Innere Medizin, Rheumatologie, Neurologie, Psychiatrie, Schlafmedizin inkl. Pneumologie) wurde beim Beschwerdeführer ein chronisch rezidivierender Erschöpfungszustand, differenzialdiagnostisch ein Chronic Fatigue Syndrom (CFS), differenzialdiagnostisch eine prolongierte Rekonvaleszenz nach viralem Infekt der oberen Atemwege diagnostiziert (ambulanter Bericht N.________, Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene).

Ab Dezember 2019 (Ersttermin 11.12.2019) befand sich der Beschwerdeführer in Behandlung bei med. pract. O.________, und Dr. med. Q.________, FMH Allgemeine Innere Medizin. Diese äusserten sich erstmals am 24. März 2020 im Rahmen eines ambulanten Zwischenberichts an die IV-Stelle und attestierten dem Beschwerdeführer eine Myalgische Enzephalomyelitis resp. ein Chronic Fatigue Syndrom (ME/CFS ICD-10 G93.3).

5.2.
Auf Veranlassung der P.________ fand am 3. Dezember 2019 eine psychiatrische Abklärung zur Plausibilisierung der Arbeitsunfähigkeit bei Prof. Dr. med. E.________, FMH Psychiatrie und Psychotherapie, statt.

Der Psychiater hielt fest, es bestünden keine psychischen Beschwerden. Insbesondere liege keine affektive Störung vor, welche die Beschwerden des Beschwerdeführers zu erklären vermöchten. Es liege offensichtlich ein Zustand nach Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV [Anmerkung Gericht: auch bekannt als Pfeiffersches Drüsenfieber]) vor. Nach dieser gesundheitlichen Störung könnten die Symptome eines CFS manifest werden. Die Dauer dieser Symptome könne verlängert sein.

Aus psychiatrischer Sicht konnte Dr. E.________ keine Arbeitsunfähigkeit attestieren, er hielt jedoch fest, dies schliesse nicht aus, dass die Arbeitsfähigkeit aus somatischen/virologischen Gründen beeinträchtigt sei. Unter den weiteren Bemerkungen empfahl er die Rücksprache mit der Infektiologie/Virologie des Universitätsspital N.________ und hielt darüber hinaus fest, es liege beim Beschwerdeführer jedenfalls keine Arbeitsunfähigkeit ohne medizinische Gründe vor, insbesondere keine Simulation oder ein mangelnder Wille zu arbeiten.

5.3.
Per Ende Januar 2020 stellte die P.________ die Krankentaggelder ein. Der beratende Arzt der Krankentaggeldversicherung, Dr. med. F.________, FMH Innere Medizin, führte in seiner Stellungnahme vom 16. März 2020 aus, es könne aufgrund der Akten keine überwiegend wahrscheinliche Diagnose mit entsprechendem Krankheitswert gestellt werden, welche die weiterhin attestierte Arbeitsunfähigkeit nachvollziehbar zu begründen vermöge.

5.4.
Daraufhin liess der Beschwerdeführer im Kantonsspital M.________ durch Dr. med. G.________, FMH Pneumologie und FMH Allgemeine Innere Medizin, ein Privatgutachten erstellen. Dieser stellte in seinem Bericht vom 29. September 2020 die Diagnose eines CFS und beschrieb die folgende Klinik:

- Ausgeprägte, anstrengungsinduzierte Fatigue-Symptomatik, Schlafstörung, Gelenk- und Muskelschmerzen, kognitive Manifestation, Schwindel, Hitzeintoleranz, immunologische Manifestationen
- Kanadische Kriterien für die Diagnosestellung erfüllt. Behinderungsgrad nach Bell 20-30 Punkte (entspricht einer mittelschweren bis schweren Symptomatik; die Skala reicht von 0 Punkten, was einer ständigen schweren Symptomatik mit Fesselung an das Bett entspricht, bis zu 100 Punkten, was nur sehr diskreten Symptomen entspricht)
- Ausschluss eines Diabetes insipidus 2020 (Kantonsspital S.________)
- Weitgehend unauffällige endokrinologische, rheumatologische, neurologische, infektiologische, kardiologische und nephrologische Untersuchungen in den letzten Jahren

Er hielt fest, er könne sich der Meinung der Klinik I.________, welche die Diagnose eines CFS gestellt hatte, vollumfänglich anschliessen. Die Kanadischen Diagnose-Kriterien seien eindeutig erfüllt und es bestehe eine mittelschwere bis eher schwere Einschränkung im Rahmen des CFS. Es seien umfangreiche weitere Abklärungen durchgeführt worden. Neben den in der Diagnoseliste erwähnten seien auch diverse laborchemische Untersuchungen und kürzlich der Ausschluss eines Diabetes insipidus mittels eines Durstversuchs am Kantonsspital T.________ erfolgt. Er sei der Ansicht, dass keine Zweifel an der Diagnose eines CFS bestünden, weitergehende Abklärungen seien nicht notwendig. Aus seiner Sicht solle nun die optimale Behandlung des CFS im Vordergrund stehen und die Energie darauf verwendet werden. Aufgrund der geschilderten Symptomatik und der schweren Einschränkung der körperlichen und kognitiven Leistungsfähigkeit durch das CFS sei eine Wiederaufnahme der Arbeit zum jetzigen Zeitpunkt nicht realistisch und medizinisch gesehen nicht sinnvoll, da mit einer Verschlechterung der Symptomatik gerechnet werden müsse.

5.5.
5.5.1.
In der Folge gab die Krankentaggeldversicherung ein bidisziplinäres Gutachten in den Fachbereichen Infektiologie und Psychiatrie beim Universitätsspital N.________ in Auftrag, welches am 26. April 2021 erstattet wurde.

5.5.2.
Dem infektiologischen Teilgutachten von Prof. Dr. H.________, FMH Allgemeine Innere Medizin und FMH Infektionskrankheiten (Infektiologie), ist zusammenfassend zu entnehmen, aus rein infektiologischer Sicht bestehe kein Zusammenhang zwischen den geklagten Symptomen und einer Infektion. Abgesehen von der streng infektiologischen Perspektive sei es jedoch offensichtlich, dass der Beschwerdeführer nur eingeschränkt arbeitsfähig sei und es solle deshalb mit entsprechenden Disziplinen (allgemeine innere Medizin, psychosomatische Medizin) die Arbeitsfähigkeit bestimmt werden.

5.5.3.
Im psychiatrischen Teilgutachten stellte Dr. med. J.________, FMH Psychiatrie und Psychotherapie, unter Mitwirkung von med. pract. R.________, dem Beschwerdeführer die Diagnose ME/CFS (ICD-10 G93.3).

