Drucken

Rechtsprechung Luzern


Instanz:Regierungsrat
Abteilung:-
Rechtsgebiet:Volksrechte
Entscheiddatum:27.01.2004
Fallnummer:RRE Nr. 97
LGVE:2004 III Nr. 10
Leitsatz:Artikel 5 Absatz 3 und 34 Absatz 2 BV; §§ 24 Absatz 1f und 165 Absatz 2b StRG. Die Abstimmungserläuterungen müssen sachlich, objektiv und vollständig sein. Dies gilt auch für die Erläuterungen, die den Stimmberechtigten vor einer Gemeindeversammlung zugestellt werden. Beim Verzicht auf Abstimmungserläuterungen vor einer Gemeindeversammlung braucht keine Verfassungsverletzung vorzuliegen. Das Stimmrechtsgesetz schreibt nicht vor, dass den Stimmberechtigten vor einer Gemeindeversammlung Abstimmungserläuterungen zuzustellen sind. Die Gemeindeversammlung stellt bei Abstimmungen, die im Versammlungsverfahren durchgeführt werden, einen Teil des Meinungsbildungsprozesses dar, indem die Gemeindebehörde über die anstehenden Geschäfte informiert, die Stimmberechtigten Fragen stellen können und die Gemeindebehörde im Verlauf der Diskussion auf Verlangen weitere Auskünfte erteilt. - Bei der Feststellung von Mängeln im Bereich der politischen Rechte wird ein sofortiges und unmissverständliches Handeln gefordert. Allfällige Fragen sind vor der Abstimmung an der Gemeindeversammlung zu stellen. Wer dies unterlässt, verwirkt das Recht auf Anfechtung der Abstimmung. - Der Stimmenunterschied kann auch bei schweren Verfahrensfehlern und Unregelmässigkeiten ein Kriterium bei der Beurteilung der Frage sein, ob ein Abstimmungsergebnis aufzuheben ist oder nicht.
Rechtskraft:Diese Entscheidung ist rechtskräftig.
Entscheid:Am 28. April 2003 beschloss die Gemeindeversammlung in A, einer Genossenschaft an die Erstellung eines Bauwerks einen Beitrag zu leisten. Die Beschwerdeführer erhoben am 5. Mai 2003 Stimmrechtsbeschwerde und beantragten, der Beschluss der Stimmberechtigten über den Sonderkredit sei aufzuheben. Zur Begründung führten sie aus, die Vorinstanz habe die Pflicht zur vollständigen und objektiven Information gravierend verletzt. Sie habe die Pflicht verletzt, sachgerecht, korrekt, genau und grundsätzlich umfassend über die Vorlage zu informieren. Der Beschluss sei nur deshalb zustande gekommen, weil der Gemeinderat die Stimmberechtigten ungenügend, irreführend und falsch informiert habe. Der Gemeinderat hätte über die grossen Baukostenrisiken, die bisherigen Kosten sowie die zu erwartenden Betriebskosten des Bauwerks informieren müssen. Die Beschwerdeführer hätten die fehlende Information an der Gemeindeversammlung ausdrücklich bemängelt und eine Verschiebung der Versammlung beantragt. Diese Verschiebung sei jedoch abgelehnt worden. - Die Vorinstanz führt an, der Informationspflicht sei Genüge getan worden. Die Beschwerdeführer hätten mit der Abstimmungsbotschaft und anlässlich der Gemeindeversammlung vom Gemeinderat alle für die Meinungsbildung notwendigen Informationen erhalten.

