Instanz: | Kantonsgericht |
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Abteilung: | 2. Abteilung |
Rechtsgebiet: | Strafprozessrecht |
Entscheiddatum: | 06.08.2024 |
Fallnummer: | 4P 24 10 |
LGVE: | 2024 II Nr. 2 |
Gesetzesartikel: | Art. 392 und Art. 410 StPO. |
Leitsatz: | Die Voraussetzungen für eine Ausdehnung eines gutheissenden Rechtsmittelentscheids nach Art. 392 StPO sind nicht erfüllt, wenn das Berufungsgericht eine Strafsache für Beweisergänzungen und allfällige erneute Anklageerhebung an die Staatsanwaltschaft zurückweist. Sollte die Staatsanwaltschaft das Verfahren einstellen oder dieses in einem Freispruch enden, stünde mitbeschuldigten Personen, welche auf die Berufung verzichteten, die Revision offen. |
Rechtskraft: | Dieser Entscheid ist noch nicht rechtskräftig. |
Entscheid: | Aus den Erwägungen: (...) 2. Prüfung der Ausdehnung des Beschlusses vom 10. Mai 2024 auf den Verurteilten 2.1. Rechtliche Grundlagen Ein gutheissender Rechtsmittelentscheid gilt an sich nur für beschuldigte Personen, die das betreffende Rechtsmittel ergriffen haben. Entsprechend zeitigt er auf im gleichen erstinstanzlichen Entscheid verurteilte mitbeschuldigte Personen, die auf ein Rechtsmittel verzichtet haben, keine unmittelbare Wirkung. Das Gesetz sieht jedoch in Art. 392 Abs. 1 der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO; SR 312.0) unter bestimmten Voraussetzungen vor, dass die Rechtsmittelinstanz ihren gutheissenden Rechtsmittelentscheid auf die mitbeschuldigten Personen ausdehnen kann. Grundvoraussetzung für die Anwendung von Art. 392 StPO ist, dass die beschuldigten Personen, die im Rechtsmittelverfahren obsiegten, und die beschuldigten Personen, auf welche der gutheissende Rechtsmittelentscheid ausgedehnt werden soll, im gleichen Verfahren beschuldigt bzw. verurteilt wurden (Art. 392 Abs. 1 Satz 1 StPO). Diese Voraussetzung ist sicherlich dann erfüllt, wenn die Vorwürfe gegen sämtliche beschuldigten Personen formell in derselben Anklageschrift erfolgt sind oder die Vorwürfe erstinstanzlich infolge Verfahrensvereinigung gemeinsam beurteilt wurden. Umstritten ist, ob das Erfordernis auch dann erfüllt sein kann, wenn die Anklagen nicht im formellen Sinn gemeinsam beurteilt wurden. Ein Teil der Lehre lehnt dies ab und auch die bundesgerichtliche Rechtsprechung deutet auf ein enges Verständnis hin (BGE 148 IV 265 E. 1.4.4; Hasani, Der Grundsatz der Verfahrenseinheit [Art. 29 StPO]: eine Determinante des fairen Strafprozesses, Diss. Luzern 2023, N 771-773; Jositsch/Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung − Praxiskommentar, 4. Aufl. 2023, Art. 392 StPO N 7). Ein anderer Teil der Lehre argumentiert, es müsse − um Zufälligkeiten und Umgehungen zu verhindern − ausreichen, wenn es sich um Beteiligte derselben Straftat handle, die im gleichen Zeitraum beim selben Gericht zur Anklage gebracht worden seien (Keller, Basler Komm., 3. Aufl. 2023, Art. 392 StPO N 3; Lieber, in: Donatsch et. al. [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Strafprozess Ordnung, 3. Aufl. 2020, Art. 392 StPO N 6). Neben der eben dargelegten Grundvoraussetzung setzt die Ausdehnung voraus, dass im gutheissenden Rechtsmittelentscheid der Sachverhalt abweichend von der Vorinstanz beurteilt wurde (Art. 392 Abs. 1 lit. a StPO). Gemäss bundesgerichtlicher Auslegung ist diese Voraussetzung dann erfüllt, wenn die Rechtsmittelinstanz den Sachverhalt anders feststellt als die Vorinstanz. Eine von der Vorinstanz abweichende rechtliche Qualifikation des festgestellten Sachverhalts genügt nicht (BGE 148 IV 148 E. 7.3). Die abweichende Sachverhaltsfeststellung muss dabei nicht notwendigerweise den objektiven Tatbestand betreffen; auch eine abweichende Sachverhaltsfeststellung hinsichtlich Prozessvoraussetzungen oder Verfahrenshindernisse kann zur