Dr. J.________ hielt fest, eine erhebliche Beeinträchtigung bei der Ausübung von Beruf, sozialen und persönlichen Aktivitäten, welche sich durch Schonung und Ausruhen nicht wesentlich lindern lasse, bestehe seit über zwei Jahren. Die deutliche Zustandsverschlechterung nach Anstrengung (Post-Exertional Malaise), die aufgehobene Schlaferholsamkeit trotz neu aufgetretener Hypersomnie sowie die massive kognitive Beeinträchtigung erfüllten sämtliche Kriterien für die Diagnose ME/CFS gemäss IOM 2015 (Institute of Medicine, Committee on the Diagnostic Criteria for Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome [February 10, 2015]). Darüber hinaus lägen Hinweise auf orthostatische Dysregulation vor. Dazu bestünden mit körperlichen (Infekterkrankung 2018, multiple Lungenentzündungen, sämtliche Impfungen sowie ein Schädelhirntrauma in der Vorgeschichte) und psychosozialen Stressoren (Depression und soziale Angst in der Vorgeschichte, Verlust der Arbeitsstelle mit einhergehenden existenziellen Sorgen, Autonomieverlust im Alltag, eingeschränktes Sozialleben) prädisponierende, auslösende und aufrechterhaltende Faktoren. Die Sachverständige verwies ebenfalls darauf, dass ihre diagnostische Einschätzung mit der Beurteilung im ärztlichen Bericht von med. pract. O.________ vom März 2020 und von Dr. G.________ vom September 2020 übereinstimme. Überdies schloss sie das Vorliegen einer somatischen Belastungsstörung sowie einer depressiven Störung aus.

Die Gutachterin berichtete, seit der Symptomverschlechterung im August 2019 habe sich im Lauf des darauffolgenden Jahres bis zur Begutachtung eine progressive Zunahme der Erschöpfungssymptomatik mit einhergehender Abnahme der Leistungsfähigkeit und des Funktionsniveaus im Alltag ergeben. Der Beschwerdeführer verbringe seine Tage hauptsächlich bettlägerig zu Hause. Jegliche geistige sowie körperliche Anstrengung über seine Toleranzschwelle hinaus verursache eine zusätzliche Entkräftung, die meistens zur längeren Bettlägerigkeit über mehrere Tage führe. Beispielsweise könnten leichte Betätigungen im Haushalt, wie etwas aufräumen oder etwas Einfaches kochen sowie das Nachgehen der eigenen Körperpflege zur Überschreitung der eigenen Toleranzschwelle führen. Ebenso bewirke die Inanspruchnahme seiner Konzentration über 15 - 30 Minuten eine Eskalation der Erschöpfungssymptomatik, was zum unvermeidbarem Abbruch der laufenden Aktivität führe. Der Beschwerdeführer könne tagesformabhängig einen Film für 15 Minuten oder weniger anspruchsvolle Fernsehinhalte für 30 Minuten anschauen, eine Zeitung für 10 Minuten lesen und sich mit jemandem für maximal 30 Minuten unterhalten. Anders als im März 2020 sei der Beschwerdeführer zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr in der Lage, einen Inhalt aus einem Hörbuch aufzunehmen. Im Alltag sei er grossenteils auf die Unterstützung seiner Partnerin angewiesen, welche den Haushalt, das Einkaufen und das Kochen übernehme. Zu den notwendigen Arzt- und Behandlungsterminen müsse der Beschwerdeführer von seiner Partnerin gefahren werden, da weder die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln noch das selbstständige Autofahren möglich seien. Er stehe in hausärztlicher Betreuung sowie in Behandlung bei med. pract. O.________ in R.________. Ergo-, Physio- und Psychotherapie habe der Beschwerdeführer bereits erfolgslos in Anspruch genommen. Psychopharmakologisch seien sowohl Antidepressiva (Exefor, Edronax, Cipralex), Stimulanzien (Ritalin, Modasomil) als auch Vitamine, Supplemente, Probiotika eingesetzt worden, wobei eine wesentliche Wirksamkeit jeweils ausgeblieben sei. Manche Präparate seien vom Beschwerdeführer auch nicht toleriert worden. Unter Melatonin habe sich teilweise das Schlafverhalten verbessert, bei jedoch beinahe unverändertem Funktionsniveau. Seit Juli 2020 nehme der Beschwerdeführer im Rahmen der Behandlung bei med. pract. O.________ ein antivirales Präparat (Valaciclovir) ein, worunter sich eine minimale Verlängerung der Wachphasen und tagesformabhängig eine leichte Erhöhung der Energieverfügbarkeit in den Abendstunden ergeben habe. Dies erweise sich aber weiterhin als unzureichend, um ihm die eigenständige Bewältigung seiner Alltagsanforderungen zu ermöglichen. Zur Linderung der Schmerzanfälle greife der Beschwerdeführer bedarfsweise auf Paracetamol zurück.

Die Gutachterin attestierte dem Beschwerdeführer weiter, dass er sich bemüht gezeigt habe, an der Begutachtung aktiv mitzuwirken. Es bestehe auch keine Diskrepanz zwischen der subjektiven Beschwerdeschilderung und dem Verhalten des Beschwerdeführers. Er sei sichtlich bemüht gewesen, die Symptome und sein Erleben differenziert und nachvollziehbar zu schildern. Zudem hätten sich die unter Anstrengung zunehmende Erschöpfungssymptomatik, die Konzentrationsschwierigkeiten und die mit der Erschöpfung einhergehende formalgedankliche Verlangsamung in der Untersuchungssituation direkt beobachten lassen. Das psychosoziale Funktionsniveau in Haushalt, Freizeit und sozialen Aktivitäten sei gut vereinbar mit den erhobenen Befunden und den wiederholten Rückschlägen bezüglich der bisherigen beruflichen Wiedereinstiegversuche.

Die Gutachterin erkannte schliesslich auf eine vollumfängliche Arbeitsunfähigkeit für jegliche Tätigkeit aufgrund der Diagnose ME/CFS. Auch sei zumindest mittelfristig eine Steigerung der Arbeitsunfähigkeit als unwahrscheinlich zu betrachten.

