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Rechtsprechung Luzern


Instanz:Kantonsgericht
Abteilung:3. Abteilung
Rechtsgebiet:Invalidenversicherung
Entscheiddatum:18.07.2025
Fallnummer:5V 24 328
LGVE:2025 III Nr. 6
Gesetzesartikel:Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Art. 29 BV; Art. 36 Abs. 1 ATSG, Art. 43 Abs. 1bis ATSG, Art. 44 Abs. 1 ATSG, Art. 44 Abs. 2 ATSG, Art. 44 Abs. 4 ATSG, Art. 44 Abs. 5 ATSG.
Leitsatz:Die IV-Stelle kann auch nach Inkrafttreten der WEIV per 1. Januar 2022 nicht endgültig entscheiden, ob ein externes medizinisches Gutachten erstellt wird. Eine entsprechende abschliessende Entscheidkompetenz lässt sich weder mit dem Wortlaut noch mit dem Sinn und Zweck der massgebenden Bestimmungen vereinbaren. Der Verwaltungsweisung, wonach bei fehlender Zustimmung der betroffenen Person diesbezüglich keine Verfügung zu erlassen sei (KSVI Rz. 3067.1), ist die Anwendung zu versagen (E. 4).



Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Entscheid:
Sachverhalt (zusammengefasst)

A.________ meldete sich bei der IV-Stelle für eine berufliche Integration und eine Rente an. Die IV-Stelle tätigte medizinische und erwerbliche Abklärungen und lud A.________ im Rahmen der gewährten Frühinterventionsmassnahmen (in Form von Arbeitsplatzerhalt) zu einem Gespräch ein. Daraufhin schloss die IV-Stelle die Frühintervention ab und nahm die weitere Leistungsprüfung anhand. Die Verwaltung orientierte A.________, es sei eine neurologische Begutachtung mit einer neuropsychologischen Zusatzuntersuchung notwendig. Weil die Versicherte mit der vorgesehenen Begutachtung nicht einverstanden war, ersuchte sie um den Erlass einer anfechtbaren Verfügung, worauf die IV-Stelle verfügungsweise an der beabsichtigten medizinischen Abklärung festhielt. Gegen diesen Entscheid wandte sich A.________ ans Kantonsgericht.

Aus den Erwägungen:


3.
Die IV-Stelle verfügte am 25. September 2024 die neurologische Begutachtung durch Prof. Dr. med. D.________, mit einer neuropsychologischen Zusatzuntersuchung durch lic. phil. E.________.

In einem ersten Schritt ist zu klären, ob die ab 1. Januar 2022 geltende Rechtslage den Erlass einer anfechtbaren Verfügung betreffend die Anordnung einer Administrativbegutachtung überhaupt noch vorsieht.

4.
4.1.
Erachtet der Versicherungsträger im Rahmen von medizinischen Abklärungen ein Gutachten als notwendig, so legt er je nach Erfordernis gemäss Art. 44 Abs. 1 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1) eine der folgenden Arten fest:

a. monodisziplinäres Gutachten;
b. bidisziplinäres Gutachten;
c. polydisziplinäres Gutachten.

Muss der Versicherungsträger zur Abklärung des Sachverhalts ein Gutachten bei einem oder mehreren unabhängigen Sachverständigen einholen, so gibt er der Partei deren Namen bekannt. Diese kann innert zehn Tagen aus den Gründen nach Art. 36 Abs. 1 ATSG Sachverständige ablehnen und Gegenvorschläge machen (Abs. 2). Gemäss Art. 36 Abs. 1 ATSG treten Personen, die Entscheidungen über Rechte und Pflichten zu treffen oder vorzubereiten haben, in Ausstand, wenn sie in der Sache ein persönliches Interesse haben oder aus anderen Gründen in der Sache befangen sein könnten.

Hält der Versicherungsträger trotz Ablehnungsantrag an den vorgesehenen Sachverständigen fest, so teilt er dies der Partei durch Zwischenverfügung mit (Abs. 4).

Bei Gutachten nach Abs. 1 lit. a und b werden die Fachdisziplinen vom Versicherungsträger, bei Gutachten nach Abs. 1 lit. c von der Gutachterstelle abschliessend festgelegt (Abs. 5).

4.2.
Laut Kreisschreiben über das Verfahren in der Invalidenversicherung (KSVI; Stand 1.1.2024) entscheidet die IV-Stelle "abschliessend", ob und in welcher Form (mono-, bi- oder polydisziplinär) ein externes medizinisches Gutachten erstellt wird (Art. 43 Abs. 1bis und 44 Abs. 5 ATSG). Bestreitet die versicherte Person diesen Entscheid, so ist keine Zwischenverfügung zu erlassen (Rz. 3067.1).