Ausdehnung führen (BGE 148 IV 148 E. 7.1; Jositsch/Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung − Praxiskommentar, 4. Aufl. 2023, Art. 392 StPO N 4). Zudem ist eine Ausdehnung auch dann möglich, wenn die Rechtsmittelinstanz einen Verfahrensfehler feststellt, der sich seinerseits auf die Feststellung des Sachverhalts auswirkt (Lieber, in: Donatsch et. al. [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Strafprozess Ordnung, 3. Aufl. 2020, Art. 392 StPO N 4). Schliesslich setzt die Ausdehnung eines gutheissenden Rechtsmittelentscheids voraus, dass die Erwägungen der Rechtsmittelinstanz auch auf jene beschuldigten Personen zutreffen, auf die der Entscheid ausgedehnt werden soll. Die von der Vorinstanz abweichende Beurteilung muss entsprechend ein tatspezifisches Element erfassen und darf sich nicht bloss auf den täterspezifischen Sachverhalt (bspw. Gewichtung des persönlichen Verschuldens) beschränken (Lieber, a.a.O., Art. 392 StPO N 5; vgl. Keller, a.a.O., Art. 392 StPO N 2; Jositsch/Schmid, a.a.O., Art. 392 StPO N 6). 2.2. Würdigung 2.2.1. Vorab ist festzuhalten, dass der Verurteilte, der zwar Berufung anmeldete, anschliessend jedoch keine Berufungserklärung einreichte, bezüglich der Ausdehnung nach Art. 392 StPO gleich zu behandeln ist, wie eine beschuldigte Person, die von vornherein auf die Berufung verzichtete. Der Umstand, dass der Verurteilte ursprünglich Berufung anmeldete, hindert die Ausdehnung nach Art. 392 StPO mithin nicht. Gemäss der Praxis des Kantonsgerichts findet Art. 392 StPO auch in Fällen Anwendung, in denen eine beschuldigte Person zwar Berufung erklärt, diese jedoch auf den Sanktionspunkt beschränkt oder einzelne Schuldsprüche akzeptiert, während eine mitbeschuldigte Person eine umfassendere Berufung erhebt und einen Freispruch erwirkt (Urteil des Kantonsgerichts Luzern 4M 13 2 vom 24.6.2013 E. 3.6; vgl. auch Urteile des Kantonsgericht Luzern 4M 18 78 vom 8.3.2019 E. 4.3.4 f. und 4M 15 66 vom 18.10.2016 E. 1.3 und 4.2.3). Umso mehr muss dem Verurteilten, der nach erfolgte Berufungsanmeldung keine Berufung erklärte, eine Ausdehnung nach Art. 392 StPO offenstehen, sofern die weiteren Voraussetzungen erfüllt sind. Die Grundvoraussetzung für eine Ausdehnung, wonach die vorinstanzlichen Verurteilungen im gleichen Verfahren erfolgt sein müssen, ist vorliegend erfüllt. Das Kriminalgericht hat die Verfahren des Verurteilten und der Mitbeschuldigten, die im Vorverfahren noch getrennt geführt wurden, vereinigt und in ein und demselben Urteil abgehandelt (…). Die Erwägungen des Kantonsgerichts im Beschluss vom 10. Mai 2024, der im Berufungsverfahren gegen die Mitbeschuldigten erging, treffen zudem im Sinne von Art. 392 Abs. 1 lit. b StPO auch auf den Verurteilten zu. Der Beschluss des Kantonsgerichts befasst sich mit den Vortaten als objektives Tatbestandselement der Vorwürfe der Hehlerei und Geldwäscherei beim Fallkomplex "gestohlene Autos aus Italien", hinsichtlich welchen das Kriminalgericht die Mitbeschuldigten für schuldig befand. Konkret befasste sich das Kantonsgericht im Beschluss mit der Frage, ob die Vortaten genügend abgeklärt und angeklagt sind. Die Staatsanwaltschaft hat den entsprechenden Fallkomplex und die entsprechenden Tatvorwürfe auch gegen den Verurteilten angeklagt und er wurde vom Kriminalgericht diesbezüglich ebenfalls schuldig gesprochen. Damit lassen sich die Ausführungen des Kantonsgerichts im Beschluss vom 10. Mai 2024 analog auf die Anklagevorwürfe gegen den Verurteilten übertragen. Nach dem Gesagten sind die Grundvoraussetzung des gleichen Verfahrens und die Voraussetzung von Art. 392 Abs. 1 lit. b StPO, wonach die Erwägungen des gutheissenden Rechtsmittelentscheids auch für die anderen Beteiligten gelten müssen, erfüllt. Näher zu prüfen ist, ob das Kantonsgericht in seinem Beschluss vom 10. Mai 2024 den Sachverhalt im Sinne von Art. 392 Abs. 1 lit. a StPO anders als das Kriminalgericht beurteilte. 