5.6.
Nach Eingang des Gutachtens des Universitätsspital N.________ nahm Dr. med. K.________, FMH Innere Medizin, des RAD am 29. November 2021 dazu Stellung. Er bemerkte, es sei letztendlich als einzige Hauptdiagnose ein unspezifisches chronisches Müdigkeitssyndrom gestellt worden, welches als solches bereits bekannt und versicherungsmedizinisch gewürdigt worden sei. Es handle sich dabei um eine Syndromatik mit unspezifischer Müdigkeit und ungenügender Erholungsfähigkeit, welche sich keiner F-Diagnose nach ICD-10 zuordnen lasse und auch nicht mit einer Persönlichkeitsstörung erklärt werden könne. Die Gutachterin empfehle diesbezüglich u.a. ein an die individuelleToleranzgrenze angelehntes reduziertes Aktivitätsniveau, vermehrte Ruhepausen, Massage, Achtsamkeitstraining, Qigong und Osteopathie. Mit dem psychiatrisch fachärztlichen Gutachten seien hingegen u.a. eine Störung aus dem affektiven Formenkreis nach ICD-10 F3 ("Depression") wie auch eine Störung aus dem Formenkreis ICD-10 F4 ("Belastungsstörung") weitgehend ausgeschlossen worden. Auch gemäss DSM-V (5. Auflage der "Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders") seien die Kriterien für eine somatische Belastungsstörung offensichtlich nicht hinreichend erfüllt. Anzumerken sei überdies, dass im Zusammenhang mit dem psychiatrischen Gutachten offensichtlich keine neuropsychologische Abklärung – inklusive Symptomvalidierung – stattgefunden habe.

Hernach kam er zum Fazit, damit werde letztendlich die bisherige versicherungsmedizinische Beurteilung untermauert. Es bestehe lediglich die Diagnose ME/CFS (ICD-10 G93.3) ohne Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit in angestammter Tätigkeit.

6.
6.1.
Das Gutachten des Universitätsspital N.________ wurde von der Krankentaggeldversicherung und damit nicht in dem nach Art. 44 ATSG vorgesehenen Verfahren eingeholt. Aus den Akten geht hervor, dass der Rechtsanwalt des Beschwerdeführers bei der Erteilung des Gutachtens miteinbezogen wurde. Die IV-Stelle hat nach entsprechendem Einwand im Vorbescheidverfahren das Gutachten abgewartet und sich dazu nach Abklärungen bei ihrem RAD im Rahmen der Verfügung geäussert. Grundsätzlich macht sie keine Mängel des psychiatrischen Gutachtens geltend, stellt aber nicht darauf ab, sondern verneint einen versicherten Gesundheitsschaden.

6.2.
Im Sozialversicherungsrecht gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung. Der Verwaltungsträger wie auch im Streitfall das Gericht haben sich aufgrund des gesamten Beweismaterials eine Meinung darüber zu bilden, ob die umstrittenen Tatsachen mit dem Beweisgrad der über-wiegenden Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sind oder nicht (Kieser, ATSG-Komm., 3. Aufl. 2020, Art. 43 ATSG N 61).

Liegt – wie hier – ein von der Krankentaggeldversicherung nicht im gesetzlich vorgesehenen Verfahren nach Art. 44 ATSG eingeholtes Gutachten vor, kommt diesem der Beweiswert versicherungsinterner ärztlicher Feststellungen zu (BGer-Urteile 9C_580/2018 vom 14.11.2018 E. 4.1, 8C_71/2016 vom 1.7.2016 E. 5.3). Folglich sind an die Beweiswürdigung strenge Anforderungen zu stellen. Bestehen auch nur geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit einer solchen Expertise, so sind ergänzende Abklärungen in Form eines Gerichtsgutachtens oder einer versicherungsexternen medizinischen Begutachtung im Verfahren nach Art. 44 ATSG vorzunehmen (BGE 139 V 225 E. 5.2)

6.3.
Es ist festzustellen, dass das Gutachten des Universitätsspital N.________ den von der Rechtsprechung konkretisierten Anforderungen (BGE 125 V 352 E. 3a) entspricht. Es ist für die Beantwortung der gestellten Fragen umfassend, berücksichtigt die medizinischen Vorakten ebenso wie die geklagten Beschwerden und setzt sich eingehend mit diesen und auch dem Verhalten des Beschwerdeführers auseinander. Die Darlegung der medizinischen Befunde sowie deren Beurteilung leuchten ein und die Schlussfolgerungen sind nachvollziehbar begründet und mit zahlreicher Fachliteratur belegt. Abweichende medizinische Einschätzungen liegen nicht vor und werden von der IV-Stelle auch nicht angeführt, weshalb auch keinerlei Zweifel an der Beurteilung bestehen.

Das Gutachten des Universitätsspital N.________ ist lege artis erstellt. Die Befunde beruhen auf international anerkannten Diagnosekriterien (IOM 2015 [Kanadische Kriterien], a.a.O., und Bell-Skala, Bell DS. The Doctor’s Guide to Chronic Fatigue Syndrome: Understanding, Treating and Living with CFIDS. Boston: Da Capo Lifelong Books: 1995). Die Gutachterin, welche selbst in diesem Forschungsgebiet tätig ist, hat sich einlässlich mit den Befunden auseinandergesetzt und ihre Diagnose differenziert begründet. Das Gutachten ist beweistauglich und folglich kann darauf abgestellt werden.

7.
7.1.
Die IV-Stelle verlangte die Rückweisung zur neuerlichen Begutachtung, da der medizinisch relevante Sachverhalt noch nicht rechtsgenüglich festgestellt sei. Auf die Berichte der behandelnden Ärzte könne nicht abgestellt werden und mit dem Gutachten des Universitätsspital N.________ sei der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers aus (versicherungs-)medizinischer Sicht ebenfalls nicht umfassend abgeklärt worden. Die Verwaltung verlangt eine polydisziplinäre Begutachtung, insbesondere die Durchführung einer neuropsychologischen Untersuchung (inkl. Beschwerde- und Symptomvalidierungsverfahren).

7.2.
Der Beschwerdeführer lehnt eine neuerliche Begutachtung ab, da in seinen Augen ein beweiskräftiges Gutachten mit einer lege artis gestellten Diagnose nach ICD-10, einem anerkannten Klassifikationssystem, vorliege.

Im Weiteren macht der Beschwerdeführer geltend, dass die IV-Stelle keine konkreten Mängel am Gutachten des Universitätsspital N.________ angeführt habe. Im Vordergrund stehe vielmehr die grundsätzliche Haltung des RAD, dass die Diagnose eines chronischen Müdigkeitssyndroms aus versicherungsmedizinischer Sicht nicht für Leistungen der Invalidenversicherung ausreiche, da keine Ursache dafür gefunden werden könne.

