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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:3. Abteilung
Rechtsgebiet:Invalidenversicherung
Entscheiddatum:27.02.2024
Fallnummer:5V 23 229
LGVE:2024 III Nr. 5
Gesetzesartikel:Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Art. 36 Abs. 1 ATSG, Art. 43 Abs. 1, Art. 43 Abs. 1bis ATSG, Art. 44 Abs. 1 ATSG, Art. 44 Abs. 2 ATSG, Art. 44 Abs. 3 ATSG, Art. 44 Abs. 4 ATSG, Art. 44 Abs. 5 ATSG, Art. 55 Abs. 1 ATSG; Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG, Art. 29 Abs. 1 IVG; Art. 5 Abs. 2 VwVG, Art. 46 Abs. 1 lit. a VwVG; Art. 72bis Abs. 2 IVV; § 128 Abs. 2 VRG, § 128 Abs. 3 lit. f VRG
Leitsatz:Die IV-Stelle kann auch nach Inkrafttreten der WEIV per 1. Januar 2022 über die Art des anzuordnenden Gutachtens (mono-, bi- oder polydisziplinär) nicht endgültig entscheiden. Eine entsprechende abschliessende Entscheidkompetenz lässt sich weder mit dem Wortlaut noch mit dem Sinn und Zweck der massgebenden Bestimmungen vereinbaren. Der Verwaltungsweisung, wonach bei fehlender Zustimmung der betroffenen Person diesbezüglich keine Verfügung zu erlassen sei (KSVI Rz. 3067.1), ist die Anwendung zu versagen (E. 2).

Die administrative Erstbegutachtung ist auch unter der neuen Rechtslage weiterhin im Grundsatz polydisziplinär anzulegen, um den medizinischen Sachverhalt umfassend festzustellen (E. 3).



Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:
Aus den Erwägungen:


1.

Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19.6.2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Auf alle Rentenansprüche, die ab dem 1. Januar 2022 entstehen, finden die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) in der Fassung gültig ab dem 1. Januar 2022 Anwendung (vgl. Kreisschreiben über Invalidität und Rente in der Invalidenversicherung [KSIR], gültig ab 1.1.2022, Rz. 9100).

Da sich die Beschwerdeführerin am 22. Juni 2018 zum Leistungsbezug angemeldet und eine Arbeitsunfähigkeit ab 18. Mai 2018 geltend gemacht hat, entstünde ein möglicher Rentenanspruch – bei zudem eingehaltener Karenzfrist (Art. 29 Abs. 1 IVG) – aufgrund des zu erfüllenden Wartejahrs (Art. 28 Abs.1 lit. b IVG) frühestens im Mai 2019 und somit vor dem 1.Januar 2022. Nach den allgemeinen intertemporalrechtlichen Grundsätzen sind Verfahrensvorschriften in zeitlicher Hinsicht jedoch grundsätzlich sofort auf hängige Verfahren anwendbar (vgl. BGE 144 II 273 E.2.2.4, 115 II 97 E. 2c). Daher sind betreffend Gutachtensanordnung die ab 1. Januar 2022 geltenden Bestimmungen zu beachten.

2.

Die Beschwerde richtet sich gegen das am 31. Juli 2023 verfügte Festhalten an einer bidisziplinären Begutachtung.

2.1.

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass laut Kreisschreiben über das Verfahren in der Invalidenversicherung (KSVI; Stand 1.2.2023) die IV-Stelle "abschliessend" entscheidet, ob und in welcher Form (mono-, bi- oder polydisziplinär) ein externes medizinisches Gutachten erstellt wird (Art. 43 Abs. 1bis und 44 Abs. 5 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG; SR 830.1]). Bestreite die versicherte Person diesen Entscheid, so sei keine Zwischenverfügung zu erlassen (Rz. 3067.1).

Verwaltungsweisungen sind für das Gericht grundsätzlich nicht verbindlich. Dieses soll sie bei seiner Entscheidung aber berücksichtigen, sofern sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen. Das Gericht weicht also nicht ohne triftigen Grund von Verwaltungsweisungen ab, wenn diese eine überzeugende Konkretisierung der rechtlichen Vorgaben darstellen. Insofern wird dem Bestreben der Verwaltung, durch interne Weisungen eine rechtsgleiche Gesetzesanwendung zu gewährleisten, Rechnung getragen (BGE 141 V 365 E 2.4 mit Hinweisen).

