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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:3. Abteilung
Rechtsgebiet:Invalidenversicherung
Entscheiddatum:27.02.2024
Fallnummer:5V 22 180
LGVE:2024 III Nr. 8
Gesetzesartikel:Art. 5 VwVG; Art. 25 Abs. 1 ATSG, Art. 49 Abs. 5 ATSG, Art. 53 Abs. 3 ATSG; Art. 57 Abs. 1 Bst. d und f - i IVG, Art. 57a Abs. 1 IVG; Art. 73bis Abs. 1 IVV; § 109 VRG.
Leitsatz:Die gesetzlichen Grundlagen sehen im Fall einer Rückforderung von Leistungen, die nicht an die versicherte Person, sondern an Drittpersonen ausgerichtet wurden, kein Vorbescheidverfahren vor (E. 3.2). Wird eine Hauptrente von der IV-Stelle rückwirkend aufgehoben bzw. herabgesetzt und findet im nachfolgenden Beschwerdeverfahren durch das Kantonsgericht eine Korrektur statt, entfällt in diesem Umfang die Grundlage der Verfügung, welche die Rückforderung einer zur Hauptrente akzessorisch ausgerichteten Kinderrente zum Gegenstand hat. Dies hat zur Folge, dass die entsprechenden Betreffnisse nicht zurückzuerstatten sind. Die Rückforderungsverfügung ist deshalb entsprechend zu modifizieren, was auch bei unterbliebener Beschwerdeerhebung zu erfolgen hätte (E. 3.3).
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:
Sachverhalt (zusammengefasst)

Mit Verfügung vom 2. März 2022 hob die IV-Stelle die Rente von B.________ rückwirkend per 1. Februar 2011 auf. Eine dagegen von B.________ erhobene Beschwerde hiess das Kantonsgericht Luzern mit Urteil 5V 22 135/5V 22 136 vom 14. August 2023 teilweise gut, indem es die Rente erst per 28. September 2020 aufhob. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab. Dieses Urteil erwuchs unangefochten in Rechtskraft.

Nachdem A.________ mit Schreiben vom 14. März 2022 das rechtliche Gehör gewährt worden war, verfügte die IV-Stelle am 15. April 2022 ihr gegenüber die Rückforderung der Kinderrente zur Stammrente von B.________ für die Zeit vom 1. September 2019 bis 31. März 2022 im Betrag von Fr.________. Während B.________ gegen die rentenaufhebende Verfügung Beschwerde erhob, wandte sich A.________ ihrerseits gegen die sie betreffende Rückforderungsverfügung an das Kantonsgericht. Dieses sistierte das Beschwerdeverfahren bis zum Eintritt der Rechtskraft des eingangs erwähnten Urteils im Zusammenhang mit der Rentenaufhebung.


Aus den Erwägungen:


2.
2.1.
In einem ersten Schritt ist zu prüfen, ob auf die Beschwerde der Versicherten einzutreten ist.

2.2.
Im verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren sind grundsätzlich nur Rechtsverhältnisse zu überprüfen bzw. zu beurteilen, zu denen die zuständige Verwaltungsbehörde vorgängig verbindlich – in Form einer Verfügung – Stellung genommen hat.

Der Streitgegenstand im System der nachträglichen Verwaltungsrechtspflege ergibt sich aus der angefochtenen Verfügung und den beschwerdeweise gestellten Begehren. Er umfasst das Rechtsverhältnis, das den – aufgrund der Beschwerdebegehren effektiv angefochtenen – Verfügungsgegenstand bildet (BGE 131 V 164 E. 2.1 mit Hinweisen).

2.3.
Bei der Rückforderungsverfügung vom 15. April 2022 (Anfechtungsobjekt) handelt es sich um einen hoheitlichen Akt, der sämtliche Elemente einer Verfügung gemäss Art. 5 des Bundesgesetzes über das Verwaltungsverfahren (VwVG; SR 172.021) enthält, insbesondere ist sie als solche bezeichnet, nennt die Adressatin, umschreibt die Verpflichtung zur Rückerstattung von Kinderrenten im Betrag von Fr.________ sowie die gesetzliche Grundlage (wobei die genaue Artikelbezeichnung nicht von entscheidender Bedeutung ist). Es folgen ausserdem die Rechtsmittelbelehrung sowie ein Hinweis auf die Möglichkeit, ein Erlassgesuch zu stellen.