5.1. Die Garantie der politischen Rechte schützt gemäss Artikel 34 Absatz 2 der Schweizerischen Bundesverfassung (BV) die freie Willensbildung und die unverfälschte Stimmabgabe. Es soll kein Abstimmungs- oder Wahlergebnis anerkannt werden, das nicht den freien und unverfälschten Willen der Stimmberechtigten zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt (BGE 121 I 138 E. 3 S. 141f. mit Hinweisen). Die Freiheit der Meinungsbildung schliesst jede direkte Einflussnahme der Behörden aus, welche geeignet wäre, die freie Willensbildung der Stimmberechtigten im Vorfeld von Abstimmungen zu verfälschen. Eine solche unerlaubte Beeinflussung liegt unter anderem dann vor, wenn die Behörde, die zu einer Sachabstimmung amtliche Erläuterungen verfasst, ihre Pflicht zur sachlichen und objektiven Information verletzt und über den Zweck und die Tragweite der Vorlage falsch orientiert ( BGE 119 Ia 271 E. 3-4 S. 273ff.; ZBl 99/1998 S. 91 E. 4a; LGVE 1998 III Nr.1). Dem Erfordernis der Sachlichkeit und Objektivität genügen Abstimmungserläuterungen, wenn die Aussagen klar und verständlich, inhaltlich korrekt, wohlabgewogen sind und beachtliche Gründe dafür sprechen, wenn sie ein umfassendes Bild der Vorlage mit Vor- und Nachteilen abgeben und dem Stimmbürger eine Beurteilung ermöglichen oder wenn sie trotz einer gewissen Überspitzung nicht unwahr und unsachlich bzw. lediglich ungenau und unvollständig sind (Michel Besson, Behördliche Information vor Volksabstimmungen, Bern 2003, S. 182ff.; Gerold Steinmann, Interventionen des Gemeinwesens im Wahl- und Abstimmungskampf, AJP 1996 S. 260f.). In Bezug auf die Vollständigkeit von Abstimmungserläuterungen hat das Bundesgericht ausgeführt, dass sich die Behörde nicht mit jeder Einzelheit einer Vorlage befassen und insbesondere nicht sämtliche Einwendungen, welche gegen eine Vorlage erhoben werden können, erwähnen müsse. Das Gebot der Sachlichkeit werde nicht verletzt, wenn nicht umfassend auf alle möglichen Konsequenzen hingewiesen werde; doch sei es der Behörde verwehrt, in den Abstimmungserläuterungen für den Entscheid des Stimmbürgers wichtige Elemente zu unterdrücken. Eine Beeinträchtigung der freien Willensbildung ist anzunehmen, wenn dem Stimmbürger ausschlaggebende Entscheidungsgrundlagen vorenthalten werden, für die er in der Vorlage selbst keine Anhaltspunkte finden kann und er so ein falsches Bild über Zweck und Tragweite der Vorlage erhält, so dass ihm die Möglichkeit genommen wird, sich über deren eigentlichen Inhalt auszusprechen. Die zuständige Behörde hat demnach eine sachgerechte Gewichtung und Auswahl der Entscheidungsgrundlagen und Argumente zu treffen (ZBl 99/1998 S. 92 E. 4b; Pra 2000 Nr. 23 E. 2a; LGVE 1998 III Nr. 2).

Diese Grundsätze gelten auch bezüglich des Versammlungsverfahrens (LGVE 1998 III Nr. 2, mit Hinweisen). Werden den Stimmberechtigten vor einer Gemeindeversammlung keine Abstimmungserläuterungen zugestellt, braucht jedoch nicht eine Verfassungsverletzung vorzuliegen. Das Stimmrechtsgesetz schreibt nicht vor, dass den Stimmberechtigten vor einer Gemeindeversammlung Abstimmungserläuterungen zuzustellen sind (vgl. § 22 und § 24 Abs. 1f StRG, letzterer mit Verweis auf die §§ 36-39 StRG). Entsprechende Vorschriften enthält jedoch das Gemeindegesetz in Bezug auf die Abstimmungen über den Voranschlag und die Gemeinderechnung. Bei Abstimmungen, die im Versammlungsverfahren durchgeführt werden, stellt die Versammlung einen Teil des Meinungsbildungsprozesses dar, indem die Gemeindebehörde über die anstehenden Geschäfte informiert, die Stimmberechtigten Fragen stellen können und die Gemeindebehörde im Verlauf der Diskussion auf Verlangen weitere Auskünfte erteilt (§§ 106 Abs. 1 und 116 Abs. 1 StRG).

5.2. Die Wahl oder Abstimmung wird durch den Beschwerdeentscheid ganz oder teilweise aufgehoben, wenn Unregelmässigkeiten festgestellt sind, die Möglichkeit, dass sie das Wahl- oder Abstimmungsergebnis entscheidend verändert haben, sich nicht ausschliessen lässt und eine Berichtigung durch den Beschwerdeentscheid nicht möglich ist (§ 165 StRG). Die Aufhebung des Beschlusses der Stimmberechtigten ist ein Eingriff in eine Abstimmung, der sehr schwer wiegt. Die Aufhebung ist daher "ultima ratio" (Christoph Hiller, Die Stimmrechtsbeschwerde, Zürich 1990, S. 412ff.). Abstimmungsresultate sollen grundsätzlich "nicht ohne Not" in Frage gestellt werden. Sonst wird das Vertrauen der Stimmbürger in die demokratischen Verfahren strapaziert (Besson, a.a.O, S. 401). § 165 Absatz 2b StRG bestimmt, dass eine Abstimmung nur aufgehoben wird, wenn die Möglichkeit, dass die Unregelmässigkeiten das Abstimmungsergebnis entscheidend verändert haben, sich nicht ausschliessen lässt. Im Kanton Luzern kann der Stimmenunterschied mit anderen Worten ein Kriterium bei der Beurteilung der Frage sein, ob ein Abstimmungsergebnis aufzuheben ist. An dieser Ausgangslage ändert die Auffassung verschiedener Autoren in der Literatur nichts, die dafür plädieren, dass bei schweren Mängeln die Abstimmung unabhängig von der Grösse des Stimmenunterschieds stets aufzuheben ist (Besson, a.a.O., S. 402, mit weiteren Hinweisen).