2.2.2. Der Verurteilte bringt vor, die Voraussetzung von Art. 392 Abs. 1 lit. a StPO sei namentlich erfüllt, wenn die Rechtsmittelinstanz im objektiven Tatbestand zu einer materiellrechtlich anderen Beurteilung komme. Vorliegend gelange das Kantonsgericht in seinem Beschluss zur Erkenntnis, dass die Vortaten als objektives Tatbestandselement der Hehlerei und der Geldwäscherei nicht ausreichend erstellt seien. Entsprechend liege eine von der Vorinstanz abweichende Beurteilung im objektiven Tatbestand vor. Sodann sei eine Ausdehnung auch als Folge eines im Rechtsmittelverfahrens festgestellten Verfahrensfehlers möglich, der sich seinerseits auf die Feststellung des Sachverhalts auswirke. Im Beschluss stelle das Kantonsgericht fest, dass die in der Anklage enthaltene Umschreibung der Vortaten dem Anklagegrundsatz nicht genüge. Es handle sich beim Anklagegrundsatz um eine fundamentale Prozessmaxime, durch deren Verletzung ein Verfahrensfehler begründet werde, der sich auf die Feststellung des Sachverhalts auswirke (…). 2.2.3. Wie bereits erwähnt, erachtet das Bundesgericht die Voraussetzung von Art. 392 Abs. 1 lit. a StPO lediglich dann als gegeben, wenn die Rechtsmittelinstanz den Sachverhalt abweichend von der Vorinstanz feststellt. Entsprechend stellt sich die Frage, ob das Kantonsgericht in seinem Beschluss vom 10. Mai 2024 vom Urteil des Kriminalgerichts abweichende sachverhaltliche Feststellungen traf. Dem ist nicht so. Das Kantonsgericht erwog in seinem Beschluss zusammengefasst, dass sich mangels hinreichender Untersuchung nicht feststellen lasse, ob es sich bei den Fahrzeugen, hinsichtlich denen den Mitbeschuldigten Hehlerei und Geldwäscherei vorgeworfen werde, um Diebstahlsgut handle. Mögliche anderweitige Vermögensdelikte wie Veruntreuung oder Versicherungsbetrug der ehemaligen Besitzer seien weder hinreichend angeklagt noch abgeklärt. Angesichts der unzureichenden Abklärungen sowie der mangelhaften Anklage wies das Kantonsgericht die Strafsache daher für Beweisergänzungen und eine allfällige erneute Anklageerhebung an die Staatsanwaltschaft zurück. Das Kantonsgericht hat in seinem Beschluss entsprechend keine sachverhaltlichen Feststellungen hinsichtlich der angeklagten Delikte getroffen. Im Gegenteil erwog es gerade, dass sich mangels hinreichender Untersuchungen der angeklagte Sachverhalt hinsichtlich der für Hehlerei und Geldwäscherei notwendigen Vortaten nicht beurteilen lasse. Damit ist die Voraussetzung von Art. 392 Abs. 1 lit. a StPO nicht erfüllt. 2.2.4. Auch aus historisch-teleologischer Sicht ist die Ausdehnung des Rückweisungsbeschlusses des Kantonsgerichts vom 10. Mai 2024 gestützt auf Art. 392 StPO abzulehnen. Der Gesetzgeber wollte der Rechtsmittelinstanz mit Art. 392 StPO die Möglichkeit einräumen, einem ins Auge fallenden Widerspruch zwischen zwei Strafentscheiden rasch abzuhelfen und so zu vermeiden, dass die verurteilte Person die Unvereinbarkeit in einem Revisionsverfahren geltend machen muss (BGE 149 IV 105 E. 2.2, 148 IV 148 E. 7.3.3). Art. 392 StPO ist damit eng mit dem Revisionsverfahren verwandt. Entsprechend stellt das Bundesgericht bei der Auslegung von Art. 392 StPO regelmässig auf die revisionsrechtliche Rechtslage ab. So hat das Bundesgericht zur Beantwortung der in der Lehre umstrittenen Frage, ob eine andere Beurteilung des Sachverhalts im Sinne von Art. 392 Abs. 1 lit. a StPO auch dann vorliege, wenn der Sachverhalt rechtlich anders gewürdigt werde, seine Rechtsprechung zum Revisionsrecht herangezogen und für massgebend erklärt (BGE 148 IV 148 E. 7.3.3 f.). Als sich die Frage stellte, ob ein Einstellungsbeschluss, der wegen Rückzugs eines Strafantrags erging, gestützt auf Art. 392 StPO