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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:3. Abteilung
Rechtsgebiet:Invalidenversicherung
Entscheiddatum:27.02.2024
Fallnummer:5V 22 179
LGVE:2024 III Nr. 7
Gesetzesartikel:Art. 53 Abs. 3 ATSG; Art. 57 Abs. 1 Bst. d und f - i IVG, Art. 57a IVG; Art. 73bis Abs. 1 IVV; § 109 VRG.
Leitsatz:Anfechtungsgegenstand bei Verpflichtung eines volljährigen Kindes zur Rückerstattung von Kinderrenten (E. 3.1).



Wird eine Hauptrente von der IV-Stelle rückwirkend aufgehoben bzw. herabgesetzt und findet im nachfolgenden Beschwerdeverfahren durch das Kantonsgericht eine Korrektur statt, entfällt insofern die Grundlage der Verfügung, welche die Rückforderung einer zur Hauptrente akzessorisch ausgerichteten Kinderrente zum Gegenstand hat. Wurde diese ebenfalls angefochten, entfällt nachträglich das schutzwürdige Interesse der Beschwerde führenden Partei an einer gerichtlichen Beurteilung der Rückforderungsverfügung, wenn die (gesamte) Kinderrente rechtmässig bezogen wurde. Dies führt zur Gegenstandslosigkeit der Beschwerde (E. 3.2).

Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:
Sachverhalt (zusammengefasst)

Mit Verfügung vom 2. März 2022 hob die IV-Stelle die Rente von B.________ rückwirkend per 1. Februar 2011 auf. Eine dagegen von B.________ erhobene Beschwerde hiess das Kantonsgericht Luzern mit Urteil 5V 22 135/5V 22 136 vom 14. August 2023 teilweise gut, indem es die Rente erst per 28. September 2020 aufhob. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab. Dieses Urteil erwuchs unangefochten in Rechtskraft.

Nachdem A.________ mit Schreiben vom 14. März 2022 das rechtliche Gehör gewährt worden war, verfügte die IV-Stelle am 15. April 2022 ihm gegenüber die Rückforderung der Kinderrente zur Stammrente von B.________ für die Zeit vom 1. Mai 2018 bis zum 31. Juli 2020 im Betrag von Fr.________. Während B.________ gegen die rentenaufhebende Verfügung Beschwerde erhob, wandte sich A.________ seinerseits gegen die ihn betreffende Rückforderungsverfügung ans Kantonsgericht. Dieses sistierte das Beschwerdeverfahren bis zum Eintritt der Rechtskraft des eingangs erwähnten Urteils im Zusammenhang mit der Rentenaufhebung.

Aus den Erwägungen:


3.
3.1.
Vorab ist auf den Anfechtungsgegenstand der Verfügung vom 15. April 2022 einzugehen. Entgegen den Ausführungen der Verwaltung wurde mit der Verfügung vom 2. März 2022 gerade noch nicht über die Pflicht des Beschwerdeführers zur Rückerstattung der Kinderrente entschieden. Abgesehen davon, dass auch mit dieser nicht über die Rückerstattungspflicht als solche befunden worden ist (vgl. dazu LGVE 2024 III Nr. 6), könnte die der Mutter des Beschwerdeführers zugestellte Verfügung diesem gegenüber ohnehin keine diesbezüglichen Rechtswirkungen entfalten, da er nicht Empfänger des Verwaltungsaktes gewesen ist. Vielmehr ist dem Beschwerdeführer, nach vorgängiger Gewährung des rechtlichen Gehörs, erst mit der angefochtenen Verfügung vom 15. April 2022 eröffnet worden, dass er im Zeitraum vom 1. Mai 2018 bis zum 31. Juli 2020 zu Unrecht bezogene Kinderrenten im Gesamtbetrag von Fr.________ zurückzuerstatten habe. Gegenstand dieser Verfügung bildet somit die Rückerstattungspflicht des Beschwerdeführers. Damit handelt es sich auch nicht um eine blosse Berechnungsverfügung, auf welche nicht einzutreten wäre (vgl. dazu LGVE 2010 II Nr. 30, 2024 III Nr. 6 E. 2.1.1.2).

