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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:3. Abteilung
Rechtsgebiet:Invalidenversicherung
Entscheiddatum:20.12.2023
Fallnummer:5V 20 18
LGVE:2024 III Nr. 10
Gesetzesartikel:Art. 25 Abs. 1 ATSG, Art. 25 Abs. 2 ATSG, Art. 53 Abs. 1 ATSG; Art. 97 Abs. 1 lit. b StGB, Art. 146 Abs. 1 StGB.
Leitsatz:Wird im Dispositiv einer Verfügung betreffend die rückwirkende Aufhebung einer Invalidenrente die Rückerstattungspflicht nicht erwähnt, handelt es sich bei der separat erlassenen Rückforderungsverfügung um eine eigenständige Verfügung, die gesondert angefochten werden muss. Es liegt keine lediglich akzessorische Berechnungsverfügung vor (E. 2). Relative und absolute Verjährungsfrist (E. 4 f.).
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:
Sachverhalt

A.
a)
Der 1957 geborene A.________ meldete sich am 23. März 2006 unter Hinweis auf einen Rückenschaden und eine psychische Belastung bei der Invalidenversicherung (IV) zum Leistungsbezug an. Nach verschiedenen Abklärungen sprach ihm die IV Luzern (IV-Stelle) mit Verfügung vom 6. Juni 2007 eine ganze Rente ab 1. Dezember 2006 zu. Im Zug eines von Amtes wegen eingeleiteten Revisionsverfahrens im Jahr 2008 ordnete die IV-Stelle eine Begutachtung bei der B.________ GmbH an; die entsprechende Expertise wurde am 31. August 2009 erstattet. Mit Vorbescheid vom 1. Oktober 2009 stellte die Verwaltung die Aufhebung der Invalidenrente in Aussicht, da der Invaliditätsgrad nur noch 37 % betrage. Dagegen erhob A.________ Einwand. Die IV-Stelle führte daraufhin eine Berufsberatung durch und veranlasste ein Arbeitstraining bei der Stiftung C.________ vom 18. Mai bis 31. August 2010. Am 1. September 2010 trat A.________ eine Vollzeitstelle als Hilfsbauführer bei der D.________ AG an. Mit Verfügung vom 3. Dezember 2010 hob die IV-Stelle die Invalidenrente auf das Ende des der Verfügungszustellung folgenden Monats auf. Diese Verfügung blieb unangefochten.

b)
Am 1. Juni 2015 meldete sich A.________ wegen seit einem Unfall vom 9. Oktober 2014 bestehender Beschwerden an der rechten Hand, an Arm und Nacken erneut bei der IV zum Leistungsbezug an. Im Rahmen der Prüfung dieses Leistungsgesuchs führte die IV-Stelle auch eine "Abklärung Komplexfälle" durch. Im IV-Protokolleintrag vom 20. August 2018 hielt die "Fachperson Komplexfälle" als Abklärungsergebnis fest, A.________ habe sich wegen eines im Oktober 2014 erlittenen Unfalls erneut bei der IV zum Leistungsbezug angemeldet. Aufgrund der Einträge im individuellen Konto (IK) habe die IV-Stelle erkannt, dass in den Jahren 2006 bis 2009 ein erhebliches Einkommen erzielt worden sei. Das sei der IV-Stelle verschwiegen worden. In der Folge hob die IV-Stelle – nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens – mit Verfügung vom 11. Dezember 2018 die vom 1. Dezember 2006 bis 31. Januar 2011 zugesprochene ganze Rente im Rahmen einer prozessualen Revision auf und kündigte die Rückforderung der zu Unrecht bezogenen Leistungen mit separater Verfügung an. Dagegen erhob A.________ Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Kantonsgericht wies die Beschwerde – nach vorübergehender Verfahrensvereinigung und -sistierung (vgl. dazu Urteil des Kantonsgerichts Luzern 5V 19 32 vom 18.5.2023 Sachverhalt lit. F, G und H) sowie Einholung der Strafakten betreffend A.________ – mit Urteil 5V 19 32 vom 18. Mai 2023 ab. Dieses Urteil blieb unangefochten.

c)
Mit Verfügung vom 28. November 2019 forderte die IV-Stelle die von 1. Dezember 2006 bis 31. Januar 2011 ausgerichteten Rentenleistungen im Gesamtbetrag von Fr. 92'134.-- zurück.

(…)

D.
Am 21. November 2023 teilte das Kantonsgericht den Parteien den erfolgten Beizug der Akten des Verfahrens 5V 19 32 mit.