7.3.
Es ist vorab auf die im Universitätsspital N.________-Gutachten gestellte Diagnose ME/CFS einzugehen. ME/CFS ist eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, die oft zu einem hohen Grad körperlicher Beeinträchtigung führen kann. Die WHO stuft ME/CFS seit 1969 als neurologische Erkrankung ein und sie wird im ICD-10 mit G93.3 und im ICD-11 mit 8E49 codiert. ME/CFS ist ein eigenständiges, komplexes Krankheitsbild und nicht mit dem Symptom Fatigue zu verwechseln, das ein typisches Begleitsymptom vieler chronisch-entzündlicher Erkrankungen sein kann. Die von ME/CFS betroffenen Personen leiden neben einer schweren Fatigue (körperliche Schwäche), die das Aktivitätsniveau erheblich einschränkt, unter neurokognitiven, autonomen und immunologischen Symptomen.

Charakteristisch für ME/CFS ist die sog. Post-Exertional Malaise, eine ausgeprägte und anhaltende Verstärkung aller Symptome nach geringer körperlicher oder geistiger Anstrengung. Diese führt zu ausgeprägter Schwäche, Muskelschmerzen, grippalen Symptomen und der Verschlechterung des allgemeinen Zustands. Sie tritt typischerweise schon nach geringer Belastung wie z.B. nach wenigen Schritten auf. Schon kleine Aktivitäten können in der Folge zu tagelanger Bettruhe zwingen.

Neben der Post-Exertional Malaise können betroffene Personen unter Symptomen des autonomen Nervensystems wie Herzrasen, Schwindel, Benommenheit und Blutdruckschwankungen leiden. Sie können dadurch nicht mehr für längere Zeit stehen oder sitzen. Medizinisch spricht man dabei von der Orthostatischen Intoleranz. Dazu können immunologische Symptome wie ein starkes Krankheitsgefühl, schmerzhafte und geschwollene Lymphknoten, Halsschmerzen, Atemwegsinfekte und eine erhöhte Infektanfälligkeit kommen. Zahlreiche betroffene Personen leiden zudem unter ausgeprägten Schmerzen wie Muskel- und Gelenkschmerzen und Kopfschmerzen eines neuen Typus. Hinzu kommen Muskelzuckungen und -krämpfe, massive Schlafstörungen und neurokognitive Symptome wie Konzentrations-, Merk- und Wortfindungsstörungen (oft als "Brain Fog" bezeichnet) sowie die Überempfindlichkeit auf Sinnesreize.

Häufig beginnt ME/CFS nach einer Infektionskrankheit. Verschiedene Pathogene sind als Auslöser bekannt, so z. B. das EBV-Virus und die Influenza. Die genauen Mechanismen der Erkrankung sind bisher noch ungeklärt. Ein validierter Biomarker fehlt bislang, sodass die Diagnose ME/CFS nach differenzialdiagnostischer Abklärung anhand etablierter klinischer Kriterienkataloge gestellt wird (z.B. Kanadische Kriterien IOM 2015, a.a.O.; vgl. auch Fragebogen der Charité Berlin, [https://cfc.charite.de/fileadmin/user_upload/microsites/kompetenzzentren/cfc/Landing_
Page/Kanadische_Kriterien_mitAuswertung.pdf, besucht am 3.11.2023]). Für ME/CFS gibt es bisher keine zugelassene kurative Behandlung oder Heilung (vgl. zum Ganzen: Website Deutsche Gesellschaft für ME/CFS E.V. [www.mecfs.de/was-ist me-cfs]; Website Universitätsspital Zürich [USZ], Chronische Müdigkeit [https://www.usz.ch/krankheit/chronische-muedigkeit/], Website Universitätsmedizin Berlin, Charité Fatigue Centrum [https://cfc.charite.de/]; Website Medizinische Universität Wien, Informationen zu ME/CFS [https://www.meduniwien.ac.at/web/forschung/projekte/computer-based-clustering-of-chronic-fatigue-syndrome-patients/allgemeine-informationen/]; Website ME/CFS Schweiz [https://www.mecfs.ch/]; ME/CFS – eine kaum erforschte Krankheit vom 11.5.2023, Interview der tagesschau [D] mit Prof. Dr. med. C. Scheibenbogen, u.a. stellvertretende Leiterin Institut für Medizinische Immunologie an der Charité Berlin [https://www.tagesschau.de/wissen/gesundheit/mecfs-post-covid-scheibenbogen-100.html], alle besucht am 3.11.2023; Dolder, Wenn alles zu anstrengend wird, in: Schweizerische Ärztezeitung, 2022 S. 950-952).

8.
8.1.
Obwohl die Mechanismen der Entstehung von ME/CFS noch nicht genügend erforscht sind, wurde mit dem Gesagten aufgezeigt, dass es sich bei ME/CFS um eine Beeinträchtigung vorab der körperlichen Gesundheit handelt, die nicht die Folge eines Unfalls ist, eine medizinische Untersuchung oder Behandlung erfordert und bei den betroffenen Personen eine Arbeitsunfähigkeit zur Folge haben kann. Damit sind die gesetzlichen Definitionen einer Krankheit (Art. 3 Abs. 1 ATSG) erfüllt.

Angesichts der von der Gutachterin gestellten Diagnose und der konkret vorliegenden Erscheinungsformen des Krankheitsbildes ME/CFS, die mit erheblichen Funktionseinschränkungen einhergehen, ist nicht nachvollziehbar, dass der RAD von einem unspezifischen chronischen Müdigkeitssyndrom ausgeht. Zudem äussert er sich insofern widersprüchlich, als er abschliessend die Diagnose ME/CFS, ICD-10 G93.3, bestätigt, wenn auch ohne Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit. Gestützt auf die Feststellungen der Gutachterin liegt eine Krankheit vor, die im anerkannten ICD-10 der WHO codiert ist und für die es seit 2005 medizinisch anerkannte Diagnosekriterien (Kanadische Kriterien, a.a.O.) gibt. Diese Krankheit kann durch medizinische Sachverständige mittels Ausschlussdiagnosen und einer Prüfung anhand der Kanadischen Kriterien lege artis festgestellt werden. Folglich kann grundsätzlich eine durch ME/CFS hervorgerufene Arbeitsunfähigkeit (Art. 6 ATSG) und eine daraus resultierende Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 Abs. 1 ATSG) auch zu einer Invalidität im Sinn von Art. 8 Abs. 1 ATSG und Art. 4 Abs. 1 IVG führen.