3.2.
Näherer Betrachtung bedarf sodann das rechtliche Schicksal der Verfügung vom 15. April 2022, nachdem das Kantonsgericht mit rechtskräftigem Urteil 5V 22 135/5V 22 136 vom 14. August 2023 eine Einstellung der Rente der Mutter des Beschwerdeführers erst ab 28. September 2020 als rechtmässig beurteilte. Mit der Aufhebung der Verfahrenssistierung sowie der Aufforderung zur Vernehmlassung mit Verfügung vom 16. Oktober 2023 hat das Gericht die Verwaltung um Mitteilung ersucht, ob sie unter den gegebenen Umständen und mit Blick auf deren Kompetenz gemäss Art. 53 Abs. 3 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1) auf ihre Rückforderungsverfügung zurückkomme. Mit Eingabe vom 27. Oktober 2023 beantragt die IV-Stelle stattdessen die Abweisung der Beschwerde, soweit überhaupt darauf einzutreten sei.

Sie stellte dabei fest, aufgrund des Urteils 5V 22 135/5V 22 136 vom 14. August 2023 bestehe für die akzessorische Rückforderungsverfügung keine Grundlage mehr, womit das Verfahren abgeschrieben werden könne. Damit anerkennt die IV-Stelle, dass der angefochtenen Verfügung die Grundlage entzogen wurde. Dies ist denn auch offensichtlich, werden doch mit der angefochtenen Verfügung vom Beschwerdeführer Kinderrenten für einen Zeitraum vor der Einstellung der Hauptrente ab 28. September 2020 zurückgefordert.

Damit ist das schutzwürdige Interesse des Beschwerdeführers an einer Beurteilung der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde nachträglich weggefallen, was zur Gegenstandslosigkeit der Beschwerde führt. Denn nicht nur eine veränderte Sachlage, sondern auch eine neue rechtliche Situation kann zur Gegenstandslosigkeit einer Beschwerde führen. Eine solche kann sich unter anderem aus der Erledigung eines anderen Verfahrens ergeben, was vorliegend aufgrund des rechtskräftigen Urteils 5V 22 135/5V 22 136 der Fall ist (vgl. dazu BGer-Urteil 5A_967/2016 vom 16.3.2018 E. 2.2.1 mit Hinweisen). Mit dem Wegfall des rechtserheblichen Interesses an einem Sachentscheid ist folglich das vorliegende Verfahren als erledigt zu erklären (§ 109 des Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege [VRG; SRL Nr. 40]).

4.
4.1.
Bei Gegenstandslosigkeit der Beschwerde entscheidet das Gericht über die Nebenfolgen, namentlich über die Kostenfolgen und den Anspruch auf Parteientschädigung, mit summarischer Begründung aufgrund der Sachlage vor Eintritt des zur Gegenstandslosigkeit führenden Grunds. Dabei ist besonders auf den mutmasslichen Ausgang des Prozesses abzustellen (BGE 125 V 373 E. 2a mit Hinweisen). Lässt sich dieser im konkreten Fall nicht feststellen, so sind allgemeine prozessrechtliche Kriterien heranzuziehen: Danach wird diejenige Partei kosten- und entschädigungspflichtig, die das gegenstandslos gewordene Verfahren veranlasst hat oder bei der die Gründe eingetreten sind, die zur Gegenstandslosigkeit des Prozesses geführt haben. Die Regelung bezweckt, denjenigen, der in guten Treuen Beschwerde erhoben hat, nicht im Kostenpunkt dafür zu bestrafen, dass die Beschwerde infolge nachträglicher Änderung der Umstände abzuschreiben ist, ohne dass ihm dies anzulasten wäre (BGE 118 Ia 488 E. 4a).