auf im gleichen Zusammenhang rechtskräftig verurteilte Personen ausgedehnt werden kann, prüfte das Bundesgericht, ob in einem solchen Fall die Revision möglich wäre. Es verneinte dies und lehnte unter anderem deswegen die Ausdehnung nach Art. 392 StPO ab (BGE 149 IV 105 E. 3.3.2). Es zeigt sich, dass Art. 392 StPO und das Revisionsrecht möglichst parallel auszulegen sind. Entsprechend drängt es sich auf zu prüfen, ob der Verurteilte im vorliegenden Fall gestützt auf den Beschluss des Kantonsgerichts die Revision des ihn betreffenden Urteils hätte verlangen können. Als Revisionsgrund käme dabei die Bestimmung von Art. 410 Abs. 1 lit. b StPO in Frage. Art. 410 Abs. 1 lit. b StPO erlaubt die Revision, wenn ein Entscheid mit einem späteren Strafentscheid, der den gleichen Sachverhalt betrifft, in unverträglichem Widerspruch steht. Ein solch unverträglicher Widerspruch zwischen dem kantonsgerichtlichen Beschluss und dem kriminalgerichtlichen Urteil betreffend den Verurteilten ist nicht ersichtlich. Wie bereits dargelegt, hat das Kantonsgericht in seinem Beschluss keinen Befund über Schuld oder Unschuld der Mitbeschuldigten getroffen. Es hat die Strafsache lediglich für Beweisergänzungen und eine allfällige erneute Anklageerhebung an die Staatsanwaltschaft zurückgewiesen. Der Ausgang des Strafverfahrens betreffend die Mitbeschuldigten ist noch immer offen. Insbesondere ist es nach wie vor möglich, dass die Mitbeschuldigten erneut angeklagt und verurteilt werden. Damit begründet der Beschluss des Kantonsgerichts alleine noch keinen unverträglichen Widerspruch zum Urteil betreffend den Verurteilten. Ein unverträglicher Widerspruch entstünde erst dann und die Revision wäre zulässig, wenn das Verfahren betreffend die Mitbeschuldigten in Anklagepunkten, die auch den Verurteilten betreffen, eingestellt oder diese freigesprochen würden. Orientiert man sich bei der Auslegung an der vom Bundesgericht propagierten Parallelität von Art. 392 StPO und dem Revisionsrecht, ist es daher nicht angezeigt, den Beschluss auf den Verurteilten auszudehnen. 2.2.5. Gleiches gilt, wenn man auf die mit Art. 392 StPO beabsichtigte Prozessökonomie (Verhinderung unnötiger Verfahren) abstellt. Die Prozessökonomie gebietet es, mit einer allfälligen Aufhebung des Urteils des Verurteilten zuzuwarten, bis der Ausgang des Verfahrens betreffend die Mitbeschuldigten feststeht. So kann − für den Fall, dass erneut ein Schuldspruch für die Mitbeschuldigten erfolgen sollte − ein kosten- und zeitintensiver Leerlauf eines erneuten Vor- und Hauptverfahrens betreffend den Verurteilten vermieden werden. Dagegen wäre der prozessuale Aufwand eines Revisionsverfahrens für den Fall, dass im weiteren Verfahrenslauf betreffend die Mitbeschuldigten eine Einstellung oder ein Freispruch ergeht, überschaubar. 2.2.6. Zusammengefasst scheitert die Ausdehnung des kantonsgerichtlichen Beschlusses auf den Verurteilten an der Voraussetzung von Art. 392 Abs. 1 lit. a StPO. Das Kantonsgericht hat in seinem Beschluss keine sachverhaltlichen Feststellungen getroffen, sondern vielmehr festgestellt, dass der Sachverhalt mangels hinreichender Untersuchung nicht beurteilt werden kann. Entsprechend liegt dem Beschluss keine vom Kriminalgericht abweichende Feststellung des Sachverhalts zugrunde. Auch aus teleologischer und prozessökonomischer Sicht ist es nicht opportun, den Beschluss des Kantonsgerichts auf den Verurteilten auszudehnen und dessen Urteil aufzuheben. Vielmehr ist vorab der Ausgang des Verfahrens betreffend die Mitbeschuldigten abzuwarten. Dem Verurteilten steht es offen, ein Revisionsgesuch gestützt auf Art. 410 Abs. 1 lit. b StPO einzureichen, sollte das Strafverfahren betreffend die Mitbeschuldigten in Anklagepunkten, die auch ihn betreffen, in einer Einstellung oder einem Freispruch münden. (...) |