Die Rückerstattungspflicht bildet somit vorliegend den Verfügungsgegenstand, nicht hingegen die rückwirkende Aufhebung des Rentenanspruchs von B.________. Letztere könnte von der Beschwerdeführerin auch gar nicht angefochten werden (BGE 136 V 7 E. 2.5). Diese verlangt die Aufhebung der Verfügung vom 15. April 2022, womit die Rückerstattungspflicht als solche den mit dem Anfechtungsgegenstand übereinstimmenden Streitgegenstand darstellt. Zur Begründung hat die Beschwerdeführerin zwar im Wesentlichen angeführt, die fehlende Rechtskraft der Hauptverfügung vom 2. März 2022 sowie der Umstand, dass einer Beschwerde gegen die Rückforderungsverfügung vom 15. April 2022 die aufschiebende Wirkung nicht entzogen werden könne, müssten die Aufhebung der vorliegend angefochtenen Verfügung zur Folge haben. Auf den ersten Blick richtet sich das Rechtsmittel der Versicherten bloss gegen den Zeitpunkt der verfügten Rückforderung (vgl. auch die Eingabe der Beschwerdeführerin vom 13.7.2022, gemäss welcher es lediglich darum gehe, dass die Rückforderung vor Eintritt der Rechtskraft [der Verfügung vom 2.3.2022] und damit in Verletzung von Art. 49 Abs. 5 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG; SR 830.1] verfügt worden sei). Eine diesbezügliche Einschränkung hinsichtlich des Verfügungszeitpunkts ist entgegen der Annahme der Versicherten der zitierten Gesetzesbestimmung allerdings nicht zu entnehmen. Es steht der Verwaltung vielmehr frei – ihrer Ansicht nach – zu Unrecht erbrachte Leistungen bereits ab jenem Tag zurückzufordern, an dem ihr die in Betracht kommende rückerstattungspflichtige Person bekannt und die Höhe der Rückerstattungsforderung zumindest bestimmbar waren. Während die Rechtskraft der Verfügung vom 2. März 2022 keine Voraussetzung für den Erlass der Rückforderungsverfügung bildete, waren der IV-Stelle sämtliche im konkreten Einzelfall erheblichen Umstände zugänglich, aus deren Kenntnis sich der Rückforderungsanspruch dem Grundsatz nach und in seinem Ausmass gegenüber einer bestimmten rückerstattungspflichtigen Person ergab (BGer-Urteil 8C_843/2018 vom 22.1.2019 E. 3.3).

Auch wenn die Beschwerdeführerin betont, es gehe nicht um die Frage, ob der Inhalt der Rückforderungsverfügung korrekt sei, kann daraus nicht abgeleitet werden, sie sei mit diesem einverstanden. Vielmehr kann ihr Rechtsbegehren ("Die Verfügung vom 15.4.2022 sei aufzuheben"), das nach Treu und Glauben im Licht der dazu gegebenen Begründung auszulegen ist (BGer-Urteil 8C_578/2021 vom 9.2.2022 E. 1), nur so verstanden werden, dass sie (auch) mit dem Verfügungsinhalt nicht einverstanden ist. Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist deshalb einzutreten.

3.
3.1.
Die Verwaltung begründet ihren Abweisungsantrag dahingehend, die angefochtene Verfügung wäre auch ohne eine dagegen erhobene Beschwerde entsprechend dem rechtskräftigen Urteil 5V 22 135/5V 22 136 vom 14. August 2023 angepasst worden. Demzufolge sei die Rückforderung ab 28. September 2020 bis 31. März 2022 zu Recht ergangen.

3.2.
Vorauszuschicken ist, dass die Beschwerdeführerin allein schon deshalb ein Interesse an der Erhebung einer Beschwerde gegen die Rückforderungsverfügung hat, weil jener aufschiebende Wirkung zukommt (Art. 49 Abs. 5 Satz 2 ATSG). Die Beschwerdeführerin wurde am 15. April 2022 ultimativ aufgefordert, den nicht unbedeutenden Betrag von Fr.________ innert 30 Tagen zurückzuerstatten, ohne dass sich in der Verfügung ein Hinweis darauf finden liess, diese werde nachträglich gegebenenfalls angepasst, sollte die beschwerdeweise angefochtene Verfügung vom 2. März 2022 vor Gericht keinen Bestand haben. Selbst wenn sie hätte darauf vertrauen dürfen, dass die Verwaltung die Rückforderung bis zur rechtskräftigen Bestätigung der rückwirkenden Aufhebung des Haupt- bzw. Stammrentenanspruchs nicht durchsetzen und bei einer allfälligen gerichtlichen Korrektur ebenfalls anpassen würde, war sie zur Beschwerdeerhebung gehalten. Vorab ist solches der Verfügung nicht zu entnehmen. Und auch wenn sie hinsichtlich des Haupt- bzw. Stammrentenanspruchs nicht befugt war, ein Rechtsmittel einzulegen oder diesen in einem eigenen Verfahren vorfrageweise überprüfen zu lassen, musste zudem die Beurteilung der Rückerstattungspflicht der Hauptrentnerin und ihr als eine Drittempfängerin nicht zwingend in allen Punkten identisch ausfallen (vgl. BGer-Urteil 8C_625/2012 vom 1.7.2013 E. 4.1 und 6). Wäre etwa die Verfügung betreffend den Haupt- bzw. Stammrentenanspruch bestätigt worden, hätte die Beschwerdeführerin bei unterlassener Beschwerdeerhebung keine Möglichkeit mehr gehabt, die Rechtmässigkeit der Rückerstattungspflicht (inklusive der Wahrung der Verwirkungsfrist) ihrerseits gerichtlich überprüfen zu lassen. Dasselbe hätte beispielsweise auch gegolten im Fall eines Beschwerderückzugs der Hauptrentnerin.