4.2.
Nachdem die Einstellung der Invalidenrente der Mutter B.________ erst ab 28. September 2020 rechtmässig erfolgte, wäre die vorliegende Beschwerde im Falle einer Beurteilung ohne Weiteres gutzuheissen gewesen, wurden doch akzessorische Kinderrentenbetreffnisse für einen vor diesem Zeitpunkt liegenden Zeitraum zurückgefordert. Damit wird die IV-Stelle kosten- und entschädigungspflichtig. Bei ihr sind denn auch die Gründe eingetreten, die zur Gegenstandslosigkeit des Prozesses geführt haben. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass der Beschwerdeführer nach Erlass der hier angefochtenen Verfügung Veranlassung hatte, jene anzufechten. Nachdem die Verwaltung im Rahmen der Gewährung des rechtlichen Gehörs dem Antrag des Beschwerdeführers, die Rückforderungsverfügung zu "sistieren" (gemeint wohl: mit deren Erlass zuzuwarten), nicht nachgekommen ist und von diesem ultimativ die Begleichung der Rückforderung innert 30 Tagen verlangt hat, musste dieser mit deren Durchsetzung rechnen. Der Sinn der Begründung in der Verfügung vom 15. April 2022 für die Ablehnung der beantragten "Sistierung" ("da die aufschiebende Wirkung infolge einer Beschwerde gegen die Einstellungsverfügung entzogen wurde") erschliesst sich zwar nicht ohne weiteres. Sie konnte vom Beschwerdeführer im Gesamtzusammenhang allerdings nur so verstanden werden, dass er die Weiterverfolgung des Rückforderungsanspruchs nur mit einer Beschwerde würde aufschieben können. (…). Hinzuweisen bleibt darauf, dass im Falle einer Rückforderung von Leistungen, die nicht an die versicherte Person, sondern an Drittpersonen ausgerichtet wurden, die rechtlichen Grundlagen kein Vorbescheidverfahren vorsehen: Art. 57a des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) umfasst ausschliesslich Endentscheide, die sich an die versicherte Person selber richten und Art. 73bis Abs. 1 der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) in Verbindung mit Art. 57 Abs. 1 Bst. d und f - i IVG nennt die Rückforderung gerade nicht ausdrücklich als Aufgabe der IV-Stelle und damit nicht zusätzlich als Gegenstand des Vorbescheidverfahrens (vgl. dazu LGVE 2024 III Nr. 6 E. 2.1.1.1 erster Absatz). Diese Umstände bewahren die IV-Stelle jedoch nicht vor allfälligen Kosten, die durch die rückwirkende Korrektur der verfügten Renteneinstellung im Rechtsmittelverfahren entstehen (vorstehende E. 4.1, vgl. auch BGer-Urteil 8C_316/2014 vom 26.8.2014 E. 2.2).

Weiter ist darauf hinzuweisen, dass abgesehen von der aus Sicht des Beschwerdeführers drohenden frühzeitigen Durchsetzung der Rückforderung dieser auch aus andern Gründen Veranlassung zur Beschwerdeerhebung haben kann. Auch wenn er nicht befugt war, gegen die rückwirkende Anpassung der Haupt- bzw. Stammrente der Mutter ein Rechtsmittel einzulegen, konnte er sich gegebenenfalls aufgrund der Auszahlungsweise gegen die Rückforderung zur Wehr setzen (BGE 136 V 7 E. 2.5; vgl. auch BGE 143 V 241 E. 6.1). Sodann musste er auch die Möglichkeit haben, die Frage der Verwirkung des Rückforderungsanspruchs gerichtlich überprüfen zu lassen (vgl. BGer-Urteil 8C_625/2012 vom 1.7.2013 E. 6). Diese wäre ihm beispielsweise dann verwehrt geblieben, wenn er auf die Erhebung einer Beschwerde verzichtet und die verfügte rückwirkende Korrektur des Haupt- bzw. Stammrentenanspruchs in Rechtskraft erwachsen wäre. Insofern hat im Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung ein Rechtsschutzinteresse bestanden.