Instanz: | Kantonsgericht |
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Abteilung: | 2. Abteilung |
Rechtsgebiet: | Strafvollzug |
Entscheiddatum: | 16.07.2024 |
Fallnummer: | 4H 24 14 |
LGVE: | 2024 II Nr. 3 |
Gesetzesartikel: | Art. 77b Abs. 1 lit. b StGB. |
Leitsatz: | Zur Möglichkeit des Strafvollzugs in Form der Halbgefangenschaft bei einer verurteilten Person im Rentenalter. |
Rechtskraft: | Dieser Entscheid ist noch nicht rechtskräftig. |
Gegen diesen Entscheid ist eine Beschwerde beim Bundesgericht hängig (Fall-Nr.: 7B_958/2024). | |
Entscheid: | Aus den Erwägungen: (...) 3.3. Umstritten ist nach dem Gesagten, ob die Tätigkeiten der sich im Rentenalter befindlichen Beschwerdeführerin (Bewirtschaftung eines Onlineshops, Besuche von Messen, Organisation von Seminaren sowie Erstellung von Kochbüchern) den Strafvollzug in Form der Halbgefangenschaft erlauben. Die übrigen zeitlichen und persönlichen Voraussetzungen für den Strafvollzug in Form von Halbgefangenschaft sind mit Blick auf Gesetz und Akten zu Recht nicht strittig und erfüllt. Entgegen der Befürchtung der Beschwerdeführerin stellt der Vollzugs- und Bewährungsdienst des Kantons Luzern (VBD) in seiner Vernehmlassung auch die im Entscheid angenommene fehlende Wiederholungsgefahr nicht in Frage, sondern mahnt einzig zur Vorsicht bei der Prüfung der von der Beschwerdeführerin angeführten selbständigen Erwerbstätigkeit. Nachfolgend zu prüfen ist damit einzig, ob die Tätigkeiten der Beschwerdeführerin unter jene Tätigkeiten fallen, für die Art. 77b des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB; SR 311.0) den Strafvollzug in Form der Halbgefangenschaft erlaubt. 3.3.1. Gemäss Art. 77b Abs. 1 lit. b StGB setzt der Vollzug einer Freiheitsstrafe in Form der Halbgefangenschaft voraus, dass die verurteilte Person einer geregelten Arbeit, Ausbildung oder Beschäftigung von mindestens 20 Stunden pro Woche nachgeht. 3.3.1.1. Der Begriff der Arbeit umfasst sowohl unselbständige als auch selbständige Tätigkeiten (vgl. Koller, Basler Komm., 4. Aufl. 2019, N 11 zu Art. 77b; Werninger, Die elektronische Überwachung, in: ZStrR 2018 S. 231). Mit Blick auf den Zweck der Halbgefangenschaft, eine Desintegration aus der Arbeitswelt zu verhindern (BGer-Urteil 6B_813/2016 vom 25.1.2017 E. 2.2.1; Koller, a.a.O., N 2 zu Art. 77b StGB; Joset, in: StGB Annotierter Kommentar [Hrsg. Graf], Bern 2020, N 4 zu Art. 77b), setzt Arbeit im Sinne von Art. 77b Abs. 1 lit. b StGB voraus, dass eine Tätigkeit mit Erwerbscharakter vorliegt. Die unselbständige bzw. selbständige Tätigkeit muss mit anderen Worten auf die Erzielung von Lohn bzw. auf die Erzielung von Gewinn ausgerichtet sein, um sich als Arbeit zu qualifizieren. Blosse Hobbys bzw. Liebhabereien stellen keine Arbeit dar. Arbeitslose Personen und Personen, die bspw. wegen Sozialhilfebezug oder Erreichen des Rentenalters nicht (mehr) im erwähnten Sinne arbeitstätig sind, sind unter diesem Aspekt von der Halbgefangenschaft ausgeschlossen (vgl. Werninger, a.a.O., S. 231; Urteil des Obergerichts Bern SK 19 242 vom 16.8.2019 E. 13.4). Ein wesentliches Merkmal für die Abgrenzung der Liebhaberei von der genannten selbständigen Tätigkeit ist das Gewinnstreben. Diesbezüglich kann auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts in den Bereichen des Steuer- und des Sozialversicherungsrechts verwiesen werden. Demnach weist das Gewinnstreben ein subjektives und ein objektives Moment auf. Zum einen muss die Absicht gegeben sein, Gewinn zu erzielen, und zum andern muss sich die Tätigkeit zur nachhaltigen Gewinnerzielung eignen. Bringt eine Tätigkeit auf Dauer nichts ein, ist dies ein Indiz dafür, dass es an der subjektiven oder objektiven Gewinnstrebigkeit mangelt: Wer wirklich eine Erwerbstätigkeit ausübt bzw. ausüben will, wird sich in der Regel nach andauernden beruflichen Misserfolgen von der Zwecklosigkeit seiner Tätigkeit überzeugen lassen und diese aufgeben. Führt er sie dennoch weiter, ist anzunehmen, dass dafür in subjektiver Hinsicht andere Motive als der Erwerbszweck massgebend sind, wie dies etwa bei einem Hobby oder einer Tätigkeit aus blosser Liebhaberei der Fall ist (vgl. BGE 143 V 177 E. 4.2.1-4.2.3). 