Ungeachtet Rz. 3067.1 KSVI hat die IV-Stelle vorliegend eine Verfügung betreffend Gutachtensanordnung erlassen. Wie die nachfolgenden Erwägungen zeigen, findet Rz. 3067.1 KSVI im Gesetz denn auch keine Stütze.

2.2.
Aus den massgebenden gesetzlichen Grundlagen ergibt sich Folgendes:

Nach Art. 43 Abs. 1 Satz 1 ATSG prüft der Versicherungsträger die Begehren, nimmt die notwendigen Abklärungen von Amtes wegen vor und holt die erforderlichen Auskünfte ein. Gestützt auf Art. 43 Abs. 1bis ATSG bestimmt er die Art und den Umfang der notwendigen Abklärungen. Erachtet er im Rahmen von medizinischen Abklärungen ein Gutachten als notwendig, so legt er je nach Erfordernis eine der folgenden Arten fest (Art. 44 Abs. 1 ATSG): (a) monodisziplinäres Gutachten; (b) bidisziplinäres Gutachten; (c) polydisziplinäres Gutachten.

Muss der Versicherungsträger zur Abklärung des Sachverhalts ein Gutachten bei einem oder mehreren unabhängigen Sachverständigen einholen, so gibt er der Partei deren Namen bekannt. Diese kann innert zehn Tagen aus den Gründen nach Art. 36 Abs. 1 ATSG Sachverständige ablehnen und Gegenvorschläge machen (Art. 44 Abs. 2 ATSG). Mit der Bekanntgabe der Namen stellt der Versicherungsträger der Partei auch die Fragen an den oder die Sachverständigen zu und weist sie auf die Möglichkeit hin, innert der gleichen Frist Zusatzfragen in schriftlicher Form einzureichen. Der Versicherungsträger entscheidet abschliessend über die Fragen an den oder die Sachverständigen (Art. 44 Abs. 3 ATSG). Hält der Versicherungsträger trotz Ablehnungsantrag an den vorgesehenen Sachverständigen fest, so teilt er dies der Partei durch Zwischenverfügung mit (Art. 44 Abs. 4 ATSG). Bei Gutachten nach Art. 44 Abs. 1 lit. a und b ATSG werden die Fachdisziplinen vom Versicherungsträger, bei Gutachten nach Abs. 1 lit. c von der Gutachterstelle abschliessend festgelegt (Art. 44 Abs. 5 ATSG).

2.3.
Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der massgeblichen Norm. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, so muss nach der wahren Tragweite der Bestimmung gesucht werden, wobei alle Auslegungselemente zu berücksichtigen sind (Methodenpluralismus). Dabei kommt es namentlich auf den Zweck der Regelung, die dem Text zugrunde liegenden Wertungen sowie auf den Sinnzusammenhang an, in dem die Norm steht. Die Entstehungsgeschichte ist zwar nicht unmittelbar entscheidend, dient aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu erkennen. Namentlich zur Auslegung neuerer Texte, die noch auf wenig veränderte Umstände und ein kaum gewandeltes Rechtsverständnis treffen, kommt den Materialien eine besondere Bedeutung zu. Vom Wortlaut darf abgewichen werden, wenn triftige Gründe dafür bestehen, dass er nicht den wahren Sinn der Regelung wiedergibt. Sind mehrere Auslegungen möglich, ist jene zu wählen, die der Verfassung am besten entspricht. Allerdings findet auch eine verfassungskonforme Auslegung ihre Grenzen im klaren Wortlaut und Sinn einer Gesetzesbestimmung (BGE 148 II 259 E. 6.3 mit Hinweisen).

2.3.1.
Wie sich aus der Auslegung der massgeblichen Bestimmungen ergibt, schliesst das Gesetz eine gerichtliche Überprüfung der durch die IV-Stelle angeordneten Gutachtensart (Art. 44 Abs. 1 ATSG) vor der Begutachtung nicht aus.