Verwaltungsweisungen sind für das Gericht grundsätzlich nicht verbindlich. Dieses soll sie bei seiner Entscheidung aber berücksichtigen, sofern sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen. Das Gericht weicht also nicht ohne triftigen Grund von Verwaltungsweisungen ab, wenn diese eine überzeugende Konkretisierung der rechtlichen Vorgaben darstellen. Insofern wird dem Bestreben der Verwaltung, durch interne Weisungen eine rechtsgleiche Gesetzesanwendung zu gewährleisten, Rechnung getragen (BGE 146 V 224 E. 4.4.2 mit Hinweis).

4.3.
4.3.1.
Das Kantonsgericht Luzern hat sich mit Urteil 5V 23 229 vom 27. Februar 2024 (LGVE 2024 III Nr. 5) bereits eingehend damit befasst, ob sich aus Art. 43 Abs. 1bis und Art. 44 Abs. 1 und 5 ATSG eine abschliessende Entscheidungskompetenz der IV-Stelle in Bezug auf die Wahl der Gutachtensart (mono-, bi- oder polydisziplinär) ableiten lässt. Es hat dargelegt, dass die Verwaltung auch nach Inkrafttreten der WEIV per 1. Januar 2022 über die Art des anzuordnenden Gutachtens nicht endgültig entscheiden könne. Entsprechend hat es der Verwaltungsweisung, wonach bei fehlender Zustimmung der betroffenen Person diesbezüglich keine Verfügung zu erlassen sei (KSVI Rz. 3067.1, vgl. E. 4.2), die Anwendung versagt. Aus denselben Gründen kann für die Frage, ob überhaupt ein Administrativgutachten anzuordnen ist, nichts anderes gelten. Es ist auf das bereits mit LGVE 2024 III Nr. 5 Erwogene (insbesondere E. 2.3.1) zu verweisen.

4.3.2.
Anzufügen ist das Folgende:

Gemäss Botschaft zu Art. 43 Abs. 1bis ATSG entscheidet der Versicherer über die erforderlichen Abklärungsmassnahmen. Damit die IV die notwendigen und massgebenden Abklärungen möglichst rasch und ohne Verzögerung anordnen kann, soll ihr die ausschliessliche Entscheidkompetenz zukommen. Dadurch soll verhindert werden, dass sich das Verfahren in die Länge zieht. Es wird jedoch auch darauf hingewiesen, dass der versicherten Person mit der Gewährung des rechtlichen Gehörs und den Beschwerdemöglichkeiten genügend Mittel zur Verfügung ständen, um gegen den von der IV getroffenen Entscheid vorzugehen (BBl 2017 2682). Unter Berücksichtigung dessen und vor dem Hintergrund des bereits mit LGVE 2024 III Nr. 5 Gesagten ist insgesamt nicht davon auszugehen, dass die Partizipationsrechte der versicherten Personen eingeschränkt werden sollten. Zudem wird nochmals betont, dass aufgrund des Rechts der versicherten Person auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Ziff. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK; SR 0.101) sowie Art. 29 der Bundesverfassung (BV; SR 101) auch unter dem neuen Recht die vorgängige Überprüfung der angeordneten Begutachtung zu bestätigen ist (LGVE 2024 III Nr. 5 E. 2.3.1, am Ende).

Zusammenfassend ist im Sinn einer Weiterführung von LGVE 2024 III Nr. 5 festzuhalten, dass der Gesetzgeber mit der Neufassung von Art. 44 und Art. 43 Abs. 1bis ATSG auch nicht im Zusammenhang mit der Anordnung von Administrativgutachten von der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichts zu den Mitwirkungsrechten der versicherten Person (BGE 137 V 210, 138 V 271, 139 V 349 und 140 V 507) abweichen wollte (in diesem Sinn vgl. auch: Loher/Aliotta, Basler Komm., 2. Aufl. 2025, Art. 44 ATSG N. 64 ff.; Entscheid IV 2024/198 des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 21.5.2025; Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich IV.2022.00385 vom 2.3.2023 und Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Basel-Stadt IV.2022.41 vom 29.11.2022). Damit entspricht die für das Gericht nicht verbindliche Verwaltungsweisung, soweit sie auch die Gutachtensanordnung als solche der Entscheidung des Versicherungsträgers zuweist und den Erlass einer anfechtbaren Zwischenverfügung ausschliesst, nicht dem Sinn und Zweck von Art. 44 ATSG.

Die IV-Stelle verfügte daher zu Recht über das Festhalten an der Begutachtung.