Aus den Erwägungen:

1.
Vorab gilt es Folgendes zu bemerken:

1.1.
1.1.1.
Das Kantonsgericht hat im Verfahren 5V 19 32 am 18. Mai 2023 sein Urteil gefällt. Anfechtungsobjekt des Verfahrens 5V 19 32 war die Verfügung der IV-Stelle vom 11. Dezember 2018. Mit dieser Verfügung entschied die IV-Stelle ausdrücklich über die rückwirkende Aufhebung (resp. Einstellung) der Invalidenrente des Beschwerdeführers. So lautet der Titel der Verfügung "Einstellung der Invalidenrente". Unter "Wir verfügen" wurde – im Sinn eines Dispositivs – sodann festgehalten: "Die Ihnen mit Verfügung vom 6. Juni 2007 vom 1. Dezember 2006 bis 31. Januar 2011 zugesprochene ganze Rente wird rückwirkend aufgehoben".

Über die Rückerstattungspflicht der entsprechenden Rentenbetreffnisse für die Zeit vom 1. Dezember 2006 bis 31. Januar 2011 wurde unter "Wir verfügen" hingegen nichts festgestellt. Die Rückerstattungspflicht bildete somit nicht Gegenstand des Dispositivs. Daran ändert nichts, dass in der Verfügungsbegründung die Rückforderung der zu Unrecht ausgerichteten Rentenleistungen gestützt auf Art. 25 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1) angekündigt wurde ("werden zurückgefordert"). Vielmehr ist hervorzuheben, dass in der Verfügung vom 11. Dezember 2018 erwähnt wurde, die entsprechende Rückforderungsverfügung über den genauen Rückforderungsbetrag werde separat erlassen. Dieser Hinweis ist unter Berücksichtigung der Angaben unter "Wir verfügen" nicht anders zu verstehen, als dass bezüglich der Rückforderung per se auf den Erlass einer separaten Verfügung verwiesen wurde.

In der Verfügung vom 28. November 2019 wurde denn auch ausdrücklich festgehalten, mit der Verfügung vom 11. Dezember 2018 sei die rückwirkende Aufhebung der Invalidenrente mitgeteilt worden. Dass die Verfügung vom 11. Dezember 2018 auch die Rückforderung selber enthalten haben soll, lässt sich der Verfügung vom 28. November 2019 hingegen nicht entnehmen. Vielmehr wurde in dieser jüngeren Verfügung ausdrücklich festgehalten, die in der fraglichen Periode ausgerichteten Invalidenrenten müssten zurückgefordert werden, wobei sich die Rückerstattungsforderung auf Fr. 92'134.-- belaufe.

1.1.2.
Aufgrund dessen prüfte das Kantonsgericht im Verfahren 5V 19 32 denn auch ausschliesslich die Rechtmässigkeit der rückwirkenden Aufhebung der rentenzusprechenden Verfügung vom 6. Juni 2007 gestützt auf Art. 53 Abs. 1 ATSG, nicht aber die Rückerstattungspflicht des Beschwerdeführers.

1.2.
Gestützt auf das rechtskräftige Urteil des Kantonsgerichts Luzern 5V 19 32 vom 18. Mai 2023 steht nunmehr fest, dass die prozessuale Revision der Verfügung vom 6. Juni 2007 zu Recht erfolgt ist. Mithin entfällt die Grundlage für die ausgerichteten Rentenleistungen und diese werden im entsprechenden Umfang zu unrechtmässig bezogenen Leistungen.

2.
Anfechtungsobjekt im vorliegenden Beschwerdeverfahren bildet die Rückforderungsverfügung vom 28. November 2019 über einen Betrag von Fr. 92'134.-- (Summe der für den Zeitraum vom 1.12.2006 bis 31.1.2011 ausbezahlten Rentenbeträge). An dieser Stelle sei angemerkt, dass der Beschwerdeführer – auch mit Blick auf LGVE 2010 II Nr. 30 – unter den gegebenen Umständen zur gesonderten Anfechtung dieser Verfügung gehalten war. Dass die rückwirkende Aufhebung der Invalidenrente zu einer Rückforderung führt, wurde, wie in E. 1.1.1 aufgezeigt, erst mit Verfügung vom 28. November 2019 entschieden. Diese nennt den genauen Rückforderungszeitraum und beziffert den Rückforderungsbetrag konkret auf Fr. 92'134.--. Insofern handelt es sich bei der Rückforderungsverfügung – entgegen der IV-Stelle – denn auch nicht nur um eine akzessorische Berechnungsverfügung; und zwar schon deshalb nicht, weil bis anhin nicht geprüft wurde, ob die IV-Stelle die Verwirkungsfristen für die Rückforderung eingehalten hat (vgl. dazu nachfolgende E. 3.2). Dieser Punkt betrifft die Rechtmässigkeit der Rückforderungsverfügung vom 28. November 2019, weshalb entgegen dem Antrag der IV-Stelle auf die Beschwerde einzutreten ist.