Anzumerken ist, dass diese Notwendigkeit der Beschwerdeerhebung auch nicht damit hätte vermieden werden können, dass die IV-Stelle statt einer Verfügung einen Vorbescheid über die Rückforderung erlassen hätte. Denn die gesetzlichen Grundlagen sehen im Fall einer Rückforderung von Leistungen, die nicht an die versicherte Person, sondern an Drittpersonen ausgerichtet wurden, kein Vorbescheidverfahren vor: Art. 57a Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) umfasst ausschliesslich Endentscheide, die sich an die versicherte Person selber richten und Art. 73bis Abs. 1 der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) in Verbindung mit Art. 57 Abs. 1 Bst. d und f - i IVG nennt die Rückforderung gerade nicht ausdrücklich als Aufgabe der IV-Stelle und damit nicht zusätzlich als Gegenstand des Vorbescheidverfahrens (vgl. dazu LGVE 2024 III Nr. 6 E. 2.1). (…).

3.3.
Mit Urteil 5V 22 135/5V 22 136 vom 14. August 2023 ist der unrechtmässige Leistungsbezug der Haupt- bzw. der Stammrente der Mutter der Beschwerdeführerin ab 28. September 2020 rechtskräftig bestätigt worden. Als akzessorische Leistung dazu gilt dies auch für die an die Beschwerdeführerin ausbezahlte Kinderrente (BGer-Urteil 8C_625/2012 vom 1.7.2013 E. 3.3). Mit diesem Entscheid ist der Verfügung vom 15. April 2022 insofern die Grundlage entzogen worden, als der Kinderrentenbezug vor diesem Zeitpunkt nicht unrechtmässig gewesen ist. Dies hat zur Folge, dass die entsprechenden Betreffnisse nicht zurückzuerstatten sind (Art. 25 Abs. 1 Satz 1 ATSG). Es drängt sich deshalb auf, die Rückforderungsverfügung entsprechend zu modifizieren, was die Verwaltung offensichtlich ebenfalls beabsichtigt. Diese geht zu Recht davon aus, dass eine Anpassung selbst bei unterbliebener Beschwerdeerhebung zu erfolgen hätte. Zu beachten ist dabei indessen einerseits, dass vorliegend die formgültige Beschwerdeerhebung (zusammen mit der Beschwerdeantwort des Versicherungsträgers) die alleinige Zuständigkeit des Kantonsgerichts begründet, über das in der angefochtenen Verfügung geregelte Rechtsverhältnis zu entscheiden. Damit verliert die IV-Stelle die Herrschaft über den Streitgegenstand, und zwar insbesondere auch in Bezug auf die tatsächlichen Verfügungs- und Entscheidungsgrundlagen (BGer-Urteil 8C_133/2022 vom 7.9.2022 E. 5.1). Dieser Devolutiveffekt wird eingeschränkt durch Art. 53 Abs. 3 ATSG, welcher bestimmt, der Versicherungsträger könne eine Verfügung, gegen die Beschwerde erhoben wurde, so lange wiedererwägen, bis er gegenüber der Beschwerde-behörde Stellung nimmt. Auf diese Kompetenz wurde die Verwaltung anlässlich der Aufhebung der Sistierung mit Verfügung vom 16. Oktober 2023 ausdrücklich hingewiesen, davon hat sie allerdings keinen Gebrauch gemacht. Die angefochtene Verfügung ist deshalb diesbezüglich durch das Gericht zu korrigieren.

(…)

3.5.
Zusammenfassend hat die Beschwerdeführerin lediglich die von 28. September 2020 bis 31. März 2022 gewährten Kinderrenten zurückzuerstatten. Die zwischen 1. September 2019 und 27. September 2020 gewährten Renten waren hingegen rechtmässig bezogen worden und können nicht zurückgefordert werden. Damit ist das Beschwerdeverfahren diesbezüglich als erledigt zu erklären (§ 109 des Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege [VRG; SRL Nr. 40]). Da die Höhe der einzelnen Rentenbetreffnisse in der vorerwähnten Periode nicht bekannt ist, ist die Sache zur genauen Bezifferung des Rückforderungsbetrags an die IV-Stelle zurückzuweisen. In diesem Sinn ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde teilweise gutzuheissen.