8.2.
Zwar wird die Diagnose ME/CFS im ICD-10 (wie auch im ICD-11) als neurologische Erkrankung aufgeführt. Allerdings zeigt sich, dass die Krankheit nach wie vor wenig erforscht und die Versorgungssituation in der Schweiz noch nicht optimal ist (ME/CFS – eine kaum erforschte Krankheit, Interview der tagesschau [D] mit Prof. Dr. C. Scheibenbogen vom 11.5.2023, a.a.O.; Tschopp et al., Myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome (ME/CFS): A preliminary survey among patients in Switzerland, e-published in: Heliyon 9 [2023] e15595). Die meisten Kompetenzzentren im In- und Ausland, die sich mit diesem Krankheitsbild auseinandersetzen, sind interdisziplinär aufgestellt und Fachärztinnen und Fachärzte der Neurologie befinden sich in der Minderheit (vgl. Kantonsspital Graubünden, Fatigue Sprechstunde; USZ, Chronische Müdigkeit Sprechstunde; Universitätsmedizin Berlin, Charité Fatigue Centrum; Medizinische Universität Wien, Informationen zu ME/CFS [jeweilige Webadressen in E. 7.3 am Ende]; Tech-nische Universität München, Klinikum rechts der Isar, Chronische Fatigue, Centrum für junge Menschen [MCFS; https://www.mri.tum.de/chronische-fatigue-centrum-fuer-junge-menschen-mcfc, besucht am 14.10.2023]).

8.3.
Es ist deshalb in Anbetracht der besonderen Situation in Bezug auf das vorliegende Beschwerdebild nicht zu beanstanden, dass die Diagnose nicht durch einen Neurologen, sondern vorab durch den Internisten Dr. Q.________ (Chefarzt Klinik I.________) sowie durch den Internisten und Pneumologen Dr. G.________ (Leitender Arzt, Leiter Medizinische Poliklinik, Kantonsspital M.________) und danach gutachterlich durch die Psychiaterin Dr. J.________ (Oberärztin, Universitätspital N.________) diagnostiziert wurde. Dies ist insbesondere dem Umstand geschuldet, dass keine anerkannten Biomarker oder bildgebenden Verfahren bestehen und die Krankheit durch eine Kombination von Einschluss- und Ausschlusskriterien diagnostiziert wird (Dolder, a.a.O., S. 951; siehe auch Urteil des Verwaltungsgerichts Graubünden, S 22 33, vom 3.5.2022). Sowohl die Medizinische Poliklinik am Kantonsspital M.________ sowie die Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik am Universitätsspital N.________ führen eine Sprechstunde für ME/CFS-Betroffene und setzen sich in interdisziplinären Teams fundiert mit dem Krankheitsbild auseinander. Schliesslich fällt auch ins Gewicht, dass sich die behandelnden Ärzte in der Klinik I.________ (E. 5.1), Dr. G.________ (E. 5.4) und die Gutachterin des Universitätsspital N.________ (E. 5.5.3), welche diese Diagnose übereinstimmend stellten, bewusst waren, dass ME/CFS zu den Krankheitsbildern gehört, die dadurch gekennzeichnet sind, dass ihre funktionellen Auswirkungen qualitativ und quantitativ ungewiss sein können. Namentlich die festgestellte Zustandsverschlechterung nach einer Anstrengung untermauert die nachvollziehbare Schlussfolgerung, dass die Einschränkung in der Leistungsfähigkeit in dem von Gesetzes wegen (Art. 6 ff. ATSG, Art. 4 Abs. 1 IVG) erforderlichen kausalen Zusammenhang mit den in Frage stehenden Gesundheitsschäden infolge der ME/CFS steht (vgl. E. 8.1).

8.4.
Vorliegend macht die IV-Stelle geltend, es müsse ein polydisziplinäres Gutachten, also eine Abklärung mit mindestens drei Fachdisziplinen, durchgeführt werden, begründet aber mit keinem Wort, welche medizinischen Fachgebiete zusätzlich zu berücksichtigen wären. Die Ärzte des RAD bestritten stets das Vorliegen eines Gesundheitsschadens, ohne sich allerdings mit der konkreten Diagnose und der diesbezüglichen Fachliteratur auseinanderzusetzen. Insbesondere setzte sich der RAD auch nicht mit dem Universitätsspital N.________-Gutachten im Einzelnen auseinander. Es wird lediglich angemerkt, dass im Zusammenhang mit dem psychiatrischen Gutachten offensichtlich keine neuropsychologische Abklärung, inklusive Symptomvalidierung, stattgefunden habe. Warum diese Zusatzuntersuchung unabdingbar sein soll, wird weder vom RAD, noch in den jeweiligen Stellungnahmen ausgeführt.

8.5.
8.5.1.
Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung handelt es sich bei einer neuropsychologischen Untersuchung nicht um eine eigenständige Disziplin, sondern lediglich um eine Hilfsuntersuchung (vgl. BGer-Urteil 8C_526/2021 vom 10.11.2021 E. 4.2.1 mit weiteren Hinweisen).

8.5.2.
Die zusätzliche Anordnung einer derartigen Untersuchung erscheint im hier streitigen Fall in mehrerlei Hinsicht fragwürdig. Gestützt auf den Charakter als Hilfsuntersuchung würde es nicht ausreichen, lediglich eine neuropsychologische Untersuchung anzuordnen, sondern es müsste erneut ein vollständiges Gutachten erstellt werden, bei welchem sich eine Medizinerin oder ein Mediziner aufgrund der eigenen Untersuchungen und in der Zusammenschau mit den Resultaten dieser neuropsychologischen Untersuchung ein Bild zu machen hätte. Dies wäre mit einer erheblichen zusätzlichen gesundheitlichen Belastung des Beschwerdeführers verbunden, da gerade in seiner Krankheitssituation auf derartige Anstrengungen eine sogenannte Post-Exertional Malaise folgen kann (vgl. E. 7.3).

8.5.3.
Zudem ist gerade dem Auftreten von Post-Exertionalen Malaisen mit einer gängigen neuropsychologischen Testung kaum Rechnung zu tragen. So kann eine Testperson unter Umständen in der Situation der Testung/Begutachtung diese besondere Anstrengung leisten, die nachfolgende Post-Exertionale Malaise wird dann allerdings nicht von der Testung erfasst, wodurch ein neuropsychologisches Gutachten für diese Form der Krankheit nicht aussagekräftig ist (vgl. auch Urteil des Verwaltungsgerichts Bern 200 22 328 IV/200 22 401 IV vom 22.9.2022, wo die Aussage einer Neuropsychologin angeführt wird, wonach eine neuropsychologische Untersuchung aufgrund des zu kurzen Beobachtungszeitraums nicht dafür geeignet sei, eine allfällige Fatigue-Symptomatik zu objektivieren bzw. zu beurteilen).