3.3.1.2. Der Begriff der Beschäftigung im Sinne von Art. 77b Abs. 1 lit. b StGB ist mit Blick auf den Zweck der Halbgefangenschaft auszulegen. Erfasst werden gemäss Lehre und Praxis insbesondere die Haus- und Erziehungsarbeit sowie die Teilnahme an Arbeitsloseneinsatzprogrammen (Koller, a.a.O., N 11 zu Art. 77b StGB; Joset, a.a.O., N 4 zu Art. 77b StGB; Ziff. 1.3 lit. C/f der Richtlinie betreffend die besonderen Vollzugsformen) Bei Haus- und Erziehungsarbeit handelt es sich im weiteren Sinne um Arbeit. Der Einbezug dieser Arbeitsformen ist Voraussetzung dafür, dass beispielsweise erwerbstätige Partner und Partnerinnen von verurteilten Personen ihre Arbeitstätigkeit im bisherigen Umfang weiterführen können, und stellt so sicher, dass das nahe Umfeld der verurteilten Person nicht wegen der Verurteilung aus der Arbeitswelt gedrängt wird. Überdies kann durch die Gewährung von Halbgefangenschaft für Haus- und Erziehungsarbeit eine kostenintensive Drittlösung vermieden werden. Aus diesen Gründen ist es im Lichte des Zwecks der Halbgefangenschaft angebracht, bei Haus- und Erziehungsarbeit den Vollzug in Form der Halbgefangenschaft zu gewähren. Der Besuch von Arbeitsloseneinsatzprogrammen im Rahmen der Halbgefangenschaft rechtfertigt sich, da verurteilte Personen so ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt erhalten oder verbessern können, was die berufliche Reintegration fördert. Blosse Liebhabereien bzw. Hobbys können dagegen nicht unter den Begriff der Beschäftigung subsumiert werden. Mit der Gewährung der Halbgefangenschaft für Liebhabereien bzw. Hobbys würde der Zweck der Halbgefangenschaft nicht erfüllt. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin dient die Halbgefangenschaft nicht dazu, jegliche soziale oder gesellschaftliche Desintegration zu unterbinden, sondern sie zielt spezifisch darauf ab, eine Desintegration aus dem Arbeitsmarkt zu verhindern. Entsprechend verbringen denn auch Verurteilte, denen die Vollzugsform der Halbgefangenschaft gewährt wurde, ihre Ruhe- und Freizeit in der Anstalt (vgl. Art. 77b Abs. 2 StGB), woraus durchaus eine gewisse soziale und gesellschaftliche Desintegration resultiert. Nach dieser rechtlichen Auslegung ist nachfolgend zu prüfen, ob es sich bei den Tätigkeiten der Beschwerdeführerin um selbständigen Erwerb, Beschäftigung oder Liebhabereien bzw. Hobbys handelt. 3.3.2. Die Beschwerdeführerin hat vor Kantonsgericht eine Auflistung ihrer täglichen Tätigkeitszeiten für den Zeitraum von Oktober 2023 bis und mit April 2024 eingereicht (…). Obwohl die Auflistung lückenhaft ist (bei einzelnen Daten fehlt die Anzahl Stunden) und teilweise unplausibel erscheint (vgl. bspw. den Eintrag vom 26.12.2023, wo eine Tätigkeitszeit von 24 Stunden angegeben wird), ist hinreichend erstellt, dass die Beschwerdeführerin mit ihren diversen Tätigkeiten täglich mehrere Stunden beschäftigt ist. Dies anerkennt auch der VBD in seiner Vernehmlassung (…). Zugunsten der Beschwerdeführerin ist davon auszugehen, dass die von ihr verfolgten Tätigkeiten das Mindestmass von 20 Wochenstunden erreichen bzw. überschreiten. Das Nettoeinkommen, welches die Beschwerdeführerin mit ihren Tätigkeiten erzielt, lässt sich nicht genau bestimmen. Die Beschwerdeführerin hat sowohl vor der Vorinstanz wie auch vor Kantonsgericht keine nachvollziehbare Aufstellung über ihre Einnahmen und Ausgaben aufgelegt. Aus den von der Beschwerdeführerin vor der Vorinstanz aufgelegten Bankunterlagen lässt sich eruieren, dass die Beschwerdeführerin aus ihren Tätigkeiten im Zeitraum von Anfang März 2019 bis Mitte März 2024 durchschnittliche monatliche Bruttoeinnahmen in Höhe von rund Fr. 500.