3.
3.1.
Unrechtmässig bezogene Leistungen sind zurückzuerstatten (Art. 25 Abs. 1 Satz 1 ATSG in der bis 31.12.2020 in Kraft gestandenen, hier massgebenden Fassung). Der Rückforderungsanspruch erlischt mit dem Ablauf eines Jahres, nachdem die Versicherungseinrichtung davon Kenntnis erhalten hat, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Jahren nach der Entrichtung der einzelnen Leistung. Wird der Rückerstattungsanspruch aus einer strafbaren Handlung hergeleitet, für welche das Strafrecht eine längere Verjährungsfrist vorsieht, so ist diese Frist massgebend (Art. 25 Abs. 2 ATSG in der bis 31.12.2020 in Kraft gestandenen, hier massgebenden Fassung). Im Fall einer strafbaren Handlung ist auf die Verfolgungsverjährung abzustellen; diese erstreckt sich bei Betrug auf 15 Jahre (Art. 146 i.V.m. Art. 97 Abs. 1 lit. b des Schweizerischen Strafgesetzbuchs [StGB; SR 311.0]; BGer-Urteil 9C_720/2020 vom 5.2.2021 E. 1 mit Hinweisen). Die Frist beginnt mit der Begehung der Tat (BGer-Urteil 9C_321/2020 vom 2.7.2021, in BGE 147 V 417 nicht publizierte E. 4.2.1).

3.2.
Bei den Fristen nach Art. 25 Abs. 2 ATSG handelt es sich um von Amtes wegen zu berücksichtigende Verwirkungsfristen. Als solche können sie nicht unterbrochen, sondern nur gewahrt werden (BGer-Urteil 8C_843/2018 vom 22.1.2019 E. 3.2 mit Hinweisen).

4.
Streitgegenstand bildet die Rückforderung der in der Zeit vom 1. Dezember 2006 bis 31. Januar 2011 zu Unrecht bezogenen Rentenleistungen. Zu prüfen ist dabei einzig, ob die Verwirkungsfristen bei der Rückforderung eingehalten wurden (vgl. E. 3.2). Die Berechnung des Rückforderungsbetrags wird vom Beschwerdeführer nicht beanstandet.

5.
5.1.
Durch den Erlass der Rückforderungsverfügung am 28. November 2019 wahrte die IV-Stelle die einjährige relative Verwirkungsfrist gemäss Art. 25 Abs. 2 ATSG. Es ist darauf hinzuweisen, dass das Bundesgericht im Zusammenhang mit der Rückforderung infolge einer Rentenaufhebung in der Regel die Rechtskraft der Rentenaufhebung als fristauslösendes Moment für den Beginn der relativen einjährigen Verwirkungsfrist betrachtet. Die Verwaltung kann jedoch bereits ab jenem Tag verfügen, an dem alle im konkreten Einzelfall erheblichen Umstände zugänglich sind, aus deren Kenntnis sich der Rückforderungsanspruch dem Grundsatz nach und in seinem Ausmass gegenüber einer bestimmten rückerstattungspflichtigen Person ergibt (vgl. BGer-Urteil 8C_843/2018 vom 22.1.2019 E. 3.3 mit Hinweisen).

Wie bereits gesagt, ist mit dem Urteil des Kantonsgerichts Luzern 5V 19 32 vom 18. Mai 2023 rechtskräftig entschieden worden, dass die fraglichen Rentenleistungen zu Unrecht erfolgt sind.

5.2.
Hinsichtlich der absoluten Verwirkungsfrist gemäss Art. 25 Abs. 2 ATSG ist im hier zu beurteilenden Fall die strafrechtliche Verjährungsfrist von 15 Jahren anwendbar (E. 3.1). Der Beschwerdeführer wurde mit rechtskräftigem Urteil des Kriminalgerichts des Kantons Luzern vom 17. Mai 2022 im Zusammenhang mit dem hier zur Diskussion stehenden Rentenbezug wegen Betrugs nach Art. 146 Abs. 1 StGB schuldig gesprochen. Da der Straftatbestand des Betrugs allerdings erst ab 14. Juli 2008 erfüllt ist (vgl. dazu Urteil des Kantonsgerichts Luzern 5V 19 32 vom 18.5.2023 E. 1.1 und 5.3.4), ist die Rückforderung erst ab diesem Datum zu schützen (vgl. hierzu auch BGer-Urteil 9C_444/2021, 9C_496/2021 vom 13.1.2022 E. 3.2). Die Rentenbetreffnisse, die vor dem 14. Juli 2008 ausgerichtet wurden, können hingegen nicht mehr zurückgefordert werden, da diesbezüglich die absolute Frist nach Art. 25 Abs. 2 Satz 1 ATSG gilt und somit der Rückerstattungsanspruch verwirkt ist.

(…)