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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:1. Abteilung
Rechtsgebiet:OR (Obligationenrecht)
Entscheiddatum:25.06.2024
Fallnummer:1B 23 64
LGVE:2024 I Nr. 4
Gesetzesartikel:Art. 731b OR.
Leitsatz:Organisationsmangel der Gesellschaft als Voraussetzung für die Einsetzung eines Sachwalters. Ein Organisationsmangel im Sinne von Art. 731b Abs. 1 OR liegt nicht zwangsläufig vor, wenn das Eigentum an einem gewissen Aktienanteil umstritten oder unklar ist.
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:Sachverhalt (Zusammenfassung):

Aktionär A (Gesuchsteller) verlangte die Einsetzung eines Sachwalters für die Aktiengesellschaft B (Gesuchsgegnerin). Grundlegender Streitpunkt in der Auseinandersetzung der Parteien sind die Eigentumsverhältnisse an den Aktien der Gesuchsgegnerin.


Aus den Erwägungen:

7.1.
Mit Art. 731b des Obligationenrechts (OR; SR 220), der gesetzlichen Grundlage für die richterliche Kompetenz, auf Antrag eines Aktionärs oder eines Gläubigers bei einem aktienrechtlichen Organisationsmangel zu intervenieren, hat der Gesetzgeber eine einheitliche Ordnung für die Behebung und Sanktionierung organisatorischer Mängel innerhalb einer Gesellschaft geschaffen. Die Bestimmung erfasst diejenigen Fälle, in denen eine zwingende gesetzliche Vorgabe hinsichtlich der Organisation der Gesellschaft nicht oder nicht mehr eingehalten wird. Sie bezieht sich sowohl auf das Fehlen als auch auf die nicht rechtsgenügende Zusammensetzung obligatorischer Gesellschaftsorgane (BGE 138 III 294 E. 3.1.2, 136 III 369 E. 11.4.1; BGer-Urteile 4A_412/2020 vom 16.9.2020 E. 4.3.4, 4A_589/2017 vom 9.2.2018 E. 2.1). Organe einer Aktiengesellschaft sind die Generalversammlung, der Verwaltungsrat und, sofern kein Opting-out beschlossen wurde, die Revisionsstelle (Art. 698 ff. OR).

Grundlegender Streitpunkt in der Auseinandersetzung der Parteien sind die Eigentumsverhältnisse an den Aktien der Gesuchsgegnerin. Diese Frage ist Gegenstand des vor Bezirksgericht hängigen Hauptverfahrens (Klage des Gesuchsgegners auf Wiedereintragung als Aktionär der strittigen 25 %-Beteiligung ins Aktienbuch der Gesuchsgegnerin).

Für das vorliegende Verfahren betreffend die Frage nach der Einsetzung eines Sachwalters stellt sich die grundlegende Frage, ob strittige oder unklare Eigentumsverhältnisse an einer juristischen Person einen Organisationsmangel im Sinne von Art. 731b OR darstellen.

7.2.
Anträge nach Art. 731b OR werden im summarischen Verfahren behandelt. Namentlich aufgrund der Beweismittelbeschränkung des summarischen Verfahrens ist diese Verfahrensart in der Regel ungeeignet, kompliziertere materiellrechtliche Beurteilungen bei unklaren oder umstrittenen Eigentumsverhältnissen an Aktien zu treffen (vgl. BGE 142 III 321 E. 4.4.1, wonach das summarische Verfahren ungeeignet ist, um materiellrechtliche Verpflichtungen zu klären). Dieser Aspekt spricht grundsätzlich dagegen, unklare oder umstrittene Eigentumsverhältnisse an den Aktien einer Gesellschaft als Organisationsmangel im Sinne von Art. 731b OR zu qualifizieren.

7.3.
Weiter ist zu bedenken, dass unklare oder umstrittene Eigentumsverhältnisse an Aktien durch Rechtsbehelfe im ordentlichen Verfahren geklärt werden können (vgl. dazu das vor Bezirksgericht hängige Hauptverfahren). Art. 731b OR zielt einzig auf Fälle, in denen eine zwingende gesetzliche Vorgabe hinsichtlich der Organisation der Gesellschaft nicht oder nicht mehr eingehalten wird, und bezweckt die Wiederherstellung des gesetzmässigen Zustands (vgl. auch BGer-Urteil 4A_412/2020 vom 16.9.2020 E. 4.3.4, wonach auch etwa fachliche Unfähigkeiten oder missliebige Handlungen des Verwaltungsrats keinen Organisationsmangel begründen; auch ihnen kann nicht durch eine richterliche Intervention mittels Art. 731b OR begegnet werden, sondern auch dafür stehen andere Rechtsbehelfe zur Verfügung).