-- erzielte. Im Zeitraum von Anfang März 2023 bis Mitte März 2024 erzielte sie überdies monatliche Bruttoeinnahmen in Höhe von rund EUR 170.-- (…). In den Steuererklärungen 2020 und 2021 deklarierte die Beschwerdeführerin ein Jahreseinkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit von Fr. 6'227.16 bzw. Fr. 4'688.--; in der Ermessensveranlagung für das Jahr 2022 berücksichtigte das Steueramt ein steuerbares jährliches Erwerbseinkommen von Fr. 1'000.-- (…). Der letzten Neuberechnung der Ergänzungsleistungen ist ein anrechenbares Jahreseinkommen von Fr. 800.-- zu entnehmen, welches unter dem jährlichen Freibetrag von Fr. 1'000.-- liegt (…). Der VBD geht in seinem Entscheid für den Zeitraum von Februar 2023 bis März 2024 von durchschnittlichen monatlichen Bruttoeinnahmen von rund Fr. 800.-- aus (…), was von der Beschwerdeführerin nicht in Frage gestellt wird. Sie anerkennt, dass sie keinen grossen Umsatz erzielt (…). Zu beachten ist, dass es sich bei den angegebenen Grössen um die Bruttoeinnahmen handelt, von denen zur Ermittlung des Gewinns – und damit des eigentlichen Einkommens der Beschwerdeführerin – noch die Auslagen abzuziehen sind. Die Beschwerdeführerin gesteht ein, dass sie aktuell keinen Gewinn erzielt (…). Ihre Auslagen sind mit anderen Worten höher als die Einnahmen. Die Beschwerdeführerin legt nicht substantiiert dar und es gibt keine Anhaltspunkte dafür, weshalb sich der finanzielle Erfolg ihrer Tätigkeiten in absehbarer Zukunft erheblich verbessern sollte. Die Beschwerdeführerin geht den hier interessierenden Tätigkeiten, die sie im Rahmen der Halbgefangenschaft weiterführen möchte, bereits seit bald fünf Jahren nach (…), ohne dass sich eine Verbesserung der Gewinnlage abzeichnen würde. Von einer Tätigkeit, die sich erst gerade im Aufbau befindet, kann zum heutigen Zeitpunkt nicht mehr gesprochen werden. Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass eine erhebliche Diskrepanz zwischen der von der Beschwerdeführerin für ihre Tätigkeiten aufgewendeten Zeit und dem wirtschaftlichen Erfolg besteht. Die Beschwerdeführerin ist seit bald fünf Jahren wöchentlich 20 oder mehr Stunden mit ihren Tätigkeiten beschäftigt und erzielt dabei keinen Gewinn, sondern schreibt gar einen Verlust. Damit fehlt es ihren Tätigkeiten am Gewinnstreben. Entsprechend sind die Tätigkeiten, wegen denen die Beschwerdeführerin um Halbgefangenschaft ersucht, als blosse Liebhabereien und nicht als selbständige Erwerbsarbeit zu qualifizieren. Für die Verfolgung von Liebhabereien steht die Halbgefangenschaft aber nicht offen. Entsprechende Tätigkeiten können weder unter den Begriff der Arbeit noch unter den Begriff der Beschäftigung im Sinne von Art. 77b Abs. 1 lit. b StGB subsumiert werden. Dass die Beschwerdeführerin sich in den Steuererklärungen 2020 und 2021 als selbständig erwerbstätig bezeichnete und ein daraus fliessendes geringfügiges Einkommen deklarierte (…), vermag daran nichts zu ändern, nachdem es sich dabei um eine reine Selbstdeklaration handelt, die zudem nicht ihren aktuellen Ausführungen fehlenden Gewinns entspricht. Zusammengefasst hat der VBD das Gesuch um Vollzug der Freiheitsstrafe in Form der Halbgefangenschaft zu Recht abgewiesen. Damit ist die gegen diesen Entscheid von der Beschwerdeführerin erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde abzuweisen. (...) |