Soweit im KSVI aus Art. 43 Abs. 1bis ATSG eine abschliessende Entscheidkompetenz der IV-Stelle betreffend Wahl der Gutachtensart abgeleitet wird, kann dem nicht gefolgt werden. In der Botschaft zur Weiterentwicklung der IV wurde zu dieser Bestimmung zwar festgehalten, damit die IV-Stelle die notwendigen und massgebenden Abklärungen möglichst rasch und ohne Verzögerungen anordnen könne, solle ihr die ausschliessliche Entscheidkompetenz zukommen. Damit solle verhindert werden, dass das Verfahren in die Länge gezogen werde. Der versicherten Person stünden mit der Gewährung des rechtlichen Gehörs und den Beschwerdemöglichkeiten genügend Mittel zur Verfügung, gegen den von der IV-Stelle getroffenen Entscheid vorzugehen (BBl 2017 S. 2682). Im Gesetzestext wird aber gerade keine abschliessende Kompetenz der IV-Stelle (anders als in Art. 44 Abs. 3 [Fragen an die Sachverständigen] und 5 [Fachdisziplinen im Rahmen der angeordneten Gutachtensart] ATSG) erwähnt. Ebenso wenig findet sich diese abschliessende Kompetenz im Gesetzestext von Art. 44 Abs. 1 ATSG. Dies lässt einzig die Schlussfolgerung zu, dass eine Überprüfung der Gutachtensart weiterhin möglich sein muss. Gleiches ergibt sich auch aus dem Sinn und Zweck der neuen Bestimmungen. Wie erwähnt, sollte mit diesen sichergestellt werden, dass die IV-Verfahren rasch und ohne Verzögerung durchgeführt werden können (BBl 2017 S. 2682). Das Verwehren einer gerichtlichen Überprüfung einer angeordneten Gutachtensart wäre mit diesem Zweck nicht vereinbar. Denn die versicherte Person wäre bei durch die IV-Stelle falsch gewählter Gutachtensart gezwungen, sich zunächst einer Begutachtung zu unterziehen, welcher von vornherein keine Beweistauglichkeit zukäme. Im Beschwerdeverfahren gegen den Leistungsentscheid der IV-Stelle würde das zuständige Gericht die Sache in der Folge aufgrund unvollständiger Sachverhaltsabklärung an die Verwaltung zurückweisen, welche daraufhin ein rechtsgenügliches Gutachten einzuholen hätte. Dies entspräche offensichtlich nicht dem Ziel, die Verfahren der IV-Stelle zu beschleunigen, sondern führte im Gegenteil zu einem erheblich längeren Abklärungsverfahren und käme insgesamt einem formalistischen Leerlauf gleich.

Bereits im Leitentscheid BGE 137 V 210 erklärte das Bundesgericht, die Zwischenverfügung betreffend Gutachtensanordnung könne bei Bejahung des nicht wieder gutzumachenden Nachteils unter Erhebung aller gesetzlich vorgesehen Rügen rechtlicher und tatsächlicher Natur angefochten werden. Für die Beurteilung des Merkmals des nicht wieder gutzumachenden Nachteils im Kontext der Gutachtenanordnung sei an die verfassungsbezogene Auslegung der Garantien für das Abklärungsverfahren anzuknüpfen. Hier falle ins Gewicht, dass das Sachverständigengutachten im Rechtsmittelverfahren mit Blick auf die fachfremde Materie faktisch nur beschränkt überprüfbar sei. Mithin komme es entscheidend darauf an, dass qualitätsbezogene Rahmenbedingungen von Beginn weg durchgesetzt werden könnten. Griffen die Mitwirkungsrechte erst nachträglich – bei der Beweiswürdigung im Verwaltungs- und Beschwerdeverfahren –, so könne hieraus ein nicht wieder gutzumachender Nachteil entstehen, zumal im Anfechtungsstreitverfahren kein Anspruch auf Einholung von Gerichtsgutachten bestehe. Hinzu komme, dass die mit medizinischen Untersuchungen einhergehenden Belastungen zuweilen einen erheblichen Eingriff in die physische oder psychische Integrität bedeuteten. Aus diesen Gründen sowie angesichts der geschilderten Merkmale der Vergabepraxis bestehe ein gesteigertes Bedürfnis nach gerichtlichem Rechtsschutz. Daher sei im Rahmen einer verfassungs- und konventionskonformen Auslegung die Eintretensvoraussetzung des nicht wieder gutzumachenden Nachteils für das erstinstanzliche Beschwerdeverfahren zu bejahen, zumal die nicht sachgerechte Begutachtung in der Regel einen rechtlichen und nicht nur einen tatsächlichen Nachteil bewirken werde (E. 3.4.2.7). Das Bundesgericht änderte mit diesem Leitentscheid seine vorherige Rechtsprechung und hielt fest, die Gehörs- und Partizipationsrechte der versicherten Person seien zu stärken. Diese müsse die Möglichkeit haben, eine Gutachtensanordnung gerichtlich überprüfen zu lassen (vgl. E. 3.4.2.7). Unter diesen Umständen sei die schweizerische Ordnung des Abklärungsverfahrens grundsätzlich mit Art. 6 Ziff. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK; SR0.101) vereinbar (vgl. E. 4.2). Es ist davon auszugehen, dass dem Bundesrat (und der Verwaltung) als Verfasser der Botschaft diese bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Anfechtbarkeit von Zwischenentscheiden betreffend Gutachtensanordnungen und damit auch betreffend Wahl der Gutachtensart bekannt war und er daran mit seinem Verweis in der Botschaft auf die bestehenden Beschwerdemöglichkeiten als ausreichendes Mittel (BBl 2017 S.2682) nichts ändern wollte. Auch mit Blick darauf kann aus Art. 43 Abs. 1bis ATSG nicht abgeleitet werden, die Anordnung der Gutachtensart könne nicht gerichtlich überprüft werden. Eine medizinische Untersuchung stellt für die versicherte Person nach wie vor einen erheblichen Eingriff in die physische oder psychische Integrität dar. Diese muss daher bereits vorgängig gegen eine Gutachtensanordnung durch die IV-Stelle vorgehen können, wenn sie die Ansicht vertritt, die Art der vorgesehenen Begutachtung sei nicht sachgerecht. Ansonsten wäre ihr Recht auf ein faires Verfahren nach Art.6 Ziff. 1 EMRK verletzt. Daher ist im Rahmen einer verfassungs- und konventionskonformen Auslegung auch unter neuem Recht die vorgängige Überprüfung der angeordneten Gutachtensart zu bestätigen.