8.5.4.
Darüber hinaus ist es ohnehin Sache der begutachtenden medizinischen Fachperson(en), darüber zu entscheiden, welche zusätzlichen Untersuchungen oder der Beizug von Fachdisziplinen noch als notwendig angesehen werden (vgl. Kreisschreiben über das Verfahren in der Invalidenversicherung [KSVI], Stand 1.2.2023, Rz. 3101). Die Gutachterin Dr. J.________ hat sich zur Frage einer neuropsychologischen Testung geäussert. Sie hielt dazu fest:

"Die Schilderungen des Exploranden weisen auf schwerwiegendere Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen im Alltag hin. Diese manifestierten sich auch deutlich im Untersuchungsgespräch, wo er deutlich verlangsamt und immer erschöpfter scheint. Obwohl ein klinisches Interview eher wenig kognitive Anforderungen stellt, resultiert die hiesige Untersuchung durch Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen offensichtlich erschwert. Eine Objektivierung und sicherere Quantifizierung der Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen müssten jedoch durch eine neuropsychologische Untersuchung erfolgen. Da sich die kognitive Symptomatik in der klinischen Untersuchung deutlich zeigte, erachten wir eine solche allerdings als nicht zwingend notwendig für eine versicherungsmedizinische Beurteilung."

Auch mit dieser Aussage setzt sich die IV-Stelle nicht auseinander und begründet somit nicht, weshalb sie eine neuropsychologische Testung trotzdem als notwendig erachtet. Aufgrund der Akten ist ersichtlich, dass die Ermüdbarkeit und Erschöpfung des Beschwerdeführers nie in Zweifel gezogen wurde. So hielt die Fachperson für Eingliederungsberatung/Frühintervention bereits am 16. März 2020 (Protokolleintrag) anhand des telefonischen Erstgesprächs fest:

"Das telefonische FI-Erstgespräch musste in 2 Teilen durchgeführt werden (2 x ca. 30 Minuten). Gegen Ende der jeweiligen Gespräche fiel auf, dass die vP dem Gespräch nicht mehr richtig folgen konnte (nachfragen, verlangsamte Artikulation, Wortfindungsstörungen). Ansonsten präsentierte sich die vP kooperativ und glaubwürdig."

Zudem hielt auch der Psychiater Dr. E.________ in seiner Beurteilung fest, es liege beim Beschwerdeführer insbesondere keine Simulation oder ein mangelnder Wille zu arbeiten vor.

8.5.5.
Insgesamt findet sich in den gesamten Akten kein Hinweis darauf, dass an der Schilderung der Beschwerden des Versicherten gezweifelt würde. Im Gegenteil wird immer wieder darauf hingewiesen, dass sich der Beschwerdeführer bemühe mitzuwirken und seine Beschwerden authentisch schildere. Somit ergibt sich auch keine Veranlassung, anhand von Symptomvalidierungstests im Rahmen einer neuropsychologischen Begutachtung die Authentizität des Beschwerdeführers auszuforschen, da diese als erstellt gelten kann.

8.6.
Als Zwischenfazit ist damit festzustellen, dass die IV-Stelle keine sachlichen Einwendungen vorbringt, weshalb auf das von der Krankentaggeldversicherung eingeholte externe Gutachten nicht abgestellt werden könnte. Auf die Durchführung einer zusätzlichen neuropsychologischen Testung kann in antizipierter Beweiswürdigung verzichtet werden. Eine neuerliche umfassende Begutachtung würde einer sogenannten "second opinon" gleichkommen, was nicht zulässig wäre (BGE 141 V 330 E. 5.2). Zudem würde es auch die Gesundheit des Beschwerdeführers zusätzlich unnötig belasten.

9.
9.1.
Weiter fragt sich, ob eine Indikatorenprüfung im Sinn von BGE 141 V 281 vorzunehmen ist.

9.2.
Das Bundesgericht verneinte die Durchführung einer Prüfung der Standardindikatoren im Fall einer tumorassoziierten Fatigue, da die Mehrheit der Krebspatientinnen und -patienten während der Therapie darunter leide. Aufgrund des Umstands, dass diese Art von Fatigue zwingend in Zusammenhang mit einer Krebserkrankung und deren Therapie auftrete, liege ihr zumindest mittelbar eine organische Ursache zu Grunde. Daher sei keine Indikatorenprüfung durchzuführen. Dies ist bemerkenswert, sind doch auch bei dieser Art von Fatigue die Ursache und die Entstehung nach derzeitigem Forschungsstand nicht geklärt und man geht von komplexen und multikausalen Vorgängen aus. Zudem fehlt es bei der tumorassoziierte Fatigue an einer Codierung im ICD-10 (vgl. zur Abgrenzung der tumorassozierte Fatigue zum ME/CFS nach ICD-10 BGE 139 V 346 E. 3.2 ff.).

In BGer-Urteil 9C_106/2019 vom 6. August 2019 E. 2.3.3 wurde festgehalten, bei einem Chronic Fatigue Syndrom oder dergleichen sei grundsätzlich in einem strukturierten Beweisverfahren zu prüfen, ob eine Invalidität vorliege. Seien hingegen die Fatigue und weiteren Symptome auf einen somatischen Gesundheitsschaden (Erkrankung des zentralen Nervensystems) zurückzuführen, sei eine Prüfung nach den Standardindikatoren nicht zulässig (BGer-Urteil 8C_350/2017 vom 30.11.2017 E. 5.3, in SVR 2018 IV Nr. 31 S. 99; BGE 139 V 346 E. 2 und 3.4).

Damit zählt das Bundesgericht das CFS, welches nicht nach einer Krebserkrankung und -behandlung aufgetreten ist, zu den psychosomatischen Leiden (vgl. BGer-Urteil 8C_526/2021 vom 10.11.2021; BGE 140 V 8 E. 2.2.1.3 und dortige Verweise). Entsprechend unterstellte es diese früher der Überwindbarkeitspraxis und verlangt heute offenbar eine Indikatorenprüfung. Aufgrund des derzeitigen Forschungsstands (vgl. 7.3 f.) lässt sich zwar die Einordnung bei den psychosomatischen Leiden kaum mehr vertreten. Allerdings kann aufgrund der Tatsache, dass bis heute die Mechanismen der Entstehung von ME/CFS noch nicht genügend erforscht sind, durchaus dafürgehalten werden, dass diese Erkrankung als ein pathogenetisch-ätiologisch unklares syndromales Beschwerdebild ohne (derzeit noch) nachweisbare organische Grundlage einer speziellen Überprüfung bedarf, um die von der betroffenen Person geschilderten Beschwerden objektivieren zu können. Dafür erscheint eine Prüfung mittels Standardindikatoren als geeignet (vgl. BGE 139 V 547 E. 7.1.3 und 7.2).