7.1. Über das Bauwerk, das mit dem angefochtenen Beschluss vom 28. April 2003 unterstützt werden soll, wird in der Gemeinde A seit bald 20 Jahren diskutiert. Die Stimmberechtigten waren letztmals an der Gemeindeversammlung vom 19. Dezember 2002 über das Projekt orientiert worden. Die Botschaft für die Gemeindeversammlung vom 28. April 2003 enthielt auf den Seiten 71 und 72 Informationen zum Standort des Bauwerks, zum Projekt, zur Trägerschaft sowie zum Zeitplan. Die gesamten Erstellungskosten wurden darin auf rund 2 Millionen Franken beziffert. An der Versammlung erläuterte der Gemeindepräsident das Bauprojekt mündlich. Er wies darauf hin, dass sich eine Planungs- und Baugruppe mit dem Grundriss und dem Nutzungskonzept und eine Finanzierungsgruppe mit den Anlage- und Betriebskosten beschäftigten. Er führte aus, dass bis August 2003 die Planungs- und Vorbereitungsphase abgeschlossen sei und das Betriebs- und Nutzungskonzept sowie die Bau- und Betriebsfinanzierung vorlägen. Weiter hielt er fest, dass der Sonderkredit an der Gemeindeversammlung unter Vorbehalt beschlossen und der Beitrag erst ausbezahlt werde, wenn die Finanzierung der Anlagekosten und das Konzept der Betriebskosten vorlägen. Der Beschwerdeführer 2 machte bereits an der Gemeindeversammlung geltend, dass er noch nie einen Kreditbeschluss erlebt habe, bei welchem die Trägerschaft, das Betriebskonzept und die Restfinanzierung nicht bekannt gewesen seien, und er beantragte deshalb die Verschiebung des Geschäfts auf eine nächste Gemeindeversammlung. Den Stimmberechtigten war somit bekannt, dass im Zusammenhang mit dem Bauprojekt offene Fragen bestanden. Der Gemeinderat ging an der Gemeindeversammlung auf die Fragen des Beschwerdeführers 2 ein. Anschliessend erfolgten keine weiteren Wortmeldungen des Beschwerdeführers 2 oder anderer Stimmberechtigter mehr zum Projekt. Der Rückweisungsantrag des Beschwerdeführers 2 wurde deutlich abgelehnt. Der Sonderkredit wurde jedoch von den Stimmberechtigten unter dem vom Gemeindepräsidenten erwähnten Vorbehalt beschlossen. Mit der vorliegenden Beschwerde stellen die Beschwerdeführer nun verschiedene weitere Fragen zum unterstützten Projekt. Die Antworten auf diese Fragen und auch die Höhe der Erstellungskosten der Baute, ob diese insgesamt nun 2 Millionen oder 2,6 Millionen Franken betragen werden, wären zwar für die Stimmberechtigten beim Beschluss über den Sonderkredit von Interesse gewesen. Die Fragen betreffen jedoch mehrheitlich das Bauwerk, das nicht durch die Gemeinde, sondern durch die Genossenschaft realisiert werden soll. Aufgrund der schriftlichen und mündlichen Ausführungen musste es den Stimmberechtigten klar sein, dass es sich bei den genannten Erstellungskosten um eine Schätzung handelte, zumal das Konzept für die Bau- und Betriebsfinanzierung erst noch zu erstellen war. Abgesehen davon wurde der angefochtene Beschluss über den Sonderkredit unter dem erwähnten Finanzierungsvorbehalt gefasst. Da bei der Feststellung von Mängeln im Bereich der politischen Rechte ein sofortiges und unmissverständliches Handeln gefordert wird, hätten entsprechende Fragen vor der Abstimmung gestellt werden müssen. Unterliessen dies der Beschwerdeführer 2 und die anderen Stimmberechtigten vor der Beschlussfassung, so verwirkten sie das Recht, deswegen die Abstimmung anzufechten (vgl. BGE 115 Ia 392 E. 4c S. 396f.; LGVE 1998 III Nr. 2). Wenn die Fragen nun wie vorliegend erst in den Rechtsschriften gestellt werden, erfolgen sie verspätet. Was die behördliche Information vor Abstimmungen betrifft, so ist zwar eine möglichst lückenlose Orientierung über die zu behandelnden Geschäfte erstrebenswert. Es stand jedoch im Belieben der Versammlung, die Vorlage ohne genaue Kenntnis der besagten Einzelheiten zu verabschieden. Die Stimmberechtigten haben den Rückweisungsantrag des Beschwerdeführers 2 deutlich abgelehnt. Sie haben sich damit mit den Informationen zum Bauprojekt und mit den mündlichen Ausführungen des Gemeinderates zufrieden gegeben und sich als genügend informiert und dokumentiert erachtet, um über die Vorlage beschliessen zu können. Eine Verletzung der Abstimmungsfreiheit liegt jedenfalls nicht vor. Der Antrag der Beschwerdeführer, der Beschluss über die Unterstützung des Bauprojekts sei aufzuheben, ist demzufolge abzuweisen, soweit darauf überhaupt einzutreten ist. (Regierungsrat, 27. Januar 2004, Nr. 97; das Bundesgericht wies die gegen diesen Entscheid eingereichte staatsrechtliche Beschwerde mit Urteil 1P.131/2004 vom 14. Juli 2004 ab, soweit es darauf eintrat.)