2.3.2.
Weiter bildet auch Art. 44 Abs. 5 ATSG keine gesetzliche Grundlage für eine abschliessende Entscheidkompetenz der IV-Stelle mit Blick auf die Bestimmung der Gutachtensart. Mit diesem Absatz sollte lediglich die Rechtsprechung des Bundesgerichts betreffend abschliessende Kompetenz der Gutachterstellen zur Festlegung der Disziplinen statuiert werden. Die Botschaft zur Änderung des IVG (Weiterentwicklung der IV) verweist in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf BGE 139 V 349 E. 3.3 (BBl 2017 S. 2683). Das Bundesgericht erkannte in diesem Urteil, den Gutachtern müsse es freistehen, die von der IV-Stelle bzw. dem Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD; oder im Beschwerdefall dem Gericht) bezeichneten Disziplinen gegenüber der Auftraggeberin zur Diskussion zu stellen, wenn ihnen die Vorgaben nicht einsichtig seien. Unter diesem Vorbehalt stehe insbesondere auch eine vorgängige Verständigung zwischen IV-Stelle und versicherter Person über die Fachdisziplinen. Eine erneute Mitwirkung der versicherten Person in diesem Punkt sei alsdann ausgeschlossen (E. 3.3). In diesem Urteil wurde mithin nicht entschieden, dass die Gutachtensart an sich durch die IV-Stelle abschliessend festgelegt werden könne. Vielmehr hielt das Bundesgericht explizit fest, die rechtsstaatlichen Anforderungen nach BGE 137 V 210 – mit Ausnahme der Auftragsvergabe nach dem Zufallsprinzip – seien für sämtliche Begutachtungen sinngemäss anwendbar (vgl. E. 3-5).

2.3.3.
Zusammenfassend lässt sich weder aus Art. 43 Abs. 1bis noch Art. 44 Abs. 1 und 5 ATSG eine abschliessende Entscheidungskompetenz der IV-Stelle betreffend Wahl der Gutachtensart ableiten. Die IV-Stelle verfügte daher zu Recht – entgegen der für sie grundsätzlich verbindlichen Verwaltungsweisung – über das Festhalten an einer bidisziplinären Begutachtung. Diese Zwischenverfügung kann einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken und ist darum beschwerdeweise anfechtbar (Art. 55 Abs. 1 ATSG i.V.m. Art. 5 Abs. 2 und 46 Abs. 1 lit.a des Bundesgesetzes über das Verwaltungsverfahren [VwVG; SR 172.021]; § 128 Abs. 2 und 3 lit. f des Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege [VRG; SRL Nr. 40]). Die IV-Stelle beantragte im Beschwerdeverfahren im Übrigen auch nicht, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten. Vielmehr schloss sie vernehmlassend auf deren Abweisung.