9.3.
Das strukturierte Beweisverfahren für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit bei gesundheitlichen Beeinträchtigungen wie somatoforme Schmerzstörungen und vergleichbare psychosomatische Leiden, hat das Bundesgericht wie folgt systematisiert:

Kategorie "funktioneller Schweregrad"
Komplex "Gesundheitsschädigung"
Ausprägung der diagnoserelevanten Befunde
Behandlungs- und Eingliederungserfolg oder -resistenz
Komorbiditäten (weitere Krankheit oder Krankheiten)
Komplex "Persönlichkeit" (Persönlichkeitsdiagnostik, persönliche Ressourcen)
Komplex "Sozialer Kontext"
Kategorie "Konsistenz" (Gesichtspunkte des Verhaltens)
gleichmässige Einschränkung des Aktivitätsniveaus in allen vergleichbaren Lebensbereichen
behandlungs- und eingliederungsanamnestisch ausgewiesener Leidensdruck

Die Beurteilung anhand der genannten Kriterien soll erlauben, das tatsächlich erreichbare Leistungsvermögen der betroffenen versicherten Person einzuschätzen, indem man leistungshindernde äussere Belastungsfaktoren einerseits und Kompensationspotenziale (Ressourcen) anderseits berücksichtigt. Die Handhabung des Katalogs muss dabei stets den Umständen des Einzelfalls gerecht werden. Es handelt sich dabei nicht um eine "abhakbare Checkliste" (BGE 141 V 281 E. 3.4-3.6 und E. 4.1). Die Anerkennung eines rentenbegründenden Invaliditätsgrades ist nur zulässig, wenn die funktionellen Auswirkungen der medizinisch festgestellten gesundheitlichen Anspruchsgrundlage im Einzelfall anhand der Standardindikatoren schlüssig und widerspruchsfrei mit (zumindest) überwiegender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sind (BGE 141 V 281 E. 6).

9.4.
Aus den Akten geht kein sogenannter Ausschlussgrund wie Aggravation oder eine ähnliche Erscheinung hervor (vgl. dazu BGE 141 V 281 E. 2.2 mit Verweis auf BGE 131 V 49 E. 1.2).



9.5.
9.5.1.
Im Rahmen des Komplexes der Gesundheitsschädigung ist vorab zu klären, wie ausgeprägt die diagnoserelevanten Befunde sind.

Die psychiatrische Gutachterin führte aus, der Beschwerdeführer erreiche auf der Bell-Skala 15 Punkte. Dies weise auf schwere Symptome in Ruhe und schwere Symptome bei jeglicher Belastung oder Aktivität hin. Er sei den grössten Teil des Tages bettlägerig und bis auf seltene Ausnahmen unfähig, das Haus zu verlassen. Überdies zeigten sich deutliche kognitive Symptome. So sei er unfähig, sich mehr als eine halbe Stunde am Tag zu konzentrieren (vgl. auch E. 5.5.3).

Damit ist ein erheblicher Schweregrad der gesundheitlichen Beeinträchtigung plausibel und nachvollziehbar dargetan.

9.5.2.
Weiter ist zu klären, wie es sich mit dem Behandlungs- und Eingliederungserfolg respektive deren Resistenz verhält.

Der Beschwerdeführer berichtete, er habe mehrere Arbeitsversuche unternommen, die jedoch stets gescheitert seien (IV-Protokoll S. 2). Zum einen werde er extrem schnell müde, nach 15 Minuten könne er sich nur noch sehr schlecht konzentrieren. Die grosse Erschöpfung komme dann aber häufig am nächsten Tag. Weiter ergibt sich aus den Akten, dass sich der Beschwerdeführer selbst um Beurteilung und Behandlung durch Fachleute auf dem Gebiet der ME/CFS bemüht hat. Auch hat er zahlreiche diverse Behandlungsversuche unternommen (allgemeine Lifestyle-Ansätze [multimodales Pacing, ausgewogene Ernährung, Beratung bei Bedarf], und problemorientierte Symptomtherapie, Biotin-Substitution, Einnahme von Mastzellenmodulatoren, Einnahme von Valacyclovir [off-label use, expermientell, auf eigene Kosten], Einnahme von Melatonin, Energiemanagement).

Eine konsequente Behandlung ist damit ausgewiesen. Trotz durchgängiger Bemühungen des Beschwerdeführers mit diversen Ansätzen zeigt sich, dass bis zum Zeitpunkt der Begutachtung durch das Universitätsspital N.________ keine Arbeitsfähigkeit erreicht werden konnte. Im Rahmen der Arbeitsversuche sei er mehrmals an die Grenzen seiner Belastbarkeit geraten, was zu wiederkehrenden Zustandsverschlechterungen geführt habe.

9.5.3.
Komorbiditäten liegen – soweit aus den Akten ersichtlich – keine vor.

9.6.
9.6.1.
Der Komplex "Persönlichkeit" betrifft die Persönlichkeitsdiagnostik und damit das Erheben der persönlichen Ressourcen. Dabei sind sowohl die leistungshindernden Belastungsfaktoren einerseits als auch die Kompensationspotentiale andererseits zu berücksichtigen.

9.6.2.
Die Gutachterin des Universitätsspital N.________ hat sich mit den Belastungsfaktoren und den Ressourcen differenziert auseinandergesetzt. So erwähnte sie als Belastungsfaktoren bezüglich der Persönlichkeitsentwicklung und Krankheitsbewältigung die Mobbingerfahrungen im Schulalter sowie eine psychiatrische Vorgeschichte (Depression, soziale Angst) im jungen Erwachsenenalter. Diese könnten als Belastungsfaktoren für die Entwicklung einer belastungsfähigen Persönlichkeit verstanden werden, wobei der weitere biografische Verlauf bei genügenden erfolgreichen Berufserfahrungen und ausbleibenden Krankheitsrezidiven auf eine zufriedenstellende Bewältigung von früheren ungünstigen Erfahrungen schliessen lasse. Die finanziell prekäre Lage sowie die Abhängigkeit von der Partnerin im Alltag stellten ihrer Ansicht nach ungünstige Einflussfaktoren für ein stabiles Selbstwertgefühl dar.

Als Belastungsfaktoren bezüglich beruflicher Wiedereingliederung benannte sie die vorliegende Erschöpfungssymptomatik mit starker Konzentrationseinschränkung und deutlich geringer Leistungsfähigkeit. Sie bewertete diese als wesentliches Hindernis für eine berufliche Wiedereingliederung.