7.4.
Schliesslich ist festzuhalten, dass die Aktiengesellschaft als Rechtssubjekt mit eigener Rechtspersönlichkeit Trägerin von Rechten und Pflichten ist und am Rechtsverkehr teilnimmt. Entsprechend steht sie nicht nur in einem "internen" Rechtsverhältnis zu ihren Aktionären und ihren Exekutivorganen, sondern auch in "externen" Rechtsbeziehungen zu unterschiedlichen Rechtssubjekten, etwa zu Angestellten oder zu Vertragspartnern. Zentral ist in diesem Kontext die Rolle der Gesellschaftsorgane, denn ohne solche Organe kann eine Aktiengesellschaft weder ihren Willen bilden noch diesen in Form von Rechtshandlungen manifestieren. Im Lichte der Zielsetzung, das interne und externe Funktionieren von Aktiengesellschaften sicherzustellen, liegt der Sinn und Zweck von Art. 731b OR darin, die ordnungsgemässe Handlungsfähigkeit der gesetzlich vorgesehenen Organe (Generalversammlung, Verwaltungsrat, Revisionsstelle) sicherzustellen. Entscheidend ist, ob unklare oder umstrittene Eigentumsverhältnisse an den Aktien einer Gesellschaft einen Schweregrad erreichen, der die Funktions- und Handlungsfähigkeit der Generalversammlung im Ergebnis eliminiert.

Ein Organisationsmangel im Sinne von Art. 731b Abs. 1 OR liegt etwa dann nicht zwangsläufig vor, wenn das Eigentum an einem gewissen Aktienanteil umstritten oder unklar ist. Dieser Umstand hat nicht per se zur Folge, dass die Gesellschaft überhaupt keine beschlussfähigen Generalversammlungen mehr durchführen könnte. Demgegenüber ist von einem relevanten Organisationsmangel auszugehen, wenn etwa überhaupt kein Aktionär mehr eruierbar und damit keine Generalversammlung mehr durchführbar ist, wenn in einer Zwei-Personen-AG eine Generalversammlung aufgrund einer 50:50-Blockade permanent beschlussunfähig ist (vgl. dazu BGE 138 III 294 E. 3.3.3) oder wenn die Beschlussunfähigkeit der Generalversammlung zu einem formellen Organisationsmangel etwa dergestalt führt, dass aufgrund einer Pattsituation unter den Aktionären kein Verwaltungsrat gewählt werden kann (vgl. dazu BGE 140 III 349 E. 2.1). In solchen Fällen der kompletten Beschlussunfähigkeit der Generalversammlung fehlt einer Aktiengesellschaft ein zentrales Organ, was zu ihrer Funktions- und Handlungsunfähigkeit führt und die auf Art. 731b Abs. 1 OR gestützte Intervention des Richters erforderlich macht (ausführlich zum Ganzen Philipp Haberbeck, Unklares Eigentum an Aktien als Organisationsmangel?, in: Jusletter 19.8.2019, mit zahlreichen Hinweisen; vgl. auch Urteil Kantonsgericht Zug ES 2016 550 vom 24.4.2017 E. 4.1 ff.).

Vorliegend kann, entgegen der Auffassung des Gesuchstellers, nicht gesagt werden, dass die umstrittenen Eigentumsverhältnisse am 25 %-Anteil der Aktien der Gesuchsgegnerin einen Schweregrad erreicht, der im Ergebnis die Funktions- und Handlungsfähigkeit der Gesuchsgegnerin eliminiert.

7.5.
Vor diesem Hintergrund kam die Vorinstanz zu Recht zum Schluss, dass das vom Gesuchsteller angehobene Summarverfahren den falschen Weg darstellt, um die von ihm geltend gemachten Ansprüche vor Gericht durchzusetzen. Sie hat die Bestimmungen des OR über die Einsetzung eines Sachwalters nicht falsch angewendet und das Gesuch um Einsetzung eines solchen im Ergebnis zu Recht abgewiesen.