3.
Streitig und zu prüfen ist demnach, ob die IV-Stelle zu Recht eine bidisziplinäre und nicht eine polydisziplinäre Begutachtung der Versicherten in Auftrag gegeben hat.

3.1.
Die umfassende administrative Erstbegutachtung ist regelmässig polydisziplinär anzulegen. Eine polydisziplinäre Expertise ist auch dann einzuholen, wenn der Gesundheitsschaden zwar bloss als auf eine oder zwei medizinische Disziplinen fokussiert erscheint, die Beschaffenheit der Gesundheitsproblematik aber noch nicht vollends gesichert ist. In begründeten Fällen kann von einer polydisziplinären Begutachtung abgesehen und eine mono- oder bidisziplinäre durchgeführt werden, sofern die medizinische Situation offenkundig ausschliesslich ein oder zwei Fachgebiete beschlägt; weder dürfen weitere interdisziplinäre Bezüge (z.B. internistischer Art) notwendig sein noch darf ein besonderer arbeitsmedizinischer bzw. eingliederungsbezogener Klärungsbedarf bestehen. Diese Voraussetzungen werden vor allem bei Verlaufsbegutachtungen erfüllt sein (BGE 139 V 349 E. 3.2, zur Interdisziplinarität der Begutachtung vgl. BGE 137 V 210 E. 1.2.4).

3.2.
Soweit die IV-Stelle vorbringt, aufgrund der neuen gesetzlichen Regelung per 1. Januar 2022 könne mit der Anordnung einer bidisziplinären Begutachtung das Zufallsprinzip bei der Vergabe der Gutachten nicht mehr umgangen werden, ist ihr zwar zuzustimmen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die von der Beschwerdeführerin angerufene Rechtsprechung betreffend Erstbegutachtung nicht mehr anwendbar wäre. Weiterhin ist die administrative Erstbegutachtung im Grundsatz polydisziplinär anzulegen, um den medizinischen Sachverhalt umfassend festzustellen. Eine Abweichung von dieser Regel rechtfertigt sich unter der neuen Rechtslage per 1. Januar 2022 weiterhin nur, wenn die medizinische Situation offenkundig ausschliesslich ein oder zwei Fachgebiete beschlägt, keine weiteren interdisziplinären Bezüge notwendig sind und kein besonderer arbeitsmedizinischer bzw. eingliederungsbezogener Klärungsbedarf vorliegt. In der Botschaft zur Weiterentwicklung der IV wurde ausgeführt, das Bundesgericht habe in BGE 137 V 210 entschieden, abgesehen von begründeten Fällen solle für die Erstbegutachtung ein polydisziplinäres Gutachten eingeholt werden. Dies sei auf Verordnungs- und Weisungsstufe umgesetzt worden (BBl 2017 S. 2626). Demnach war keineswegs eine Änderung dieser (gerichtlich begründeten) Praxis beabsichtigt gewesen. In diesem Zusammenhang ist überdies darauf hinzuweisen, dass per 1. Februar 2023 diverse neue Qualitätsstandards eingeführt wurden und eine Supervision von jedem polydisziplinären Gutachten nunmehr obligatorisch vorgesehen ist – dies aufgrund der häufig sehr komplexen Fragestellungen, welche nur von entsprechenden spezialisierten Fachstellen beantwortet werden können. Dagegen ist eine Supervision bei bidisziplinären Gutachten nach wie vor nicht vorgesehen (vgl. Informationsschreiben vom 14.7.2023: Keine Supervision bei mono- und bidisziplinären Gutachten, https://www.bsv.admin.ch/bsv/de/home/sozialversicherungen/iv/ grundlagen-gesetze/gutachten-iv/medizinische-abklaerungsstellen.html). Es bestehen daher nach wie vor qualitative Unterschiede zwischen einem polydisziplinären und einem bidisziplinären Gutachten, auch wenn beide inzwischen zufallsbasiert vergeben werden (vgl. Art. 72bis Abs.2 IVV).