9.6.3.
Als Ressourcen bezüglich Persönlichkeitsentwicklung und Krankheitsbewältigung hielt die Gutachterin fest, es bestünden keine nennenswerten aversiven Kindheitserfahrungen im familiären Kontext. Aktuell erfahre der Beschwerdeführer eine gute Unterstützung durch seine Partnerin. Frühere psychische Erkrankungen (Depression, soziale Angst) hätten unter Inanspruchnahme von entsprechenden Therapiemassnahmen erfolgreich bewältigt werden können. Rezidive seien bis heute nicht aufgetreten. Anlässlich des Schädelhirntraumas 2017 habe der Beschwerdeführer über genügende Bewältigungsstrategien verfügt, sodass eine vollständige Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit nach dem Schädelhirntraum erfolgt sei. Anlässlich der aktuellen Krankheitssituation habe der Beschwerdeführer eine stets gute Therapiemotivation und -compliance gezeigt. Zur störungsspezifischen Diagnostik und Behandlung habe er aus eigener Initiative Dr. O.________ aufgesucht, was die Gutachterin als proaktive Beteiligung am laufenden Therapieprozess bewerte.

Zu den Ressourcen bezüglich beruflicher Wiedereingliederung berichtete die Gutachterin, der Explorand verfüge über ein akademisches Bildungsniveau und sei bis zum Eintritt der Erschöpfungssymptomatik Ende 2018 beruflich erfolgreich gewesen. Seine früheren Berufserfahrungen habe er als zufriedenstellend erfahren, und er bedauere es, unter den aktuellen Umständen, auf seine berufliche Selbstverwirklichung verzichten zu müssen. Bis zum Krankheitsbeginn sei es ihm problemlos gelungen, seine Arbeitsstelle jahrelang (Anm. des Gerichts: seit 2007) erfolgreich beizubehalten, was ihres Erachtens auf stabile Beziehungsmuster und gute Strategien zur Konfliktbewältigung hindeute. Trotz krankheitsbedingten sozialen Rückzugs verfüge der Beschwerdeführer über ein gutes Beziehungsnetz, er pflegt noch regelmässige Kontakte zu seinen Arbeitskollegen, welche er immer als verständnisvoll und unterstützend erlebe.

9.7.
Der Komplex "Sozialer Kontext" wird teils auch zusammen mit dem Komplex "Persönlichkeit" geprüft (vgl. M. E. Meier, Ein Jahr neue Schmerzrechtsprechung, in: Jusletter 11.7.2016, Rz. 75), da er oftmals auch kaum von diesem trennbar ist. Auch hier soll geprüft werden, ob negative oder mobilisierende Ressourcen in Bezug auf Familienleben, soziale Kontakte, Tagesstruktur oder Vereinsmitgliedschaften bestehen.

Der Beschwerdeführer hält zwar nach wie vor Kontakt mit seinen früheren Arbeitskollegen, dies jedoch nur noch telefonisch. Es erfolgte ein sozialer Rückzug aufgrund der rasch auftretenden Erschöpfungssymptomen. Im häuslichen Bereich ist er sehr stark von seiner Partnerin abhängig, fühlt sich jedoch auch von ihr getragen. Ein weitgehender sozialer Rückzug ist damit ausgewiesen.

9.8.
Die Konsistenzprüfung umfasst schliesslich die Fragen, ob zum einen eine gleichmässige Einschränkung des Aktivitätsniveaus in allen vergleichbaren Lebensbereichen besteht und zum andern, ob ein behandlungs- und eingliederungsanamnestisch ausgewiesener Leidensdruck vorliegt.

Das Verhalten des Beschwerdeführers ist insofern konsistent, als sein Aktivitätsniveau ausserhalb von Beruf und Erwerb ebenfalls massiv eingeschränkt erscheint (vgl. BGE 141 V 281 E. 4.4.1). Zudem lassen die vom Beschwerdeführer selbständig und auf eigene Initiative wahrgenommenen Untersuchungen und Behandlungen auf einen erheblichen Leidensdruck schliessen.

9.9.
Es zeigt sich, dass die Prüfung der Standardindikatoren keine Diskrepanzen ergibt. Die Gutachterin des Universitätsspital N.________ hat ihre Arbeitsunfähigkeitsschätzung unter Beachtung der massgebenden Indikatoren hinreichend und nachvollziehbar begründet. Damit ist ein Gesundheitsschaden dargetan. Was die IV-Stelle mit Verweis auf die Aktenbeurteilung durch die RAD-Ärzte vorbringt (vgl. E. 5.6, 8.1, 8.4), vermag dies nicht zu entkräften oder auch nur geringe Zweifel daran zu begründen (vgl. E. 6.2), zumal sie sich in keiner Weise mit dem Universitätsspital N.________-Gutachten auseinandergesetzt hat.

Die funktionellen Auswirkungen der medizinisch festgestellten gesundheitlichen Anspruchsgrundlage erweisen sich auch anhand der Standardindikatoren als schlüssig und widerspruchsfrei und damit mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als nachgewiesen. Die Erkenntnisse und Einschätzungen im Gutachten des Universitätsspital N.________ stehen zudem im Einklang mit dem Gutachten von Dr. G.________ (vgl. E. 5.4, 8.3).

10.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass ein beweiskräftiges Gutachten einer medizinischen Fachperson vorliegt, die über Erfahrung mit der Krankheit ME/CFS verfügt und die die anerkannten Diagnosekriterien und Beurteilungsinstrumente angewandt hat. Die Durchführung einer neuropsychologischen Testung würde keine weiteren Erkenntnisse liefern. Das Gutachten hält auch einer Prüfung der Standardindikatoren stand. Es bestehen nach dem vorstehend Ausgeführten keine geringen Zweifel an dessen Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit (vgl. E. 6.2), weshalb auf die von der Gutachterin postulierte vollumfängliche Arbeitsunfähigkeit für jegliche Tätigkeit abzustellen ist.

Der Sachverhalt ist damit hinreichend geklärt. Demnach ist der Antrag der Beschwerdegegnerin auf Rückweisung und erneute Begutachtung abzuweisen.

11.
Das Wartejahr begann am 12. August 2019 zu laufen, seither wurde der Beschwerdeführer durchgehend vollumfänglich krankgeschrieben (vgl. E. 5.1). Die Anmeldung bei der Invalidenversicherung erfolgte am 25. Februar 2020. Damit entstand der Rentenanspruch – wie vom Beschwerdeführer gefordert – am 1. August 2020 (Art. 28 Abs. 1 lit. b i.V.m. Art. 29 Abs. 1 IVG).

In Anbetracht der erstellten vollumfänglichen Arbeitsunfähigkeit für jegliche Tätigkeit besteht ein Anspruch auf eine ganze Rente bei einem Invaliditätsgrad von 100 %. Die Beschwerde ist demnach gutzuheissen. Der angefochtene Entscheid ist aufzuheben und dem Beschwerdeführer ist ab dem 1. August 2020 eine ganze Rente der Invalidenversicherung zuzusprechen.

(…)